Re: Ziel verfehlt?
Zitat: Ursprünglich eingetragen von J.-M. Wagner
»Rechtschreibreform: Keine Erleichterung für Legastheniker«
http://www.legasthenie.at/aln4/page10.html
(Austrian Legasthenie News, Ausgabe 4, 12. Dezember 1997)
Hausarzt gesucht!
Ich unterstelle, daß ein großer Teil der sog. Legastheniker milieugeschädigt ist.
D.h.: Zahlreiche Kinder, die sich durch außerordentlich große Fehlerhaftigkeit in der Rechtschreibung auszeichnen, sind deshalb so auffällig, weil bereits deren Eltern mit einer „Rechtschreibunsicherheit“ zu kämpfen hatten, oder aber weil sie ihre Anstrengungsbereitschaft verweigern, da der Fachbereich Deutsch/Muttersprache gesellschaftlich geringgeschätzt wird.
Die Wertschätzung schulischer Fachbereiche – zum einen durch die Eltern selbst, zum anderen durch die öffentliche Einschätzung (bzw. Politik) – ist ein sehr wesentlicher Bildungsfaktor.
Beispiel Elternhaus:
Sowohl das Wissen selbst – viel mehr aber noch die Wertschätzung eines Fachbereichs –
werden im Elternhaus tradiert; ist es doch eindeutig so, daß Eltern ihre Kinder in allererster Linie bei denjenigen Aufgabenstellungen betreuen, in denen sie sich selbst sicher fühlen.
Absolut folgerichtig ist es daher, wenn sich z.B. mathematisches Wissen fortpflanzt, weil und wenn Vater oder Mutter hierin Kompetenz entwickeln.
Beispiel Politik:
Kompetenz im Fachbereich Deutsch läßt nach, nicht zuletzt weil dieser Fachbereich seit Ende der 60er Jahre („hessische Rahmenrichtlinien“) politisch in die Schußlinie geraten ist.
Seit dieser Zeit gibt es keine bundeseinheitliche Leistungsmessung mehr.
Die Gewichtung der einzelnen Fachbereiche (schriftliche und mündliche Sprachgestaltung, Lesen, Sprachbetrachtung und Rechtschreiben) ist Gegenstand politischer Maßnahmen und Verordnungen. Rechtschreibung gerät immer mehr ins Abseits. Das doppelbödige Bewertungsverfahren (alte und neue Rechtschreibung sind seit 1996 bis 2005 gleichermaßen richtig) sagt alles über die staatliche Einschätzung der Orthographie.
Bliebe am Ende ein Abgleich:
Der Staat hat in den 70er Jahren mit der Einführung der Mengenlehre in allen bundesdeutschen Schulen einen schwerwiegenden Fehler gemacht. Er hat damals das emotionale Band der Bildung (den Wertschätzungsbereich) einseitig durchtrennt. Viele Eltern konnten ihren Kindern nicht mehr helfen, obwohl sie mathematische Kompetenz hatten. Die Kinder dagegen mußten erkennen, daß sie etwas lernten, was ihre Eltern nicht wertschätzten.
Ende der 90er Jahre hat der Staat seinen Fehler, diesmal durch die Einführung der Rechtschreibreform wiederholt. Wieder konnten die Eltern nicht mehr helfen, und diesmal waren selbst die Lehrer zeitweise überfordert. In vielen Fällen wurde der letzte emotionale Bildungs-Strohhalm durchtrennt.
Wie aber soll ein Legastheniker (einerseits jenes diagnostiziert kranke, andererseits jenes milieugeschädigte Geschöpf) gesunden können, wenn man ihm seinen Hausarzt nimmt?
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nos
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