Das Recht der Kinder und die Pflicht der Erwachsenen
(I.) In der Schule muß die Reformschreibung benutzt werden; das ist so und steht hier, als Tatsache an sich, nicht zur Debatte. Es kommt mir aber darauf an, daß sich genau dadurch das Problem ergibt, daß die Kinder Falsches lernen müssen: Es ist klar, daß es tut mir sehr Leid falsch ist, und so genannt schreiben zu müssen statt sogenannt, ist ebenfalls falsch (von der gesprochenen Sprache und von der Grammatik her gesehen). Und so weiter; Beispiele für Verstöße gegen die Grammatik, den Wortschatz und die Wortbedeutungen gibt es ja zuhauf. Wie sollten nun zum Beispiel die Eltern damit umgehen? Was sollen sie von den Lehrern fordern? Das Recht der Eltern ist klar: Die Kinder sollen in der Schule das lernen, was für die jeweilige Klassenstufe in der jeweiligen Schulart vorgesehen ist. Letztlich geht es also um die Kinder. Worauf aber haben die Kinder ein Recht speziell bezüglich des Erlernens der Sprache? Das Beherrschen der Schrift und das bedeutet Lesen und Schreiben ist ein Teil des sprachlichen Kommunikationsvermögens. Das bedeutet, daß sich die Rechtschreibung sinnvoll in die sprachliche Kommunikation einordnen muß. Eine solche, sich nach aus sprachlich-kommunikativer Perspektive sinnvollen Kriterien richtende Rechtschreibung sollen die Kinder lernen; ja, ich denke sogar, daß sie darauf einen Anspruch haben: teilzuhaben am kulturellen Erbe und an der kulturellen Entwicklung der Menschheit. Das heißt (unter anderem), zu erfahren, was sich bis zum heutigen Zeitpunkt herausgebildet hat, was erprobt ist und zusammenpaßt, und auch, was sich noch entwickelt. Warum sollte man ganz generell gefragt den Kindern in irgend einem Bereich des menschlichen Wissens, Denkens und Handelns, der Kultur und der Kunst, das Beste vorenthalten? Daß nicht alle Kinder Genies werden, ist klar, aber die Chance dazu müssen sie bekommen! (II.) Was bedeutet das für das Erlernen des Kommunizierens, mündlich wie schriftlich? Die gesprochene Sprache ist das Primäre der Kommunikation, in dem Sinne, daß die Prinzipien, nach denen die gesprochene Sprache funktioniert, in der Schriftsprache nicht durchbrochen werden dürfen. Das heißt aber nicht, daß sich die Schriftsprache in allen konkreten Details möglichst exakt nach der gesprochenen Sprache richten muß weil die Schriftsprache ein anderes physikalisches Medium benutzt, weil sie ohne Mimik und Gestik auskommen muß, muß sie in konkreten Dingen eigene Wege gehen. Dazu gehören etwa die Satzzeichen (Punkt, Komma, Ausrufe-, Frage- und Anführungszeichen etc.), die Groß- und Kleinschreibung, Ligaturen, der Unterschied zwischen Gedanken- und Binde-/Trennstrich etc. Diese (z. T. typographischen) Besonderheiten dienen dem Erfassen der Bedeutung beim Lesen von Texten, und genauso ist es mit den Wortzwischenräumen: Der Text wird inhaltlich und logisch gegliedert, und der Inhalt und die Logik, nach der das geschieht, ist die gleiche Logik wie die der gesprochenen Sprache. Ist das eine Selbstverständlichkeit? Ich finde, daß es das sein sollte. Wird die neue Rechtschreibung diesem Prinzip gerecht? Nein!! Sie verstößt (punktuell) dagegen! Sie verstößt damit (punktuell) gegen das Recht der Kinder, eine sich nach sprachlich-kommunikativ sinnvollen Kriterien richtende Schreibung zu erlernen. (III.) Mir geht es hier letztlich nicht um die alte oder die neue Rechtschreibung, sondern (unter anderem) darum, daß allgemeingültige sprachliche Prinzipien, soweit möglich, gewahrt werden. In der Schule müssen die Kinder die Reformschreibung in vollem Umfang erlernen (weil sie in vollem Umfang amtlich ist), und sie haben keine Chance, etwa wie eine Zeitungsredaktion sich auf die Teile zu beschränken, die nach allgemeingültigen sprachlichen Kriterien beurteilt unbedenklich sind, in anderen Teilen aber bei den herkömmlichen Schreibungen oder Regeln zu bleiben. Daher komme ich zu dem Fazit, daß der Forderung, allgemeingültige sprachliche Prinzipien (weitestgehend) zu wahren, die herkömmliche Rechtschreibung besser gerecht wird als die reformierte. Wer sich als konsequenter Ablehner der alten Rechtschreibung versteht lehnt der-/diejenige auch die sprachlichen Prinzipien ab, nach denen sich die Rechtschreibung (meines Erachtens: sinnvollerweise) richten sollte? Sind nicht Wortschatz, Wortbedeutungen und Grammatik die Grundlagen der Sprache, egal, ob in mündlicher oder schriftlicher Form? Darf eine Rechtschreibreform etwas am Wortschatz, den Wortbedeutungen oder der Grammatik einer Sprache verändern? Man könnte behaupten, daß eine Rechtschreibreform das per Definition gar nicht kann. Das ist aber ein zweifacher Irrtum. Zum einen sieht die korrekte Logik so aus: (a) Wenn eine Reform eine (echte, reine) Rechtschreibreform ist, ändert sich nichts an Wortschatz, Wortbedeutungen und Grammatik. (b) Wenn sich durch eine Reform etwas am Wortschatz, den Wortbedeutungen oder der Grammatik geändert hat, war es keine (echte, reine) Rechtschreibreform. Im Sinne der Aussagenlogik sind (a) und (b) äquivalent. Es kommt also immer darauf an, zu prüfen, was sich wirklich geändert hat, denn erst daran läßt sich erkennen, worum es sich wirklich handelt. Zum anderen können diese Veränderungen (von Wortschatz, Wortbedeutungen und Grammatik) durchaus im Zuge einer Reform auftreten, die auf eine andere Rechtschreibung abzielt als Nebenwirkungen, wenn die Reform allgemeingültige sprachliche Prinzipien mißachtet. So ist es bei der 1996er Reform geschehen. (IV.) Was folgt daraus für die Kinder? Was soll man ihnen beibringen? Ich denke, daß ganz allgemein zumindest folgende zwei Prinzipien relevant sind: Zum einen muß für alle das gleiche Wissen den Ausgangspunkt bilden, das Wissen, das in der Erwachsenenwelt als gültig anerkannt ist und welches das maximal Erreichbare in dem jeweiligen Fach darstellt. Zum anderen muß bei jedem Kind individuell geschaut werden, wie weit es in seiner Entwicklung ist und was es als nächstes lernen muß und kann (und danach muß noch überlegt werden, was die sinnvollste Art und Weise ist, es dem Kind beizubringen). Diese beiden Punkte sind zwar hochgradig idealisiert, machen aber einen fundamentalen Unterschied klar: Der Grundstock an Wissen und Weisheit, an den die Kinder herangeführt werden sollen, ist in seinem vollen Umfang nicht identisch mit dem, was die Kinder jeweils quasi als nächsten Happen gefüttert bekommen, und er ist auch nicht identisch mit dem, was die Kinder als Summe aller dieser von außen gefütterten Häppchen während ihrer Schulzeit zu sich nehmen. Oder anders ausgedrückt: Es gibt kein Fach, in dem man in der Schule das maximal darin erlangbare Wissen erlernt bzw. die gesamte darin enthaltene Weisheit aufnimmt das ist ein Prozeß, der das ganze Leben in Anspruch nehmen kann, und verschiedene Menschen kommen darin unterschiedlich weit. Was bedeutet das konkret für die Rechtschreibung? Wenn man über die Rechtschreibung spricht, muß man sich im klaren darüber sein, um welchen der beiden Punkte Wissensvorrat oder Schulausbildung es jeweils gerade geht. In meinen Augen erhebt die reformierte Rechtschreibung nicht nur den Anspruch, für die Schulausbildung dazusein, sondern auch, Einfluß auf den kompletten Grundstock dafür zu nehmen. Was ich kritisiere, ist genau letzteres: Mir geht es darum, daß es nicht angehen kann, daß die Regeln, von denen Frau Menges schrieb: »Wir sind uns alle einig, dass es ein wahrhaft fehlerhaftes Rechtschreibwerk ist. Man kann sich auf nichts verlassen.« Teil des entsprechenden Wissensvorrates werden sollen! Auf dieser Ebene will ich über die Rechtschreibung diskutieren. Es soll um den ersten Schritt gehen, der die Grundlage schafft. Der zweite Schritt ist, was in der Schule daraus gemacht wird. Es kann aber nicht die Schulausbildung der Maßstab für die Wissensgrundlage sein, denn dann hat man den zweiten Schritt vor dem ersten machen wollen und das muß schiefgehen! Es ist das Recht der Kinder, eine der sprachlichen Kommunikation gemäße Rechtschreibung zu erlernen, und es ist die Pflicht der Erwachsenen, sie ihnen beizubringen und nicht, sie ihnen vorzuenthalten.
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Jan-Martin Wagner
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