Worum geht es jetzt eigentlich?
Wir sehen verhärtete Fronten in der Rechtschreibreformdebatte zwischen Gut und Böse; und, als Vermittlung irgendwo dazwischen, ein „guser“ Kompromiß. All das spielt sich auf der Oberfläche ab, mit Blitzlicht und lächelnden Politikern, und sogar einer Tagesschaukommentatorin, die mühelos den Sprung von dümmlich zu dumm schafft. Herr, erbarme Dich ...
Das Problem liegt tiefer.
Die Rechtschreibung ist ein äußerlich sichtbares Zeichen, ein Banner. Früher war es das Banner der Bildung; wer es hochhielt, konnte bei den Beobachtern zumindest den Eindruck erwecken, er gehöre zu der Gruppe, für die das Banner steht. Natürlich gab es einige Fahnenschwenker, die sich in diese Gruppe eingeschlichen hatten: Außer Bannertragen nichts dahinter. Aber das hat man schnell gemerkt.
Nun ist es ein durchaus ehrenwertes Anliegen, daß jeder die Möglichkeit bekommen sollte, das Bildungs-Banner zu tragen. Leider hat sich herausgestellt, daß das Banner für manche zu schwer ist, vor allem dann, wenn der solide Untergrund fehlt. Sei's drum, könnte man pragmatisch feststellen, das Banner ist ja nur ein Zeichen, und das, wofür es steht, ist viel wichtiger. Aber eine andere Bewegung gewann Oberhand: Leichtere Fähnchen für alle („Winkelemente“, für die entsprechenden Mitglieder der Zwischenstaatlichen Kommission).
Wir haben keine Rechtschreibreformkrise. Wir haben eine Bildungsmisere. Nicht die falschen Banner werden geschwungen, sondern die meisten wissen nicht mehr, wofür sie ihr Banner schwenken.
Bildung besteht aus einer breiten Wissensbasis, die auf eine aktuelle Situation angewendet werden kann; die Kommunikation ist das Mittel, sich das Wissen anzueignen und dessen Anwendungsmöglichkeit fortzuentwickeln. Die Kommunikation beruht dabei auf Sprache, in geschriebener und gesprochener Form. Eine exakte Sprache, auch und vor allem in geschriebener Form, ist also Voraussetzung. Exakt heißt: Schreiber und Leser erreichen einen größtmöglichen Konsens bei effizienter und effektiver Aufnahme des Inhalts.
Hier sind wir bei der Rechtschreibung.
Solange die Rechtschreibung das Mittel zum Bildungszweck war, benötigte sie keine Bannerträger. Sie hat sich, dem Zweck entsprechend, laufend angepaßt und war ein erprobtes Mittel. Vielleicht haben viele, die sich auf den Zweck konzentrierten, einfach zu spät bemerkt, daß – ohne Bezug dazu – ein neues Fähnchen gehißt wurde.
Erst mit der Wahrnehmung dieses Fähnchens kam es zur Irritation. Erfüllte es wirklich die Ansprüche, die das Bildungsgebäude stellt, um darauf zu wehen? Aber die Diskussion befaßte sich daraufhin nur mit dem Preis des Wimpels und mit der Leichtigkeit, die es selbst Kindern aus „bildungsfernen Schichten“ ermöglichen sollte, damit zu winken.
Wir wissen aber, nicht zuletzt durch PISA und OECD-Studie, daß das Problem innerhalb des Bildungsgebäudes liegt, vor allem an dessen Eingang – nicht am Banner auf dem Dach.
Wie geht es weiter?
Menschen, die sich nicht bevormunden lassen wollen, die auf präzise Sprache angewiesen sind oder sie nur einfach lieben, werden Reform Reform sein lassen. Sie verwenden weiterhin die Orthographie, mit der sie sich in gewohnt hoher Qualität verständigen können, und wählen beim Kauf von Büchern und beim Bezug von Zeitungen und Zeitschriften entsprechend aus. Zwei Drittel neigen dieser Gruppe zu.
Sie werden sich von jenen zehn Prozent abgrenzen, die lauthals jede Reform als scheinbares Zeichen von Fortschrittlichkeit begrüßen. Lauthals – einfach deshalb, weil tragfähige Gründe für die Reform fehlen, abgesehen von persönlichen Vorteilsnahmen, die kaum als Argumente öffentlich angeführt werden können. Es ist ein beredtes Zeichen, daß nunmehr nicht über die vermuteten Vorteile der Reform diskutiert wird (die allesamt widerlegt wurden), sondern ausschließlich über die angebliche Unmöglichkeit der Rücknahme der Reform.
Die große Mehrheit wird irgendwelche Buchstaben aneinanderreihen, in der Hoffnung, das Geschriebene werde der Leser schon entziffern können. Für die meisten Alltagstexte mag das ja durchaus genügen. Diejenigen, denen Orthographie gleichgültig ist – wohlgemerkt, eine durchaus vertretbare Meinung – können bei der weiteren Betrachtung ignoriert werden. Die Diskussion um die Rechtschreibung ist nicht ihr Thema, und ihre Meinung hierzu ist irrelevant. Das mag hart klingen, aber wem die Schreibweise egal ist, dem soll sie wirklich egal sein. Wer mitdiskutieren will, muß Stellung beziehen.
Die Reformschreibung, die Kinder in der Schule lernen, ist an diesen niedrigen Qualitätsanspruch angepaßt. Alles, was darüber hinausgeht, ist nun Sache der Eltern und engagierter Lehrer, die ihre Einsicht im regulären Unterricht weisungsgemäß unterdrücken müssen. Nun, die Schule leistet ohnehin und bestenfalls einen Beitrag zur Bildung – da kommt es auf das bißchen zusätzliche Philologie, die nun zu Hause vermittelt werden muß, nicht mehr an. Nur: Es war wohl nicht geplant, die Bildung der Kinder noch enger an das Bildungsniveau der Eltern zu koppeln.
Und dann gibt es noch die, die glauben, sich anpassen zu müssen – um mit der Herde zu laufen, in vorauseilendem Gehorsam oder um vermutlich Wohlgefallen zu ernten, indem sie ihr Fähnchen nach dem Wind hängen. Oft ist es auch einfach Unkenntnis der Zusammenhänge. Viele Menschen aus dieser Gruppe sind sehr erstaunt, wenn man auf die lapidare Tatsache hinweist, daß sich die Reformschreibung ausschließlich auf Schulen und – teilweise – Verwaltungen bezieht, mitnichten auch nur annähernd Gesetzesrang hat und Vokabeln wie „Verbindlichkeit“, „endgültige Einführung“ oder „Beschluß der Kultusminister“ in diesem Zusammenhang schlicht falsch sind, aber oft in propagandistischer Weise mißbraucht werden.
Selbst das Bundesverfassungsgericht stellt fest, daß es jedem freigestellt ist, in der bewährten Rechtschreibung zu schreiben. Und zu diesem Zeitpunkt glaubte es sogar – reichlich naiv – noch, die Neuschreibung würde sich bis 2005 allgemein verbreiten.
Hier sehe ich ein weites Feld für notwendige Aufklärung:
1. Die heute allgemein gültige Rechtschreibung ist nach wie vor die, die bis 1996 für alle galt („Duden 20. Auflage“).
2. Die Reformschreibung ist eine Vorgabe der Verwaltung für Schüler und Lehrer innerhalb der Schule.
3. Die angeblichen Vorteile der Reform beziehen sich nicht auf sprachwissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auf die vorgebliche Erleichterung des Lernens und Lehrens. Dieses Argument ist empirisch und linguistisch widerlegt.
4. Die Reformschreibung ist nicht fortschrittlich, sondern exhumiert gescheiterte Veränderungsversuche von 1879 bis 1944.
5. Wer auf qualitativ hochwertige schriftliche Äußerung Wert legt, wird und kann sich der bewährten Rechtschreibung bedienen. Die Aufgabe, diese Kindern zu vermitteln, scheint nunmehr von der Schule auf die Eltern überzugehen.
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Klaus Eicheler
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