Das römische Alphabet und andere Gegenstände der Forschung
Tagung der DGfS, Univ. Mainz, 24. bis 27. Februar 2004
Gerhard Augst
Die orthographischen Regeln zur Bezeichnung der Vokalquantität – geprüft an Laien-Dialektverschriftungen
Donnerstag 10:00
Der Streit um die angemessene Beschreibung der Geminate ist nach wie vor unentschieden.
Beide Theorien – der Silben- und der Quantitätsansatz – sind durch die Komplementarität von Regeln und Ausnahmen beschreibungsangemessen. Beweisstücke für eine explanative Adäquatheit müssen daher von außen kommen. Bisher wurden vor allem die Fremdwortintegration und der kindliche Erwerb ins Feld geführt. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf Laien-Dialektverschriftungen lenken: Laien verschriften ihren Dialekt nach der hochdeutschen Rechtschreibung. Bei allen dialektalen Wörtern, die keine hochdeutsche Entsprechung haben, können sie sich dabei nicht auf Schreibschemata stützen, sondern nur Rechtschreibregeln anwenden. Ich möchte diese Regeln rekonstruieren für die Geminate und (komplementär) für -ie / Doppelvokal / -h. Mit welchem Beschreibungsmodell kann man die Schreibungen am besten erklären? Was folgt daraus für den Rechtschreibunterricht?
Nanna Fuhrhop & Inga Isele
Schreibungen mit Partizip I: Wissenschaftliche Fundierung und didaktische Umsetzung
Freitag 12:30
Die Schreibung von Verbindungen mit dem Partizip I wirft schon immer Probleme auf, seit der Rechtschreibreform verstärkt. So fragen sich viele, wie die teetrinkenden Frauen geschrieben wird oder die arbeitsuchenden Schüler, die ausbildungsplatzsuchenden Schüler, das ernstzunehmende Problem usw.
Viele der Probleme haben eindeutig grammatische Ursachen. Eine wesentliche Ursache liegt in dem Zwittercharakter der Partizipien I. Diese verhalten sich zum Teil wie Verbformen, zum Teil wie Adjektive. Selbst in der attributiven Funktion bewahren sie sich zum Teil ihren verbalen Charakter, indem sie verbale Ergänzungen nehmen. Andererseits können sie auch wie Adjektive Komposita bilden. Das führte systematisch zu einem Nebeneinander von Schreibungen wie die teetrinkenden Frauen – die Tee trinkenden Frauen. Die Reform verbietet bekanntermaßen die erste Schreibung. Aber damit hat die Unsicherheit bei der Schreibung von Verbindungen mit Partizip I extrem zugenommen. Die Neuregelung führt im allgemeinen Sprachgebrauch zu einer Übergeneralisierung der Getrenntschreibung (z.B. Freude strahlend). Es ist nicht weiter überraschend, dass nun auch die Existenz von Wörtern wie arbeitssuchend angezweifelt wird.
In dem Vortrag möchten wir einerseits die Partizip-I-Verbindungen systematisch untersuchen. Offenbar ist die Komposition hier nicht so frei, wie es für wirklich adjektivische Zweitglieder zu erwarten wäre, die meisten sind Rektionskomposita. Andererseits geht es um die konkreten Probleme der Schüler. Diese machen sich die Probleme bewusst, indem sie als sogenannte Sprachdetektive problematische Fälle in Texten suchen, und selbst eine Lösung versuchen.
Die Schüler einer 8. Klasse einer integrierten Gesamtschule sind bereits als Sprachdetektive aktiv; das genannte Problem wird für diesen Vortrag erforscht werden. Anhand der genannten Beispiele möchten wir die Probleme und Lösungsansätze skizzieren und beispielhaft überlegen, wie grammatisches Wissen für den Deutschunterricht genutzt werden kann.
Jochen Geilfuß-Wolfgang
Über den Erwerb der Worttrennung am Zeilenende
Mittwoch 17:30
Zu den Bereichen der deutschen Orthographie, deren Erwerb bisher in nur sehr wenigen Arbeiten genauer untersucht worden ist, gehört neben anderen die Worttrennung am Zeilenende, auch Silbentrennung genannt. So, wie die Worttrennung am Zeilenende geregelt ist, müssen Schreiberinnen und Schreiber, um eine Wortform am Zeilenende richtig zu trennen, diese Wortform in Silben segmentieren können. Sie müssen also nicht nur wissen, aus wie vielen Silben die Wortform besteht, sondern auch die Grenzen dieser Silben erkennen. Dass darin ein großes Problem für Kinder besteht, die die Worttrennung am Zeilenende erlernen, hat unter anderem Hartmut Günther angemerkt: „Während das
mündliche Syllabieren eine durchaus natürliche Fähigkeit ist, die Kinder schon lange vor dem Schuleintritt beherrschen, ist das Bestimmen von Silbengrenzen eine Fähigkeit, die schriftinduziert ist. Die silbische Gliederung des Gesprochenen lässt sich ohne Probleme nichtsegmental kennzeichnen – es ist die Schrift, die Segmente und damit Grenzen fordert.“
Auch empirische Arbeiten zeigen, dass Kinder zwar zu Beginn des Schriftspracherwerbs Wortformen zum Beispiel in Kinderspielen und Liedern unbewusst in Silben gliedern können und auch die Anzahl der Silben angeben können, aber große Unterschiede beim bewussten Silbifizieren dieser Wortformen zu beobachten sind. Da gegenwärtig in den Grundschulen durch mehr oder weniger geeignete Unterrichtsformen zwar das Bestimmen der Silbenanzahl
geübt wird, aber nicht das Bestimmen der Silbengrenzen, ist vor diesem Hintergrund zweierlei zu erwarten: Zum einen sollten Grundschulkinder, wenn sie die Anzahl der Silben einer bestimmten Wortform ohne größere Schwierigkeiten angeben können, auch mehr oder weniger problemlos angeben können, in wie viele Teile diese Wortform getrennt werden kann. Und zum anderen sollten Grundschulkinder, wenn die Silbengrenzen in einer bestimmten Wortform schwerer zu bestimmen sind als in anderen Wortformen, auch größere
Schwierigkeiten haben, diese Wortform orthographisch zu trennen. Um zu überprüfen, ob diese Erwartungen auch erfüllt werden, habe ich im letzten Jahr in zwei Grundschulen in Niedersachsen und Baden-Württemberg 55 Schülerinnen und Schüler aus 3. Klassen und 82 Schülerinnen und Schüler aus 4. Klassen insgesamt 50 Wortformen trennen lassen; zu diesen Wortformen zählten neben anderen Fenster, Wüste, plantschen und Peitsche, die auch Erwachsenen bei der Trennung Schwierigkeiten bereiten. Die Ergebnisse werden der Gegenstand meines Vortrags sein.
Robert Kemp
Unsere Buchstaben. Zur mnemonischen Funktion ihrer Namen und ihrer Ordnung im Alphabet
Mittwoch 16:30
Die Namen bzw. Nennformen der Buchstaben unseres Alphabets enthalten alle einen Lautwert, der für ihre jeweils primäre Verschriftungsfunktion charakteristisch ist. Das darin bestehende mnemonische Potential der Buchstabennamen nutzen wir mit großer Selbstverständlichkeit, und es erscheint uns als angemessen, dass etwa der Name des Buchstaben A nicht [?i:] oder [pi:] oder [töf] lautet, sondern eben [?a:].
Obschon es für Namen generell als überaus ungewöhnlich gelten muss, wenn sie in einer solchen Weise motiviert sind, ist das mnemonische Potential von Buchstabennamen damit aber noch keineswegs erschöpft. Insbesondere korrelieren auch einige Formklassen bei den Buchstabennamen mit lautlichen Klassen der Sprache. So beginnen ausschließlich die Namen solcher Buchstaben mit dem glottalen Verschluss [?], die zur Verschriftung von Dauerlauten dienen: (F, (L, (M; N), R), S); (A, E, I, O, U; Ä, Ö, Ü) X, Y). Schließlich erscheint es sogar möglich, dem Namen einiger Buchstaben Informationen über ihre Kombinatorik zu entnehmen. Dem Buchstaben C etwa muss bei der Schreibung nativer Wörter stets ein weiterer Buchstabe folgen, nämlich entweder K oder H. Unter den Konsonantenbuchstaben sind das wiederum die einzigen, deren Name den Vokal [a:] enthält. Den Buchstaben C könnte man somit als transitiv klassifizieren, und die Tauglichkeit von K und H für eine Selektion durch C wäre dann durch ein charakteristisches Merkzeichen der Buchstabennamen reflektiert.
Der Vortrag soll Phänomene dieser Art vorstellen und sie in Beziehung zur kanonischen Serialisierung der Buchstaben im Alphabet setzen. Eine Systematik mnemonischer Funktionen, kann nicht nur die Forschung zum Verhältnis von Sprache und Schrift um eine ungewöhnliche Perspektive bereichern, sondern damit auch der Didaktik des Lesens und Schreibens ein bislang unbekanntes Instrumentarium zur Verfügung stellen.
Martin Neef
Ein zweistufiges Modell des Schriftsystems: Graphematik und Orthographie
Donnerstag 9:00
Unter didaktischer Perspektive stellt sich die Orthographie zumeist als das Problem dar, wie lautliche Strukturen in geschriebene Strukturen überführt werden können. Zu dieser Sicht liefert die Linguistik theoretische Rechtfertigungen, die als ‘Abhängigkeitsmodelle’ klassifiziert werden können. Ich möchte demgegenüber ein theoretisches Modell formulieren
und auf seine didaktische Anwendbarkeit hin abklopfen, das die Beziehung zwischen Lautung und orthographischer Schreibung vermittelt sieht über die unabhängige Komponente der Graphematik. Dabei nehme ich an, dass ein Schriftsystem funktional dadurch ausgezeichnet ist, einem Leser das Erlesen fremder Texte zu ermöglichen. Da die gesprochene Sprache so funktioniert, dass lautliche Strukturen ausgetauscht werden, sollte eine schriftliche Repräsentation in der Lage sein, eine solche lautliche Repräsentation aus einer Schreibung erkennbar zu machen. Dadurch definiert sich die graphematische Komponente eines alphabetischen Sprachsystems derart, dass sie einen Mechanismus enthält, mittels dessen Schreibungen in Lautungen überführt werden können. Eine graphematisch lizensierte Schreibung ist folglich eine solche, die geeignet ist, die intendierte Lautung rekodierbar zu machen. Auf diese Weise ist es aber möglich, dass es für eine bestimmte Lautung mehr als eine graphematisch mögliche Schreibung gibt. So kann eine Lautung wie [rait] durch eine Vielzahl von Schreibungen rekodierbar gemacht werden wie z.B. durch , ,
oder < Rheydt>. Die orthographische Komponente des Schriftsystems verfolgt nun das Ziel, dass eine morphologische Einheit nach Möglichkeit immer gleich geschrieben werden soll. Aus dem skizzierten graphematischen Lösungsraum einer morphologischen Einheit mit der Lautung [rait] wählt die Orthographie infolgedessen eine bestimmte Schreibung als konventionell bindend aus. Eine theoretische Erfassung der Orthographie hat danach die Prinzipien zu bestimmen, nach denen auf der graphematischen Basis Schreibungen ausgewählt werden.
Für die didaktische Umsetzung hat diese theoretische Konzeption die Konsequenz, dass der Schrifterwerb in zwei Stufen verlaufen sollte. Dabei ist die graphematische Stufe eng an das Lesen und die orthographische Stufe eng an das Schreiben gekoppelt zu sehen. Für die Vermittlung der Graphematik geht es also darum, diejenigen Regeln zu präsentieren, mittels derer Schreibungen gelesen werden können. Anlauttabellen genügen hierbei freilich nicht, da Buchstaben typischerweise über mehr als eine lautliche Entsprechung verfügen. So wird der Buchstabe s regelgeleitet als [z] rekodiert in der Schreibung des Worts See, als [s] bei bis, als [.] bei Spaß und als Null beim zweiten Vorkommen in Biss. Da hierbei in hohem Maß die phonologische Komponente der Grammatik steuernd eingreift, muss die didaktische Umsetzung auf phonologisches (nicht phonetisches) Wissen der Lerner rekurrieren, das aber zumindest bei Muttersprachlern implizit gegeben ist. Die Vermittlung der Orthographie muss dann auf dieser Basis die Prinzipien bereitstellen, mittels derer orthographisch richtige Schreibungen ausgewählt werden. Dabei ist durchaus auch mit Unregelmäßigkeiten zu rechnen dergestalt, dass eine orthographisch richtige Schreibung gar nicht graphematisch verankert ist wie im Fall von doofe, das graphematisch fundiert nicht mit , sondern nur mit oder mit geschrieben werden dürfte. Orthographische Fehler sind danach von zweierlei Qualität: Wenn das Wort Hase orthographisch fälschlicherweise geschrieben wird, ist dies immerhin graphematisch korrekt, während die Schreibung auch graphematisch ausgeschlossen ist.
Literatur:
Neef, Martin, 2003. Unterdeterminiertheit in der Graphematik des Deutschen. Habilitationsschrift, Universität zu Köln.
Christina Noack
Die Bedeutung phonologischer Dekodierfähigkeit für die Lesekompetenz
Freitag 11:30
In dem gegenwärtig verbreiteten Literacy-Modell, das auch der PISA-Studie zugrundeliegt, wird davon ausgegangen, dass der Leseprozess auf mehreren Ebenen stattfindet (PISA 2000, S. 71ff). Dabei bleibt die basale Ebene, das Dekodieren der Schriftzeichen, gegenüber anderen Modulen in der Studie – wie auch größtenteils in der internationalen Forschungsliteratur, auf die sie sich beruft – eindeutig unterbewertet. Ihre Wichtigkeit für den Leseprozess wird zwar thematisiert, mögliche Folgen einer Störung der Dekodierfähigkeit jedoch ebensowenig erörtert, wie die Möglichkeiten, sie nach der Schrifterwerbsphase zu
beheben.
In meinem Beitrag möchte ich anhand von Leseprotokollen sog. „schwacher Leser“ mithilfe eines phonologischen Analyserasters darstellen, dass die Schwierigkeiten dieser Leser in den Dekodierungsleistungen auf Wort- und Satzebene bestehen. So sind sie nicht in der Lage, • die in der Schrift kodierten Information für Wortbetonung zu entschlüsseln, • eindeutige phonologische Markierungen wie etwa die für den Silbenschnittkontrast (Dehnung, Schärfung) zu erkennen, • Takte und Intonationseinheiten zu artikulieren und damit eine syntaktische (Verbal-/Nominalphrasen) bzw. semantische Analyse (Thema vs. Rhema) vorzunehmen.
Es ist davon auszugehen, dass dieses unzureichend aufgebaute Wissen für die phonologische Dekodierung eine zentrale Ursache der in PISA beschriebenen Defizite deutscher Schüler beim „verstehenden Umgang mit Texten“ (PISA 2000, S. 79) darstellt. Dies wird anhand von Ergebnissen aus einem aktuellen Foschungsprojekt belegt. Abschließend wird ein Konzept für einen stärker linguistisch fundierten Orthographieunterricht in den Grundschulen vorgestellt.
Literatur:
Deutsches PISA-Konsortium (Hg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülern und Schülerinnen im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich 2001
Beatrice Primus
Eine merkmalsbasierte Analyse der Buchstaben unseres Alphabets
Mittwoch 15:00
In den bisherigen graphematischen Analysen von Schriftsystemen, die auf dem modernen römischen Alphabet beruhen, geht man davon aus, dass der Buchstabe die kleinste Beschreibungseinheit darstellt. Arbeiten, die die Buchstaben unseres Alphabets in kleinere Segmente zerlegen und diesen ggf. Merkmale zuordnen, findet man nur außerhalb der Graphematik, etwa im Bereich der maschinellen oder perzeptiven Buchstabenerkennung. Einige Arbeiten sind insofern graphematisch fruchtbringend, als sie merkmalsbezogene Prinzipien oder Beschränkungen formulieren, die die Klasse der Buchstaben charakterisieren (Brekle 1994, 999, Watt 1983) und dazu beitragen, Buchstaben von anderen Einheiten unseres Alphabets, z. B. Ziffern, abzugrenzen (Watt 1983). Eine weiterführende graphematische Analyse, die Buchstabenmerkmale und phonologische Merkmale systematisch in Beziehung setzt, gibt es nicht (wenn man von vereinzelten Beobachtungen wie z. B. in Naumann (1989: 194-195) absieht). M. a. W. wurde noch nie der Versuch unternommen vorherzusagen, welche Buchstabenmerkmale von u, beispielsweise, mit den phonologischen Merkmalen [vokalisch], [hoch] und [hinten], die den Laut /u/ charakterisieren, korrespondieren.
Der Vortrag präsentiert eine systematische merkmalsbasierte graphematische Analyse der Buchstaben unseres Alphabets, die sowohl graphematikinterne Beschränkungen als auch Korrespondenzen zu phonologischen Merkmalen umfasst. Buchstabenvarianten (z. B. Majuskeln) werden durch einige wenige Beschränkungen abgeleitet. Die empirische Basis bilden phonologisch transparente, schriftsystemübergreifend konsistente Buchstabenverwendungen, wobei sich diese Pilotstudie auf das Schriftsystem des Deutschen konzentriert. Das allgemeine theoretische Modell ist der Optimalitätstheorie verpflichtet.
Die Ergebnisse dieser theoretischen Untersuchung sind für die Sprachdidaktik wichtig. Aus der Fülle der gedruckten und handschriftlichen Buchstabenvarianten helfen sie diejenigen Varianten und Merkmale im Unterricht zu fokussieren, die dazu dienen, einzelne Buchstaben systematisch voneinander zu unterscheiden und, was wichtiger ist, Buchstaben nach phonologischen Gesichtspunkten zu klassifizieren.
Literatur:
Brekle, Herbert E. 1994. Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrer historischen Entwicklung.
Hartmut Günther & Otto Ludwig (Hgg.) Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Bd. 1. Berlin: de Gruyter, 171-204.
Brekle, Herbert E. 1999. Die Antiqualinie von ca. -1500 bis ca. +1500. Untersuchungen zur Morphogenese des westlichen Alphabets auf kognitivistischer Basis. Münster: Nodus.
Watt, William C. 1983. Grade der Systemhaftigkeit. Zur Homogenität der Alphabetschrift. Zeitschrift für Semiotik 5: 371-399.
Naumann, Carl Ludwig. 1989. Gesprochenes Deutsch und Orthographie. Frankfurt am Main: Peter Lang.
Karl Heinz Ramers
Funktionen der Kommatierung
Freitag/ 13:30
Die neue amtliche Regelung der Orthographie enthält insgesamt neun Paragraphen zur Kommasetzung (§71 §79), die auf nur zwei Grundprinzipien zurückführbar sind:
1. Abgrenzung gleichrangiger Teilsätze, Wortgruppen oder Wörter (Koordinationsfunktion)
2. Markierung einer Satzgrenze innerhalb eines übergeordneten Satzes (Demarkationsfunktion).
Das erste Prinzip wird in §71 und §72 des orthographischen Regelwerks klar zum Ausdruck gebracht, das zweite dagegen wird nicht expliziert, sondern durch die Nennung verschiedener Beispielgruppen (Nebensätze; Infinitiv, Partizip- oder Adjektivgruppen; Zusätze oder Nachträge; Anreden, Ausrufe oder Ausdrücke einer Stellungnahme) regelrecht verdeckt.
Im Vortrag wird – in Anlehnung an Überlegungen von Primus (1997) – die Demarkationsfunktion näher beleuchtet. Im Mittelpunkt stehen dabei die folgenden Fragen:
• Welche Wörter und Wortgruppen konstituieren zusammen einen Satz bzw. eine satzwertige Konstituente im syntaktischen und/oder semantischen Sinne?
• Welche Wörter und Wortgruppen stehen außerhalb des Kernsatzes und werden deshalb mit Komma(s) abgegrenzt?
• Unter welchen Bedingungen bilden Sätze selbst Konstituenten eines übergeordneten komplexen Satzes und nicht unabhängige Teile eines Textes?
Auf der Grundlage der genannten theoretischen Überlegungen zu syntaktischen Funktionen der Kommatierung soll zusätzlich geprüft werden, inwieweit eine Explikation des Satzbegriffs im Rechtschreibunterricht das Erlernen der Kommaregeln unterstützen kann.
Christa Röber-Siekmeyer
Auffälligkeiten in frühen Kinderschreibungen als Indikatoren für phonetische Wahrnehmungsmuster und orthographische Regelbildung der Kinder
Donnerstag 11:30
Seit Jahren ist es üblich, Kinder schon früh, oft schon zu Beginn der 1. Klasse, aufzufordern, eigene Texte zu schreiben. Die unterrichtlichen Hilfen, die sie für diese Aufgabe in den Lehrgängen erhalten, bestehen in der Darbietung der Schrift in einem 1:1-Verhältnis zwischen Laut und Buchstabe. Da diese Lehre unzureichend ist, geben die Versuche der Kinder, ihr Gesprochenes graphisch zu repräsentieren, Aufschluss • über ihre analysierende Wahrnehmung des Gesprochenen. Deren ´Materialisierung´ in den Schreibungen ist gleichzeitig für eine empirische Kontrolle der Validität von linguistischen Segmentierungsmodellen nutzbar • über ihre sich langsam entwickelnde orthographische Kompetenz als Resultat ihrer Beobachtungen an geschriebenen Texten. Sie ist gleichzeitig als Beleg für die Funktionalität der Systematik in der deutschen Orthographie zu sehen.
Diese beiden sowohl linguistisch als auch didaktisch relevanten Möglichkeiten, Kinderschreibungen zu interpretieren, werden mit mehreren Beispielen belegt. Gleichzeitig werden Methoden zur Analyse und Interpretation der Kinderschreibungen dargestellt, die einen Nutzen vor allem als didaktisches Instrumentarium haben.
Utz Maas
Sprachwissenschaftliches know-how und Lehrerausbildung: Schrift, Schriftsprache, Orthographie
Mittwoch 10:30
Das Verhältnis zwischen professioneller Sprachwissenschaft und der Schule ist traditionell prekär: Es konstituiert eine endemische Konfliktkonstellation, bei der sich Vertreter einer Position, die „akademische“ Konzepte in die Schule bringen wollen, und Didaktiker, die alle systematische Reflexion als nicht schulpraxisadäquat ablehnen, wechselseitig bestätigen. Vor dem Hintergrund der wieder einmal in das öffentliche Blickfeld geratenen „Krise der Schule“ muß die universitäre Sprachwissenschaft ihr Aufgabenfeld neu justieren, zu dem vorrangig auch die Lehrerausbildung gehört, d. h. der Aufbau von Qualifikationen künftiger Lehrer, die ihren Schülern im sprachlichen Bereich Hilfestellung leisten sollen, insbesondere beim Erwerb der Voraussetzungen für den kompetenten Umgang mit der Schriftsprache. Der Erwerb dieser Kompetenzen nutzt das in der gesprochenen Sprache aufgebaute sprachliche Wissen für ein anderes Praxisfeld, das der Schriftsprache. Während die Erweiterung der mündlichen Kompetenz in der Regel „spontan“ über die Partizipation an zunehmend komplexeren Formen der Sprachpraxis erfolgt, erfordert der Aufbau schriftsprachlicher Kompetenz eine explizite Unterstützung, die sprachwissenschaftliche Qualifikationsanforderungen hat. Dazu gehört es, die Besonderheiten der Schriftsprache bestimmen zu können, von denen die orthographischen Regularitäten nur der sichtbarste Teil sind.
Obwohl in diesem Bereich die Forschung seit einiger Zeit erhebliche Fortschritte gemacht hat, spiegelt sich das noch kaum in der Lehrerausbildung. Als zusätzliche Schwierigkeit kommt hinzu, daß die Sprachwissenschaft hier mit anderen Disziplinen konkurriert, deren Forschungen in diesem Feld ebenfalls einen Schwerpunkt haben, wie es insbesondere bei der Psychologie der Fall ist. Insofern geht es auch darum, den spezifischen Ort der Sprachwissenschaft in diesem Gesamtfeld zu bestimmen. Dieser ist insbesondere dadurch definiert, daß in der sprachwissenschaftlichen Forschung die sprachspezifischen strukturellen Voraussetzung in den Blick genommen werden, die bei disziplinär anders orientierten Forschungen ausgeblendet bleiben. Im Vortrag sollen daher Beispiele zur Verdeutlichung dienen, die typologische Besonderheiten des Deutschen bei der Fundierung der Orthographie aufgreifen. Dem Bau einer akzentdominierten Sprache, deren Silbenstruktur akzentgesteuert ist, entspricht im Deutschen eine Orthographie, deren Sondergraphien in diesen prosodischen Verhältnissen fundiert ist – im Gegensatz zu silbenhomogenen Sprachen, deren entsprechend anders gebaute Orthographie fälschlich (aber gerne) als Reformmodell gehandelt wird (was den Blick auf die Verhältnisse im Deutschen versperrt). Die Möglichkeiten zur didaktischen Umsetzung solcher struktureller Anlysen sollen im Vortrag angesprochen werden.
Auf einer theoretischen Ebene sind die erforderlichen Systematisierungen solcher praktisch nutzbarer Wissensbestände mit den leitenden Konzepten der Modellierung sprachlichen Wissens in der derzeitigen Sprachwissenschaft abzugleichen. Das gilt insbesondere für die in der generativistischen Tradition gerne benutzten Vorstellungen von der „orthographischen Tiefe“ (bzw. der für jede Orthographie zu bestimmenden Relevanzebene der orthographischen Verankerung) gegenüber beobachtungsnäheren („oberflächenorientierten“ Konzepten, die es erlauben, widersprüchlichen Faktoren der Sprachpraxis Rechnung zu tragen. Hier geht es insbesondere um die Ausbalancierung von Fundierungen der orthographischen Schreibungen in phonologischen (prosodischen) Strukturen auf der einen Seite, der Repräsentation grammatischer Strukturen auf der anderen Seite, und schließlich auch traditionellen „ästhetischen“ Anforderungen im konnotativ besetzten Feld der Schriftkultur.
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