"Klassiker" - eine kultusministerielle Worthülse
Mein Motiv für die Eröffnung des Leitfadens „Die Leistung unserer Klassiker im Spiegel der Zeit“ gründet auf dem Ärger über das bayerische Kultusministerium. Nie wurde mir auf meine Anfragen konkrete Antwort gegeben, vielmehr in drei standardisierten Briefen (siehe Links im ersten Beitrag) stets auf die Schreibweise der „Klassiker“ abgehoben. Sinngemäß wurde folgende Behauptung hinzugefügt: Die Texte unserer Klassiker seien dem Schreibgebrauch nun (nach der Reform) wesentlich ähnlicher. Schärfer formuliert: Das Kultusministerium frohlockte darüber, daß die Rechtschreibreform einen Bruch in der Tradition beseitigt habe.
Das – so wird sich herausstellen – war übelste Phrasendrescherei. Offensichtlich ist man sich im Ministerium nicht einmal bewußt über den Begriff „Klassik“. Man hat lediglich mit einer Worthülse jongliert und sich nach meiner Meinung eine erschreckende Blöße gegeben.
(Dazu noch zwei präzise Fragen im Anschluß an die folgende Definition des Begriffs „Klassik“)
Was versteht man unter Klassik?
Ist der Begriff eindeutig geregelt?
Ist „Klassik“ die Bezeichnung für eine bestimmte Epoche, oder bezeichnet sie ein Qualitätsmerkmal?
Welche Dichter, Philosophen, Musiker … gehören im engeren, welche im weiteren Sinne zu den Klassikern?
Eigentlich ist Klassik ein Begriff aus der Militärsprache. Die römischen Bürger der ersten Steuerklasse, die den Unterhalt der Flotte (classis) bestreiten mußten, hießen „classici“.
Später wurde diese Klassenbezeichnung für die reichsten Bürger Roms etwa im 2. Jh. n. Chr. (u.a. von Aulus Gellius) auf die anerkannten Schriftsteller des ersten vorchristlichen Jahrhunderts (z.B. Cicero) übertragen, um ihren Rang hervorzuheben,
und noch viel später verlieh die Renaissance diesem Begriff weitere Mehrdeutigkeit.
Zum einen faßte man „Klassik“ als historischen Begriff, der die als vorbildlich und traditionswürdig empfundenen Literaten der Antike bezeichnete, zum anderen als Normbegriff, unter dem das Mustergültige, das von vielen als beispielhaft Anerkannte verstanden wird.
Hinzukam der Epochenbegriff „Klassik, mit dem die einzelnen europäischen Nationen dichterische und künstlerische Höchstleistungen (sowie die Zeit ihrer Entstehung) bezeichnen.
So:
in Italien die Zeit um 1500
in England und Spanien die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts
in Frankreich die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts
in Deutschland die Zeit um etwa 1800 (etwa 1786 – 1805; Goethezeit oder Weimarer Klassik)
Als Klassik gelten außerdem:
In Griechenland die Zeit des Perikles (bis 429 v. Chr.)
In Rom die Zeit des Augustus (63 v. Chr. – 14 n. Chr.)
In Deutschland (umstritten) die Zeit der Hohenstaufer (1138-1254/mittelhochdeutsche Klassik).
(Dabei wird jeweils die Zeit der Klassik in den einzelnen Literaturen als Reifezeit in der Entwicklung der Nationalsprachen verstanden, die sich meist durch bewußte Anlehnung an die antiken Klassiker auszeichnet.)
Goethe brachte 1804 in einem Gespräch die Bemerkung ein: „Alles was vortrefflich sei, sei auch klassisch“, was letztlich den Gebrauch des Begriffs von jenem in den westeuropäischen Sprachen entfernte. In Deutschland wurde „Klassik“ zunehmend ein Substanzbegriff, dem wesenhaft Maß, Ausgewogenheit und Harmonie (Stil) eignet, später gar ein Idealbegriff, der seine Bestimmung den denkerischen Leitlinien des deutschen Idealismus entlehnte.
Dichter, denen in diesem Sinne das anspruchsvolle Prädikat „klassisch“ zugesprochen werden kann, wären schnell aufgezählt: „Goethe und Schiller“.
In seiner ursprünglichen Verwendung verweist der Begriff Klassiker allerdings auf „öffentliche Anerkennung“ und ist mit dem Prädikat „der Große“ verwandt. Entsprechend wurde der Begriff Klassiker als Ehrentitel jeweils den besten, grundlegenden und vorbildlichen Autoren einer Gattung, Sparte usw. zuerkannt (.z.B. Marx und Engels als Klassiker des Marxismus-Leninismus, Lessing als Klassiker der Kritik, Kant als Klassiker der Philosophie, Beethoven als Klassiker der Musik …).
Dabei betont dieser Titel, auf die Dichtung bezogen, die stilistischen Fähigkeiten eines Autors, seine Kunst optimal und verständlich zu formulieren, etwas einmalig und zitatwürdig zu sagen.
Zusammenfassend gilt es festzustellen, daß im Sprachgebrauch weiterhin der Zwitterbezug des Begriffs Klassiker zum einen auf eine geschichtliche Periode zum anderen auf die Qualitäten von Weltrang besteht.
Unter diesen Gesichtspunkten wäre Goethe ein traditioneller Klassiker, Brecht ein moderner Klassiker.
Fragen an den hiesigen Diskussionskreis und an die Kultusbürokratie:
Nach welchen Gesichtspunkten hat man Heinrich von Kleist (18.10.1777 bis 21.11.1811) und Adalbert Stifter (Österreicher, 23.10.1805 bis 28.01.1868) dem Kreis der Klassiker zugerechnet?
Mit welchem Recht verweigert man dieses Prädikat Klassiker einer riesigen Anzahl von Dichtern, die ebenfalls im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert lebten (z.B. Johann Peter Hebel, Jean Paul Friedrich Richter, Friedrich Hölderlin, Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff, Eduard Mörike, Heinrich Heine, Jeremia Gotthelf, Georg Büchner, Johann Nestroy, Franz Grillparzer, Theodor Storm, Gottfried Keller, Friedrich Hebbel, Theodor Fontane, Annette von Droste-Hülshoff …)?
Das ganze stinkt so sehr nach Manipulation, daß es mich wirklich ernsthaft wundert, daß die Literaturprofessoren noch nicht gegen eine derartige Volksverdummung protestiert haben. (Im übrigen wurde dieses Klassikerargument auch in die Öffentlichkeit getragen. U.a. berichtete darüber das Bayerische Fernsehen im Jahre 1997 in der Sendung „Veto“).
Mein oben angeführtes Wissen entstammt übrigens einem vierspaltigen Eintrag im Lexikon 2000, Bd. 7.
Sollte daran etwas falsch sein, mag man das berichtigen.
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