„Triage“ und die Ethik
Das Wort „Triage“ ist mir in diesem Zusammenhang bisher noch nicht begegnet. In „Spektrum der Wissenschaft“ (in Urreformschreibung) wird es ausführlich erläutert und sein ethischer Inhalt diskutiert: Für den Fall der Fälle haben medizinische Fachgesellschaften sowie der Deutsche Ethikrat jüngst Empfehlungen für Deutschlands Ärzte veröffentlicht . Was davon zu halten ist, wie das System namens Triage funktioniert und warum kein neues Gesetz die Entscheidung über Leben und Tod regeln sollte, erklärt der Notfall- und Intensivmediziner Leo Latasch im Interview.
»Spektrum.de«: Triage bedeutet, dass begrenzte medizinische Ressourcen zuerst denen zur Verfügung gestellt werden, die sie am dringendsten brauchen. Wie darf ich mir das genau vorstellen?
Leo Latasch: Verletzte bei einem Großschadensereignis werden zum Beispiel in drei Kategorien eingeteilt. In der Kategorie Rot landen Patienten, die eines sofortigen Transports und in der Klinik einer sofortigen Versorgung bedürfen. In der gelben Kategorie sind auch Schwerverletzte, deren Versorgung aber mehrere Stunden warten kann. Und in der grünen Kategorie sind jene, die sich zum Beispiel einen Arm gebrochen haben und damit ein paar Tage rumlaufen können, ohne dass sie akut gefährdet wären. Nach diesem System wurde zum Beispiel beim ICE-Unglück von Eschede gearbeitet.
Wie steht es hier zu Lande um die medizinischen Ressourcen?
Zum jetzigen Zeitpunkt ist Deutschland in Europa wohl am besten aufgestellt. Wir hatten zu Beginn der Krise 28 000 Intensivbetten, zirka 24 000 mit Beatmungsmöglichkeit. Davon waren etwa 70 bis 75 Prozent belegt, zum Beispiel mit Patienten nach großen Operationen oder mit Menschen, die schwer an der saisonalen Grippe erkrankt sind. Seit gut zehn Tagen haben die deutschen Kliniken alle nicht lebensnotwendigen Operationen ausgesetzt. Dadurch haben wir mindestens 5000 zusätzliche Beatmungsplätze geschaffen, 2000 bis 3000 weitere sollten wir in Reserve haben. Außerdem hat die Bundesregierung 10 000 Beatmungsgeräte bei einem deutschen Hersteller bestellt, die aber nicht sofort geliefert werden können. Vor diesem Hintergrund betrübt es mich, dass manche Menschen, auch Politiker, von einem Krieg sprechen... Zu Wasser herrscht aber teilweise tatsächlich Krieg – wie auf dem Flugzeugträger „Theodore Roosevelt“ der US-Kriegsmarine, dessen Kapitän amtsenthoben wurde, weil er unverhohlene Kritik am weiteren Einsatz geübt hatte. Wenn ein Patient aber erst mal an einem Beatmungsgerät hängt, ist es juristisch verboten, es wieder abzunehmen, auch wenn ein anderer damit primär eine größere Überlebenschance hätte. Das wäre zumindest Totschlag und ist nicht durch ärztliche Ethik oder durch Verordnungen vertretbar. Ganz einfach, weil niemand anordnen kann, wer das Recht auf Leben hat und wer nicht. Das ist auch die Position des Ethikrats.
spektrum.de 28.3.2020 Auch der Philosoph Matthias Warkus, der schon einmal „hier zu Lande“ zu Wort kam, äußerte sich zu den ethischen Problemen, wobei er selbstlos, anders als mein Hausarzt, auf seinen erweiterten Osterurlaub verzichtete und eine kleinschreibend gendernde Spiegel-Schwätzerin angriff: Der Anlass dafür ist eine Äußerung der Schriftstellerin und »Spiegel«-Kolumnistin Sibylle Berg, die am 27. März twitterte: hat eigentlich eines von euch schon mal daran gedacht wie es ist wenn man als ü 80jähriger mensch hört, dass man sterben soll damit irgend wer anderes überlebt. man nennt das selektion. gabs auch schon
— sibylle berg (@SibylleBerg) March 27, 2020 In dem mehr als 500-mal geteilten und rund 5000-mal mit »Gefällt mir« markierten Tweet stecken zwei Aussagen. Erstens: »Es gibt (in der aktuellen Pandemie) Überlegungen, dass über 80-Jährige sterben sollen, damit jüngere Menschen überleben.« Und zweitens: »Dies ist vergleichbar mit den Selektionen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.«
... Wenn Sibylle Berg hier eine Analogie zu jedweder Art von Ressourcenabwägung in unserer gegenwärtigen Gesellschaft zieht, behauptet sie letztlich, Deutschland sei zur Gänze ein Konzentrationslager und alle hier Lebenden so etwas Ähnliches wie Lagerinsassen. Das ist eine Verunglimpfung der tatsächlichen Opfer und eine Beleidigung der Vernunft. Die Analogie macht auch, ernst genommen, jede Diskussion darüber, was ethisch aktuell tatsächlich geboten ist, unmöglich. Denn wenn die Hölle der industriellen Massenvernichtung und das, was heute ist, dasselbe sind, dann haben Abwägungen und Maßstäbe keine Bedeutung mehr.
spektrum.de 11.4.2020 Nun, wie es hierzulande, in Deutschland, tatsächlich aussieht, werde ich ja vielleicht demnächst erfahren. Vorgestern sprach ich an meinem Spazierweg vor ihrem Haus mit dem Eigentümer-Ehepaar, das ich dort noch nie gesehen hatte. Sie seien aus den USA, wo sie sonst meistens lebten, wegen der schlechten Gesundheitsversorgung dort für einige Zeit nach Deutschland geflüchtet.
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