Sprachuntergang findet nicht statt
Die deutsche Rechtschreibreform als 'Reförmchen' wieder einmal verschoben
HERMANN UNTERSTÖGER
(SZ 11.9.1995)
Im Februar 1868 verhaftete die Frankfurter Polizei einen taubstummen Bettler, an dessen Gebrechen indessen Zweifel bestanden. Man ließ ihn den Ortsnamen Sachsenhausen schreiben, und siehe da, er schrieb Saxenhaußen. Damit war bewiesen, daß er ein Schwindler war, denn als echter Taubstummer hätte er den lässig ausgesprochenen Namen nie phonetisch genau wiedergeben können. 'Das betreffende Individuum', hieß es in der Zeitung, 'wird einer wohlverdienten Züchtigung nicht entgehen.'
Selten waren Fluch und Segen der Orthographie auf engerem Raum versammelt, und jedenfalls ist dieser Anekdote besser als weitschweifigen Abhandlungen zu entnehmen, daß es keineswegs gleichgültig ist, wie man etwas niederschreibt. Zu Zeiten jenes Bettlers war die Rechtschreibung regional zwar schon ziemlich koordiniert, aber 'reichsweit' noch keineswegs vereinheitlicht. Den großen Meilenstein bildet die Berliner Orthographische Konferenz von 1901, in deren Folge sich Deutschland, Österreich und die Schweiz auf eine gemeinsame Rechtschreibung einigten. Das Anliegen, sie zudem einfacher zu gestalten, wurde damals nicht weiter verfolgt; seitdem lag es in der kulturellen Landschaft Vorwurf und Anreiz zugleich. Es gab etliche Anläufe, die glorios begannen und sich klanglos verloren. Vor zwanzig Jahren raffte man sich zu jener neuerlichen Reform auf, die nun zur definitiven Verabschiedung ansteht.
Klaus Heller war von Anfang an dabei, sitzt aber etwas frustriert in seinem Büro beim Institut für deutsche Sprache (IdS) in Mannheim. Er habe das Gefühl, sagt er, wie wenn die Gegner der Reform, die lange Ruhe gehalten, sich mit dem ohnedies sehr gestutzten Ergebnis also offensichtlich abgefunden hatten, jetzt wieder in ihre Stellungen einzurücken begännen. In der Tat war ein erster Kanonenschlag bereits erfolgt, unüberhörbar. Die FAZ, die vor Jahr und Tag auch das Keiser/Bot/Al-Scharmützel durch hitziges Vorpreschen angezettelt hatte, ließ unlängst auf einer ganzen Feuilletonseite den Germanisten Jean-Marie Zemb vom Collège de France Attacke reiten. Zemb kam schon nach etwa vierzig Zeilen zum Fazit: 'Diese Rechtschreibreform ist zu einem großen Teil Unfug.'
Damit spricht Zemb, auf hohem Niveau freilich, nichts aus, was nicht auch von subalterneren Geistern schon gesagt worden wäre: Daß die Reform in Grunde keine Reform sei und nur Verwirrung stiften werde. Der Spott war ja groß, als im November 1994 in Wien das Paket (neu: Packet) der Änderungen vorgestellt wurde. Ähnlich groß war bei manchen der Zorn. Ein Mainzer Schriftsteller, der unter dem Motto Pro mundi unitate et humanitate Aufrufe erläßt, fand 'solche Referenzen (sic!) vor Lernbehinderten . . . deplaziert' und sah die Deutschen 'nicht bereit, unsere Sprachschreibung auf die Stufe von Geistesschwachen hinabziehen zu lassen'. Was die Spötter übergingen, war dies: daß vornehmlich sie selbst es gewesen waren, die ein ursprünglich umfassender und radikaler angelegtes Reformkonzept zu dem heutigen 'Reförmchen' zurückgebissen hatten.
Wie wenig der Untergang der 'Sprachschreibung' im Ernst zu befürchten ist, zeigt sich an reformiert geschriebenen Texten, sobald in ihnen die sonst gern zusammengetragenen Reizbeispiele und Scherzkonstrukte fehlen. Der Dortmunder Professor Hermann Zabel, ebenfalls Mitglied des Reform-Konsortiums, veröffentlichte im Sprachdienst einen längeren Aufsatz, in dem erst eine relativ späte Fußnote darauf aufmerksam machte, daß bis dahin die neue Rechtschreibung eingesetzt worden war. Es gab mehrere Tests dieser Art, und man kann aus ihnen schließen, daß die vielerorts herbeigeredeten Schrecknisse im Schriftbild ausbleiben werden.
Wozu dann überhaupt eine Reform? Klaus Heller wird nicht müde zu erläutern, was er in ungezählten Vorträgen und Interviews schon vorgebracht hat. Seiner Ansicht nach ist dieses vermeintlich dürftige 'Reförmchen' sehr wohl im Stande, eine fast hundertjährige Erstarrung aufzubrechen. 'Wenn das Wenige jetzt nicht geschieht', meint er, 'kommt später auch das Mehrere nicht'; ein Neuansatz sei dann nur noch schwer zu finden, und irgendwann wären Laut und Schreibung so weit auseinandergedriftet wie im Englischen und Französischen.
Bis zum Freitag hatte jedermann geglaubt, die Kultusministerkonferenz (KMK) werde bei ihrer nächsten Tagung am 28. September in Halle der Reform grünes Licht geben; ein Beamter der KMK sagte unter der Hand, die Herrschaften müßten 'das doch nur noch abnicken'. Die Zuversicht gründete sich auf die Vermutung, daß, wo so viele Fachleute aus der Kultusbürokratie maßgeblich beteiligt waren, auch ihre Dienstherren von der Reform wissen und sie gutheißen müßten.
Wie sehr man sich darin getäuscht hatte, zeigt der Vorstoß des bayerischen Kultusministers Hans Zehetmair, der sich plötzlich mit einigen längst bekannten Details nicht abfinden will und deshalb das Thema auf die KMK-Sitzung im Dezember hat schieben lassen. Es ist nicht auszuschließen, daß Zehetmairs Beispiel Schule macht und daß demnächst auch seine Kollegen in den übrigen Bundesländern ein Haar in der Suppe finden und auf diese Weise als Retter des Abendlandes groß herauskommen. Bei 16 Kultusministern läßt es sich leicht ausrechnen, wann diese Bedenkenrunde zu Ende ist und ein Beschluß gefaßt werden kann. Auch daß Österreich und die Schweiz beide Länder haben das Konzept angenommen und warten nur auf den Beitritt des großen dicken Bruders verschnupft sind, scheint da wenig zu irritieren.
Problemfall 'Duden'
Nun könnte ja auch der Fall eintreten, daß nach Zehetmair kein Kultusminister mehr dagegenhält und auch die Innenminister der Länder ihr Plazet geben. Dann wäre auch die Stunde gekommen, jene Kommission zu berufen, die den Prozeß der Realisierung sowie die weitere Entwicklung überwachen und gegebenenfalls die nötigen Weiterungen initiieren soll. Ihre Kompetenz würde so aussehen, daß sie Einzelfälle, etwa die Schreibungsvariante eines Fremdworts, in eigener Machtvollkommenheit entscheiden kann, Regeländerungen jedoch nicht. Sie wird, so wie sich's derzeit darstellt, beim IdS angesiedelt und aus dessen laufenden Mitteln alimentiert.
Das Thema Kommission hat übrigens Hermann Zabel in einem Maß umgetrieben, das Außenstehende verwundern könnte. Der Grund: Zabel hat die, wie er sagt, belegte Vermutung, daß der Duden- Verlag in gut Mannheimerscher Nachbarschaftshilfe dem IdS die Last so einer Kommission gern abnähme, um diese bei sich unterzubringen. Dem Leiter der Dudenredaktion, Matthias Wermke, fehlen beinahe die Worte. Gottlob ist er beredt wie sonst nur einer, sodaß er Zabels Einlassung nach kurzem Stutzen ins Reich der Unterstellungen verweisen kann: 'Das ist nicht die Absicht des Hauses. Wir machen Wörterbücher.' Sollte der Duden jedoch eingeladen werden, bei dieser Kommission mitzumachen, werde man ihn natürlich bereit finden.
Der Duden! Kein anderes Wörterbuch ist derart zum Synonym für die ganze Gattung geworden; selbst wer zum Wahrig greift oder zum Mackensen, sagt in Gedanken bisweilen: 'Ich schau mal im Duden nach.' Für 'den Duden', also das Bibliographische Institut samt Brockhaus-Verlag, ist das schön, für andere ein Trauma. Man hält dem Duden nicht erst seit heute vor, daß er es sich anmaße, an Stelle des eigentlich dafür zuständigen Staates die Rechtschreibung zu hüten und weiterzuentwickeln. Gewissermaßen den Auftrag dazu erhielt er 1955. Damals machte Bertelsmann mit Lutz Mackensens 'Deutscher Rechtschreibung' ein blendendes Geschäft, woraufhin sich der Duden-Verlag an die Kultusministerkonferenz wandte und darüber klagte, daß die Konkurrenz eine 'wilde Reform' durchgehen lasse. Der Lohn war das Attest, daß bis zu einer Orthographie-Reform in Zweifelsfällen der Duden als verbindlich zu gelten habe.
Zabel hält diese Halbamtlichkeit für ähnlich verfänglich, wie wenn der Staat die Fortschreibung etwa der Straßenverkehrsordnung an BMW oder Mercedes gäbe. In seinen Augen wäre es angemessen, orthographische Regelwerke im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen. Die Rechtschreibreform, darin sind sich Zabel, Heller und andere einig, ist die historisch geeignete Stunde, dem Duden die Legitimation von 1955 zu entziehen und ihn den übrigen Wörterbüchern gleichzustellen. Matthias Wermke hält das (auch wenn er's viel schöner ausdrückt) für Neidhammelei, denn seine einzigartige Position habe sich der Duden nicht durch Hilfe von oben erworben, sondern durch Kompetenz. Im übrigen und außerdem: Fahre der Staat nicht oft gerade dort am besten, wo er es über sich bringt und sich seiner Hohheit ein Stückchen begibt, sprich: wo er privatisiert?
Am 6. Oktober wollte der Dudenverlag in Berlin den ganz neuen Rechtschreib- Duden vorstellen, als Buch wie als CD- Rom sowie mit kabarettistischer Unterstützung durch die 'Stachelschweine'. Daraus wird, dank Zehetmair, nun wohl nichts werden. Will man Details wissen, verliert Wermke auf den Schlag an Eloquenz. So viel jedoch verrät er gerne: Der Duden gedenkt sein volksbildendes Mandat weiterhin auszuüben, zum Beispiel indem er eben nicht nur dokumentiert, was der Gesetzgeber festlegt, sondern auch für den Leser vorentscheidet, ihm eine von mehreren Varianten empfiehlt. 'Wie ich's bringe das ist schon eine erste Interpretation', doziert Wermke, 'und wer sagt, das darf man nicht, spricht Wörterbüchern die Existenzberechtigung ab.'
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Th. Ickler
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