Folgen der Rechtschreibreform in Büchern
von Theodor Ickler
1. Schulbücher
Einen Tag nach der Unterzeichnung der Wiener Absichtserklärung lag das neue Bertelsmann-Wörterbuch in den Buchhandlungen, und auch die ersten umgestellten Schulbücher waren gedruckt, so daß im Sommer 1996, also zwei Jahre vor dem geplanten Inkrafttreten der Neuregelung, in den Schulen der meisten Bundesländer mit der Einführung begonnen werden konnte. Von der angekündigten Erprobungsphase war keine Rede mehr, die Umstellung galt als endgültig. Die Kultusministerien gaben denn auch bekannt, Schulbücher in bisheriger Rechtschreibung ab sofort nicht mehr genehmigen zu wollen.
Zu diesem Zeitpunkt war das amtliche Regelwerk noch nicht in seiner endgültigen Fassung veröffentlicht, es fehlte auch noch das amtliche Wörterverzeichnis, ganz zu schweigen von Kommentaren, die das ungemein schwerverständliche Paragraphendickicht erläutert hätten. Die Schulbuchverlage versuchten notgedrungen, sich einen Reim auf die neuen Regeln zu machen. Mißverständnisse und Übertreibungen konnten nicht ausbleiben. Wenn sogar die erfahrene Dudenredaktion zu dem Schluß kam, wiedersehen und zahlreiche ähnliche Wörter durchweg von hoher Gebrauchshäufigkeit würden nunmehr getrennt geschrieben, dann ist es kein Wunder, daß die schlechter informierten Schulbuchbearbeiter entsprechende Änderungen vornahmen. Es dauerte Jahre, bis dieser Irrtum behoben werden konnte (s. unten Kap. 4).
Vielfach wurde die neuen Getrenntschreibung übergeneralisiert: Wasseramseln, so erfahren wir aus einem Gymnasiallehrwerk, ernähren sich von Wasser bewohnenden Insektenlarven (Natura. Klett). Aber auch und gerade da, wo die Neuregelung korrekt angewandt ist, leidet der Sinn: Im Geschichtsbuch I des Cornelsen-Verlags heißt es, daß sich die Menschenaffen und die Menschenvorfahren auseinander entwickelt hatten als hätten sich die einen aus den anderen entwickelt, während sie sich in Wirklichkeit in verschiedene Richtungen, also auseinanderentwickelt hatten.
Im ersten Übereifer strichen die Verlage eine Unmenge von Kommas, die nicht mehr stehen müssen, aber durchaus noch stehen dürfen und um der Lesbarkeit willen auch stehen sollten. Dabei trafen sie manchmal das Richtige, oft aber auch nicht: Es war, wie Fanny, das Kindermädchen, sagte, Platz in der Hölle um die ganze Stadt Wien und alle ihre Menschen zu verschlingen (Canetti in Sprachbuch 9, Bayerischer Schulbuch-Verlag); Warum weigern Sie sich nicht Licht anzudrehen, wenn Sie von Elektrizität nichts verstehen? (Dürrenmatt in Kennwort 10, Schroedel Verlag); Nie hatte ich den Mut meine Absichten und Wünsche euch zu sagen, denn ich wusste, dass sie mit den euren nicht übereinstimmten (Hesse in Verstehen und Gestalten 10, Oldenbourg Verlag, auch die Kleinschreibung der Anrede ist neu).
Aber auch die eigenen Texte der Schulbuchautoren leiden unter der nunmehr erlaubten Kommastreichung: Um weitere Bruderkriege unter den Stämmen zu vermeiden griffen Abu Bakr und sein Nachfolger Umar auf den Plan Mohammeds zurück den islamischen Staat nach Norden zu erweitern (Geschichtsbuch 1, Cornelsen); Da haben wir in Anbetracht unserer höchsten Milde und im Hinblick auf unsere immerwährende Gewohnheit allen Menschen Verzeihung zu gewähren geglaubt diese Nachsicht auch auf die Christen ausdehnen zu müssen (ebd.).
Ebenso häufig wurden Kommas getilgt, die nach wie vor verbindlich sind: Nun aber fürchteten sie ihr König würde nie ans Ziel kommen. Nachdem Marius zum Konsul gewählt war erhielt er den Auftrag Krieg gegen den Numiderkönig Jugurtha zu führen (Geschichtsbuch I).
Nach einem hinweisenden Wort muß der Infinitiv neuerdings selbst dann durch Komma abgetrennt werden, wenn er nicht erweitert ist: Er haßt es, zu arbeiten. Anfangs hielten viele Schulbuchautoren gewisse Wortgruppen für solche kommapflichtigen Elemente: Die Anwältin rief zu dem Zweck, noch rechtzeitig zur Verhandlung zu kommen, ein Taxi herbei. (Gerhard Schoebe: Grammatik kompakt, Oldenbourg) Das ist jedoch ebenso unrichtig wie die von Schoebe vermutete Weglaßbarkeit des Kommas in: Wie gesagt es war mitten im Winter. Solche Irrlehren durchziehen jetzt fast alle Deutschbücher.
Das vollkommen überflüssige, jetzt aber obligatorische neue Komma als drittes Satzzeichen nach wörtlicher Rede wurde zunächst oft vergessen, zum Beispiel in Erstlesebüchern: Es hat geschneit! ruft sie (Williams: Mein Schneemann friert. Carlsen); Seid ihr sicher? fragt Bauer Huber (Nagel: Zwei Ferkel stehen Kopf. Carlsen). Inzwischen findet man diesen Fehler in Büchern seltener, wohl weil dieses Komma leicht programmierbar ist. Schüler vergessen es natürlich fast immer; auf diese neue Fehlerquelle hatten Pädagogen schon früh, aber vergeblich hingewiesen. Daran muß sich erinnern lassen, wer weiterhin von Vereinfachung der Kommaregeln spricht.
Die fakultativen Kommas vor erweitertem Infinitiv sind unter genau gleichen Bedingungen einmal gesetzt und dann wieder weggelassen, ohne erkennbaren Grund. Selbst wenn neuerdings dauernd vom stilistischen Komma gesprochen wird wie soll sich ein Gefühl für den Wert dieses Kommas ausbilden? Eine entsprechende Anfrage beantwortete der Ernst Klett Grundschulverlag so: Dass unter nahezu gleichen Bedingungen einmal ein Komma steht und das andere Mal nicht, lässt sich kaum vermeiden, so lange die Wahlmöglichkeit besteht. Und an dieser Situation kann ein Verlag leider nichts ändern. (Brief vom 30.9.1997)
Was die literarischen Texte aus neuerer Zeit betrifft, die in den Sprach- und Lesebüchern abgedruckt sind, so ist mit ihnen eine urheberrechtliche Frage verbunden. An einigen Beispielen war bereits zu erkennen, daß die Bearbeitung zu gewissen Veränderungen von Stil und Bedeutung führt. Sehen wir uns noch einmal die veränderte Kommasetzung an: Törleß seufzte unter diesen Gedanken und bei jedem Schritte, der ihn der Enge des Institutes näher trug, schnürte sich etwas immer fester in ihm zusammen (Musil in Sprachbuch 10, Bayerischer Schulbuch-Verlag; Komma nach Gedanken gestrichen); Ich versprach ihm daher auch nur kurz mir noch überlegen zu wollen, was mit ihm geschehen werde (Musil ebd., Komma nach kurz gestrichen).
Ist hier nur eine gewisse Undeutlichkeit die Folge, so muß man bei Christa Wolf schon von einem regelrechten Anschlag auf ihren eigentümlichen Stil sprechen: Damals, im Sommer 1971, gab es den Vorschlag doch endlich nach L., heute G., zu fahren und du stimmtest zu (ebd., zwei Kommas gestrichen); Nimm bloß den Sonnenplatz, dessen alten Namen du nicht ohne Rührung ins Polnische übersetzt auf den neuen blauen Straßenschildern wieder fandest (ebd., Kommas vor und nach nicht ohne Rührung gestrichen, die Aufspaltung von wiederfandest ist ein zusätzlicher Schnitzer).
Besonders rücksichtslos gingen die Bearbeiter gegen Thomas Mann vor. Dessen Felix Krull beginnt nun so: Indem ich die Feder ergreife um in völliger Muße und Zurückgezogenheit gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (sodass ich wohl nur in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärts schreiten können), indem ich mich also anschicke meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung und Schule denn auch gewachsen bin. Abgesehen von der Änderung bei der Wortschreibung sodass und vorwärts schreiten sind drei Kommas gestrichen. Weiter heißt es: Hier blühen ... jene berühmten Siedlungen, ... hier Rauenthal, Johannisberg, Rüdesheim und hier auch das ehrwürdige Städtchen, in dem ich wenige Jahre nur nach der glorreichen Gründung des Deutschen Reiches das Licht der Welt erblickte. Im Original stehen nach ich und Reiches Kommas; durch ihre Beseitigung werden Stil und Rhythmus völlig verändert.
Als diese folgenschweren Eingriffe bekannt wurden, erklärten zahlreiche bekannte Autoren, u. a. Aichinger, de Bruyn, Grass, Sarah Kirsch, Kunert, Kunze, Hermann und Siegfried Lenz, Muschg und Walser, daß sie jede Anwendung der Rechtschreibreform auf ihre Texte ablehnen. Die Verlage und die Inhaber der Autorenrechte untersagten den Schulbuchverlagen solche eigenmächtigen Veränderungen und verpflichteten sie zur Rücknahme in den nächsten Auflagen. Das Sprachbuch 10 zum Beispiel wurde daraufhin nochmals überarbeitet und aufs neue herausgebracht, ebenso das Oberstufenwerk Texte, Themen und Strukturen (Cornelsen) die dritte Bearbeitung innerhalb von drei Jahren. Übrigens setzen die Reformer selbst die Kommas wie bisher, und die führenden Schweizer Mitglieder der Rechtschreibkommission haben schon 1996 in ihrem Handbuch Rechtschreiben gefordert, die bisherige Kommasetzung im wesentlichen beizubehalten.
Bekannte Merkverse wurden für die neuen Sprachbücher umgeschrieben: Aber, Atem, Eber, eben, Osten: Buchstaben so ganz allein, liebes Kind das darf nicht sein. Daraus wurde: A-ber, E-ber, e-ben, O-fen, U-fer: Vokale stehen auch allein, das finden sie besonders fein. Eine eigene Pointe besteht darin, daß die besonders feinen neuen Trennungen nicht einmal von der Reformkommission benutzt werden; nur an den Schulen sollen sie keine Fehler mehr sein, aber was haben die Schüler von solcher Spracherziehung?
Doch mit alldem nicht genug. Die Rechtschreibkommission hat unterderhand einen großen Teil der neuen Regeln bereits wieder zurückgenommen. Obwohl der amtliche Regeltext nicht geändert werden durfte, sehen die neuesten, unter Mitwirkung und mit Billigung der Kommission überarbeiteten Wörterbücher schon wieder ganz anders aus. Damit sind die umgestellten Schulbücher schon jetzt überholt. In Verstehen und Gestalten Bd. 7 (Oldenbourg 1997) wird zum Beispiel erwartet, daß die Schüler hochbegabt und vielversprechend getrennt schreiben; inzwischen ist aber laut neuestem Duden (22. Auflage), der in Absprache mit der Kommission verfaßt und von dieser für zuverlässig erklärt wurde, die Zusammenschreibung auch wieder möglich, oft sogar unumgänglich. Rund 15 Millionen gerade erst angeschaffte (oder von Bertelsmann geschenkte) Wörterbücher können nicht mehr benutzt werden, da sie für Korrekturzwecke untauglich sind.
Am meisten leidet die Sprachfähigkeit der Kinder. Wie hatte der führende Reformer, Gerhard Augst, im Jahre 1982 gesagt, als er sein Unternehmen noch nicht im Ernst als Erfolg versprechend (so die amtliche neue Schreibung) ansehen durfte? Eine Änderung geltender Konventionen und Normen über den Schüler zu erreichen, ist zwar verlockend und wäre, wenn es gelänge, auch am erfolgversprechendsten, aber sie setzt an am schwächsten Glied in der Kette.
2. Kinder- und Jugendbücher
Jakob bat und bettelte dabei bleiben zu dürfen. Das soll Michael Ende geschrieben haben. In Wirklichkeit hat er geschrieben: Jakob bat und bettelte, dabeibleiben zu dürfen. Die nicht gerade leserfreundliche Änderung geht auf das Konto des Verlags, der den satanarchäolügenialkohöllischen Wunschpunsch des verstorbenen Schriftstellers durch viele hundert Eingriffe auf Reformschreibung getrimmt hat. Seit 1996 ist nahezu die gesamte Kinder- und Jugendliteratur in dieser Weise verändert worden. Die Schulbuchverleger behaupteten, daß die Kunden es so wünschten eine Begründung, die nie genauer belegt wurde. Ein Geschäft war mit den umgestellten Büchern zwar nicht zu machen; die Umstellung bereits vorliegender Bücher kostet pro Titel zwölf- bis fünfzehntausend Mark, und der Umsatz erhöhte sich keineswegs. Die Aktion hat aber nicht unwesentlich zur gegenwärtigen Scheinblüte der Reformorthographie beigetragen.
Bisher ist es noch niemandem gelungen, die neuen Regeln auch nur einigermaßen korrekt anzuwenden. Im Jahre 1996 war noch ziemlich unklar, wie das umfangreichste und komplizierteste Orthographie-Regelwerk aller Zeiten überhaupt auszulegen sei. So verbreitete sich die fragwürdige Getrenntschreibung wieder sehen usw. mit großer Geschwindigkeit: Kann es nicht sein, dass du sie noch wieder findest? (Kirsten Boie: Kerle mieten. Oetinger); Überhaupt war der Hummerfischer jetzt nicht wieder zu erkennen (James Krüss: Mein Urgroßvater und ich. Oetinger); Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er sie wieder erkannte (Andreas Steinhöfel: Beschützer der Diebe. dtv junior).
Viele Fehler entstehen auch durch Übergeneralisierung der neuen Regeln: Geschähe ihr Recht, meinte er bitter (Thomas Jeier: Hilferuf aus dem Internet. Arena); Ratte ist immer an allem Schuld (Das große Jahrbuch für Kinder 1999. Velber); Morgen!, sagte er Hände reibend (Brigitte Blobel: Die Neue, mein Bruder und ich. Schneider); Die Geschwister hatten längst mit dem Geld verdienen angefangen (Paul Maar: Philipp hat Glück. Ellermann). Auch solche Irrtümer und Mißgriffe sind aufschlußreich, zeigen sie doch, was Lektoren heutzutage für möglich halten und wie weit sie zu gehen bereit sind.
Der häufigste Fehler besteht natürlich darin, daß bisherige Schreibweisen weiterverwendet werden: langbewimperte Lider, schattenspendende Dächer, schiefgehen, brühendheiß (Stefan Wolf: TKKG Im Schloss der schlafenden Vampire. Pelikan); Es tut mir leid! (Doris Schröder-Köpf / Ingke Brodersen: Der Kanzler wohnt im Swimmingpool. Campus); ein schwarzgelockter Knabe (ebd.). (Der Campus-Verlag hat das Buch der Kanzlergattin zwar in reformierter Rechtschreibung herausgebracht, doch sind dabei einige Dutzend Fehler unterlaufen wie man sieht, durchaus nicht immer zum Schaden des Buches.)
Daß noch mal neuerdings zusammengeschrieben werden muß, hat fast niemand mitbekommen, denn es steht an sehr versteckter Stelle im neuen Regelwerk.
Zu den übelsten Folgen der Reform gehört die grammatisch falsche Getrenntschreibung in Fällen wie: Dein Appetit ist Furcht erregend! (Krüss: Urgroßvater). Zwar haben die Reformer einen Teil dieser Schnitzer inoffiziell wieder zurückgenommen, aber davon wissen die Verlage noch nichts. Die Getrenntschreibung breitet sich epidemisch aus: Es klang alles miteinander Furcht erregend (Astrid Lindgren: Rasmus und der Landstreicher. Oetinger); Er sah plötzlich viel größer und sehr Ehrfurcht gebietend aus (Ende: Wunschpunsch); was ich schon mal sehr viel versprechend fand (Christian Waluszek: Der Klassendieb. Thienemann).
Ebenso ärgerlich und sogar für Kinder schon erkennbar ist der grammatische Fehler bei der neuen Großschreibung: Oh, das tut mir Leid (Norbert Blüm: Franka und Nonno. Riesenrad); Das tut uns allen wirklich sehr Leid (Marianne Koch: Tief einatmen! Hanser); so Leid es Lilli auch tut (Knister: Hexe Lilli und das wilde Indianerabenteuer. Arena); Ich musste die Tränen zurückdrängen, so Leid taten sie mir (Ursula Isbel: Pferdeheimat im Hochland. Bertelsmann); Es tut mir Leid, dass sie zurückmüssen, aber nicht allzu Leid (Jennifer L. Holm: May Amelia in den Wäldern am großen Fluss. Dressler); Die Partei, die Partei hat immer Recht (Schröder-Köpf/Brodersen); Und so ganz Unrecht hatten sie damit nicht (Joachim Friedrich: 4½ Freunde und das Geheimnis der siebten Gurke. Thienemann/Bertelsmann)
Dabei hat Konrad Duden persönlich die Sache schon 1876 klargestellt:
Bei Ausdrücken wie 'leid tun, not tun, weh tun, schuld sein, gram sein; mir ist angst, wohl, wehe, not' ist von selbst klar, daß das zum einfachen Verbum hinzugetretene Element nicht als Substantivum fungiert; man erkennt die nicht substantivische Natur jenes Zusatzes am besten durch Hinzufügung einer nähern Bestimmung. Man sagt 'er (...) hat ganz recht, hat vollständig unrecht' u. dgl. Die Anwendung von Adverbien, nicht von Adjektiven, zeigt, daß man einen verbalen Ausdruck, nicht ein Verb mit einem substantivischen Objekt vor sich hat. (Die Zukunftsorthographie. Leipzig)
Unseren Reformern scheint dieses Grundwissen abhanden gekommen zu sein.
Am einfachsten war es, all jene Kommas zu tilgen, die nach der Neuregelung nicht mehr stehen müssen, aber durchaus noch stehen dürfen und in den allermeisten Fällen um der Lesbarkeit willen auch stehen sollten: Sie haben einen Hohen Rat einberufen und der hat entschieden geheime Botschafter in alle Himmelsrichtungen zu schicken (Ende: Wunschpunsch); Wir treffen uns gegen fünf Uhr bei ihr um alles wegen heute Nacht zu besprechen (Steinhöfel: Beschützer der Diebe); Natürlich hörte ich trotzdem nicht auf die Hälfte meines Taschengeldes für Anti-Aknemittel auszugeben. Ich bekam plötzlich Angst mit ihr alleine zu sein und schlug ihnen vor doch einfach mal hochzugehen. Daniel würde sich bestimmt freuen sie zu sehen (Christian Bieniek: Immer cool bleiben. Arena).
Was längst zu einem neuen Wort mit neuer Bedeutung verschmolzen war, nimmt die Rechtschreibreform künstlich wieder auseinander: Er warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu (Blobel: Die Neue); Sie warf mir einen viel sagenden Blick zu (...) Tanja sah mich viel sagend an [- wobei sie aber gar nichts sagt!] (Zimmermann/Zimmermann: Mathe, Stress und Liebeskummer. Thienemann). Die lächerliche Aufspaltung von sogenannt ist ja auch in Zeitungen allgegenwärtig und braucht nicht belegt zu werden.
Mit Michael Ende ist der undankbare Verlag besonders grob umgesprungen. Der Verfasser wußte doch wohl, warum er schrieb: Aus Nichts schöpfst du immerfort Geld, und mit Geld kann man Alles machen. Daraus wird in der Neubearbeitung: Aus nichts schöpfst du immerfort Geld und mit Geld kann man alles machen. Die Banalisierung hat Methode: wer brunnenvergiftet wird zu wer Brunnen vergiftet, der Eigenname Sankt Sylvester zu Sankt Silvester. Die altkluge Belehrung der Reformer, behende komme eigentlich von Hand und sei daher mit ä zu schreiben, wird ebenfalls befolgt: Irrwitzer eilte davon und Tyrannja folgte ihm mit überraschender Behändigkeit. Die archaisierende Schreibweise legt irreführenderweise den Gedanken nahe, beim Davoneilen spielten die Hände eine nennenswerte Rolle. In anderen Fällen wirkt die etymologische Klügelei noch aufdringlicher: Ich schnäuzte in mein Taschentuch (Boie: Kerle mieten).
Wer zigtausend derartige Fehler gesehen hat, muß zu der Einsicht kommen, daß mit einer objektiv minderwertigen Rechtschreibung keine hochwertigen Texte hervorgebracht werden können. Die solide oder gar prächtige Ausstattung mancher neuen Bücher, wie im Falle des Bestsellers von Doris Schröder-Köpf, läßt den Widersinn nur um so krasser hervortreten.
Auch wer keine Grammatikregeln aufsagen kann, hat doch ein Gespür für Wortarten und Zusammensetzungen. Die intuitive Sprachkenntnis, das sogenannte Sprachgefühl, wird durch systematische Einübung des Falschen unweigerlich zerrüttet. Dieser Schaden wiegt schwerer als die vergeudeten Milliarden.
Aber auch der nie berechnete materielle Schaden ist nicht gering zu veranschlagen: In ganz Deutschland bitten Leihbüchereien nun um Spenden für die angeblich dringend notwendige Auswechselung veralteter Kinderbücher gegen reformierte. In einer mittleren Stadt wie Fürth wird der Umfang der Aktion auf 2000 Bände geschätzt, bei einem Anschaffungsetat von 130.000 DM für die gesamte Bibliothek keine Kleinigkeit.
3. Belletristik
Fast alle namhaften deutschen Schriftsteller verweigern sich der Rechtschreibreform. Bei Übersetzungen glauben viele Verlage jedoch, die Reformschreibung anwenden zu dürfen oder zu sollen. Dabei unterlaufen die übliche Fehler. Beginnen wir mit einem schwedischen Trivialroman, dessen Impressum immerhin vermeldet: Die Übersetzung wurde gefördert durch das Ministerium für Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen.
Marianne Fredriksson: Marcus und Eneides. Fischer Taschenbuch. Das Buch enthält weit über hundert orthographische Fehler: flammendrot, leuchtendlila, hochgewachsen, braungebrannt, gutaussehend, rotumrandet, frischverlobt, ewigjung, weitentfernt, langgehegt, frischgeschlüpftes, frischgebackenes Brot, fertiggestellt, vielbesungen, schrägstehend, fremdklingenden, übelriechenden, sogenannt, schwindelerregend (mehrmals), furchterregend, furchteinflößend, auseinandersetzen, stehenbleiben, leid tun (oft), recht haben, sein eigen war, daß (immer wieder), bewußt, wußte, mußte (oft), läßt usw. Nach wörtlicher Rede fehlt fast immer das neuerdings vorgeschriebene Komma: Schweig! zischte sie. Es finden sich allerdings auch noch andere Fehler, die mit der Reform nichts zu tun haben wie Kariatyden oder die Behandlung von Flamen (in Flamen Dialis) als Vorname: Flamens Gesicht; Flamen saß auf einem Stuhl ohne Lehne, platziert auf einem Podest usw.).
Aus dem Französischen ist übersetzt: Frédéric Beigbeder: Neununddreißig neunzig. Rowohlt. Der Text folgt der Reform von 1996: werden Sie mein Produkt im Supermarktregal wieder erkennen; wenn wir das in der Endfassung nicht wieder erkennen; seinen Appetit wieder zu finden; Sonst hätte er noch erkennen müssen, wie Recht er hatte usw.
Bei Kiepenheuer und Witsch ist der ebenfalls recht anspruchslose Schlüsselroman von Anita Lenz (Pseudonym) erschienen: Wer liebt, hat Recht, der die grammatisch falsche Neuschreibung schon im Titel erkennen läßt. Im Text selbst kommt dann immer wieder Recht haben und Leid tun vor. Der Text folgt offenbar der überholten Reform von 1996, als man noch glaubte, wieder sehen usw. getrennt schreiben zu müssen. Die neue Unsicherheit zeigen Schreibungen wie: ein Kind, dass ich überhaupt nicht kenne; ein Gefühlsleben, dass ich nicht teilen kann. Die Trennung Tee-nager, die der Reformer Augst noch für undenkbar hielt, kommt ebenfalls vor.
Der Verlag Rowohlt setzt die Neuschreibung besonders eifrig um, zum Beispiel in Peter Schneiders Buch Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen... Wie ein jüdischer Musiker die Nazi-Jahre überlebte (Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.): Nur eine Hand voll Länder hatte überhaupt die Bereitschaft signalisiert; Konrads Vater hatte Recht; Das Schweigen irritierte ihn nicht im Mindesten; Ihm persönlich tue das Ganze unendlich Leid; es tue ihm wirklich entsetzlich Leid.
Die Neuübersetzung von Tolkiens Herr der Ringe (Klett-Cotta) wurde dem Vernehmen nach auf Druck der Stiftung Lesen, die eine Werbekampagne davon abhängig gemacht haben soll, in Reformschreibung gesetzt: Und wie Recht er gehabt hat!; Er hatte keine Zeit gehabt, sich Leid zu tun; Höchste Eile tut Not. Regelwidrig heißt es allerdings behend, Gemse, Glockenstengel, Greuel, Handvoll, Zierat, noch mal, die samentragenden Gräser, die aasfressenden Tiere. Falsch ist auch die Großschreibung des Zahlwortes in folgendem Beispiel: Die großen Zehen (...) setzte er (...) als Erste auf den Boden. Zur Entzerrung der drei gleichen Buchstaben wird geschrieben: Schluss-Stein und Hass-Schrei.
4. Fach- und Sachliteratur
Sachbücher werden heute oft, Fachbücher nur gelegentlich auf die eine oder andere Version der Reformorthographie umgestellt. Allerdings müssen solche Feststellungen mit Vorsicht getroffen werden, denn es kommt vor, daß Autoren oder Redaktoren lediglich die neue Heysesche s-Schreibung durchführen und alles andere auf sich beruhen lassen. Darf man solche Texte überhaupt als umgestellt bezeichnen?
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Rechtschreibliteratur selbst. Die ersten umgestellten Wörterbücher wichen stark voneinander ab. Die Rechtschreibkommission hat seither viel Arbeit darauf verwandt, wenigstens die Werke von Bertelsmann und Duden durch exklusive Beratungsgespräche aneinander anzugleichen. In der Öffentlichkeit sind aber noch Millionen Bände der ersten Reformausgaben von 1996 vorhanden, und außerdem beruhen darauf verschiedene Kurzfassungen und Didaktisierungen ebenso wie die gemeinsame Hausorthographie der Nachrichtenagenturen und vieler Zeitungen.
Um nur den bekanntesten Problemfall herauszugreifen: Die Dudenredaktion war 1996 der Meinung, wiedersehen müsse künftig getrennt geschrieben werden, und nach und nach schlossen sich alle anderen Wörterbücher dieser Ansicht an. Ob es sich wirklich um eine Fehldeutung handelt oder ob die Kommission (die damals noch nicht existierte) erst nachträglich die fatalen Folgen des unklar formulierten Paragraphen 34 erkannt hat, steht dahin. Immerhin findet man die Fehlschreibung in zahlreichen Werken wie etwa Fehlerfrei schreiben (Cornelsen), das sich auf freundliche Beratung durch Dr. Klaus Heller beruft, also einen der Reformer, bis heute Geschäftsführer der Reformkommission. Das Bertelsmann-Wörterbuch, in einem Geleitwort gepriesen vom selben Reformer Heller, hatte zwar zuerst (wohl aus Schlamperei) wiedersehen, aber im ersten Nachdruck (ebenfalls noch 1996) einige Wochen lang die Getrenntschreibung, ebenso das Eduscho-Wörterbuch (Naumann & Göbel, Geleitwort vom Reformer Hermann Zabel). Die Nachrichtenagenturen haben den Fehler bis zum heutigen Tag nicht korrigiert (Internet-Seite der dpa).
In der germanistischen Fachliteratur findet man verständlicherweise eine breite Ablehnung der Reform, besonders bei Literaturwissenschaftlern. Einige Sprachwissenschaftler haben allerdings recht früh, einige andere später umgestellt oder die Umarbeitung ihrer Texte zugelassen. Die Ergebnisses sind oft sehr problematisch, weil die Reformschreibung einen Teil des Gegenstandes solcher Texte, also die deutsche Sprache, beeinträchtigt oder gar zerstört.
Der Passauer Germanist Hans-Werner Eroms, der im März 2002 den Konrad-Duden-Preis erhielt, hatte kurz zuvor eine Syntax der deutschen Sprache im angesehenen Verlag de Gruyter herausgebracht. Sie ist in einer chaotischen Mischorthographie gesetzt. Grundsätzlich zwar der Reformschreibung folgend, enthält sie fast auf jeder Seite Verstöße wie sogenannt, aneinanderklammern, auseinandergehalten, ineinandergreifen, auseinanderliegen, auseinanderziehen, die ersten, das zweite, das letztere, die ersteren, jedesmal, als nächstes, um so, im wesentlichen, im einzelnen, im übrigen, des öfteren, plazieren (nur so, aber einmal auch platzierbar), kennenlernen, fertigwerden, zu eigen machen, radfahren, eislaufen, heute nacht, blaugekleidet, biertrinkend, neuerrichtet, zufriedenstellen und hundert andere Fehler. Wir stoßen auf grammatisch falsche Übergeneralisierungen wie die Nebensatz einleitenden Konjunktionen; und selbst wo die Neuschreibung korrekt ist, verbietet sie sich für einen Germanisten eigentlich von selbst: Er glaubt, dass er Recht hat. Viele Kommas nach hinweisendem Pronomen fehlen, obwohl sie gerade nach der Neuregelung obligatorisch sind. Aber auch mit dem Inhalt gerät die Schreibweise in Konflikt: Der Verfasser leitet selbstgebacken ausführlich her, aber dieses Wort gibt es nach der selbstgewählten Orthographie gar nicht mehr. Eine Aussage beginnt: Es finden sich aber vielfach (vor der Rechtschreibreform zusammengeschriebene) Komposita ... Nun, wenn es Komposita sind, dann müssen sie auch nach der Reform zusammengeschrieben werden, es sei denn, die Reform verkennt sie als nicht zusammengesetzt, in welchem Fall aber der Wissenschaftler seine bessere Einsicht über die Irrtümer unbelehrter Reformer zu stellen hat.
Im selben Verlag ist erschienen: Merkmale und Relationen von Ulrike Demske. Zusätzlich zu den Fehlertypen, die wir gerade kennengelernt haben, kommen noch sehr seltsame Trennungen vor: Defini-theit (nur so), theori-eimmanent, Synta-xwandel (mehrmals); außerdem Großschreibungen wie dem Gegenwartsdeutschen Stand (mehrmals) vielleicht das Ergebnis einer automatischen Ersetzung, denn es findet sich auch mehrmals ein unsinniges für das Gegenwartsdeutschen.
Ähnlich gelitten hat das Werk eines ungarischen Germanisten, das in einem angesehenen deutschen Spezialverlag erschienen ist, die Valenztheorie von Vilmos Ágel (Narr). Hier finden wir Altschreibungen wie aufgefaßt, plazieren, auseinandersetzen; korrekte, aber gramamtisch falsche Umsetzungen wie die Idee ist nahe liegend, zahlreiche Übergeneralisierungen wie Eroms' Idee ist die Folgende oder gar aus der Valenz verändernden Potenz. In allen diesen Fälle ist es schade um den Inhalt.
Besonders betroffen sind naturgemäß Werke, die sich ausdrücklich mit der deutschen Wortbildung beschäftigen, denn die Neuregelung greift ja hier substantiell in den Gegenstand ein. So hat Wolfgang Motsch eine Deutsche Wortbildung veröffentlicht, die in der Schriftenreihe des Instituts für deutsche Sprache (IDS) erschienen und in Neuschreibung gehalten ist. Wörter wie glückbringend oder braungebrannt dürfte er dann gar nicht mehr analysieren, denn es gibt sie nicht mehr jedenfalls nach dem amtlichen Regeltext; die Neubearbeitungen der Wörterbücher stellen sie immerhin schon wieder her, und auch der dritte Bericht der Rechtschreibkomission eröffnet diese Möglichkeit.
Der Westdeutsche Verlag, ein Tochterunternehmen von Bertelsmann, brachte Wortbildung fürs Examen von Hans Altmann und Silke Kemmerling heraus. In ihrem eigenen Sprachgebrauch befolgen sie nur einen Teil der Neuschreibung; stehengeblieben sind zufriedenstellen, im einzelnen, verlorengehen, sogenannt usw. Kann man bei Rad fahren noch von einer Zusammenrückung sprechen? frischgebacken, fertigbringen, unterderhand usw. werden analysiert, aber es gibt sie gar nicht mehr! Hunderte von Fehlern aller Art zieren auch das im gleichen Verlag erschienene Buch Syntax fürs Examen von Hans Altmann und Suzan Hahnemann; sogar die simple ss-Schreibung funktioniert nicht.
Im Duden-Verlag erschien Wie schreibt man jetzt? von Ulrich Püschel. Das Buch verbreitet ohne Vorbehalt die falschen etymologischen Herleitungen: Messner aus Messe, belämmert von Lamm, einbläuen von blau, Quäntchen von Quantum, und bei Zierrat soll in der bisherigen Schreibweise ein r weggefallen sein! In leid tun, not tun, pleite gehen sollen Substantive, in wettmachen und irreführen verblaßte Substantive stecken usw. an die früher so sorgfältigen Dudenbände etwa von Wolfgang Mentrup darf man da gar nicht denken!
(Fortsetzung folgt)
– geändert durch Theodor Ickler am 26.04.2002, 09.32 –
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Th. Ickler
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