NZZ Neue Zürcher Zeitung
21. August 2004, 02:13, Neue Zürcher Zeitung
Welche Rechtschreibung soll gelten?
Ein Bildungsdirektor und ein Gymnasiallehrer im Streitgespräch
Nach Jahren scheinbarer Lethargie in Sachen Rechtschreibreform ist der Disput um Sinn und Leistung der Anpassungen wieder heftig entbrannt, nachdem grosse deutsche Verlage die Neuerungen nicht hatten umsetzen wollen. Wir haben den Aargauer Bildungsdirektor Rainer Huber und den St. Galler Theologen und Gymnasiallehrer Stefan Stirnemann, der auch Mitglied der Forschungsgruppe Deutsche Sprache ist, zum Streitgespräch eingeladen. Als «Dompteur» wirkte Inlandredaktor Walter Hagenbüchle.
In einem Jahr sollte eigentlich die reformierte Rechtschreibung in Amts- und Schulstuben definitiv in Kraft treten. Mitten im Sommerloch mehrten sich nun aber in Deutschland die Anzeichen, dass dieser Fahrplan möglicherweise Makulatur wird. Hat Sie der neue Ungehorsam überrascht?
Stirnemann: Überhaupt nicht, denn es ist Zeit für diesen Streit. Zudem möchte ich festhalten, dass gar nicht die ursprünglichen Reformvorschläge umgesetzt würden, sondern eine in wesentlichen Punkten stark geänderte Regelung, da eingesehen wurde, dass die Reform in wesentlichen Bereichen fehlerhaft war und deshalb von der Öffentlichkeit gar nicht angenommen wurde. Das macht die Lage für die Schule so schwierig.
Huber: Ein Sommerloch wird immer medial aufgefüllt, deshalb überrascht mich der Zeitpunkt nicht. Irritiert bin ich über die Vehemenz des Widerstandes und den Umgangston. Die Reform wurde in einer zwischenstaatlichen Vereinbarung im Juli 1996 beschlossen, und es wurde dafür eine grosszügige Übergangsfrist bis 2005 eingeräumt. Dass dies alles nun quasi fünf vor zwölf wieder in Frage gestellt werden soll, ist enttäuschend.
In Frage stellen darf man aber Sprachnormen schon, denn die Sprache gehört dem Volk?
Huber: Das ist richtig, und der Sprachgebrauch wird sich ja auch weiterentwickeln. Eine Rechtschreibreform regiert aber ja auch nicht unsere Sprachgewohnheiten, sondern lediglich die schriftliche Verkehrsform. Die Querelen um die Reform deuten auch auf einen Generationenkonflikt hin: Sechs Schülerjahrgänge haben nun die neuen Regeln gelernt und wären sehr überrascht, wenn sie bereits wieder umlernen müssten, nur weil die Reformgegner es verpasst haben, früher zu reagieren.
Dass die Reform im Alltag nicht akzeptiert wurde, wie Herr Stirnemann sagt, ist falsch?
Huber: Ja, denn an den Schulen und in den Verwaltungen ist die Reform sehr wohl auf Akzeptanz gestossen.
Stirnemann: Und was sagen Sie dazu, dass die Lehrer vieles als falsch anstreichen müssen, was in der NZZ oder in anderen Zeitungen als richtig gilt? Das geht juristisch nicht.
Huber: Es wird immer verschiedene Schreibweisen geben, die richtig sind. Die Schule hat damit keine Schwierigkeiten. Wenn aber alle grossen Zeitungen und Nachrichtenagenturen auf die alte Rechtschreibung umstellen würden, wären die Gegensätze zu gross. Die Erziehungsdirektorenkonferenz hat nie die Absicht gehabt, irgendeine Regelung festzulegen, die ausserhalb des täglichen Sprachgebrauches ist. Die Reformdiskussion darf aber nicht auf dem Buckel der jungen Generation ausgetragen werden.
Finden Sie denn, die Reform sei inhaltlich und sprachwissenschaftlich gelungen, wenn so viele Verlage davon abweichen?
Huber: Die Schweiz hat ja einen moderaten Weg gewählt. Selbstverständlich lässt sich über manches streiten, und wir sollen auch die Weiterentwicklung nicht verhindern. Aber wir sind von Staates wegen verpflichtet, für Schule und Verwaltung verbindliche Vorgaben zu machen. Zudem ist es jetzt zu spät, zur alten Rechtschreibung zurückzukehren.
Ein Marschhalt ist also tabu?
Huber: Ich kann mir allenfalls vorstellen, dass man, wenn in den nächsten Monaten keine Einigung erfolgt, die Übergangsfrist verlängern muss. Aber das Rad zurückzudrehen und beispielsweise unsere Schüler wieder mit vielen Ausnahmen zu belasten das ist ja ein Merkmal der alten Regelung , ist falsch. Die Erziehungsdirektorenkonferenz unternimmt grosse Anstrengungen, dass der Gebrauch der Standardsprache verbessert wird. Bei einer Rückkehr würde die Verunsicherung total, es drohte sprachlicher Wildwuchs. Sie können die Entwicklung der Sprache nicht stoppen.
Stirnemann: Klarheit und Verbindlichkeit hat es bis 1996 gegeben, mit der Reform aber sind sie weg. Das liegt daran, dass in den Kernbereichen die Reform missglückt ist. Ich habe hier ein ganz neues Wörterbuch für die zweite Primarklasse, das aber von 1994 stammt. Offenbar kann man damit unterrichten. Warum? Weil von 2000 Einträgen nur gerade 8 von der neuen Rechtschreibung betroffen sind. Eingreifend wird die Reform erst in oberen Klassen, wo es um Satzbau, Interpunktion und Wortbildung geht. Genau da stecken schwere Fehler. Deswegen musste man dauernd ändern. Das Chaos an Schulen entsteht nicht mit der Umkehr, sondern wenn man diese verhindert.
Huber: Es hat nie eine einzig richtige deutsche Rechtschreibung gegeben, das war ein dauernder Anpassungsprozess. Ich möchte daran erinnern, dass der Bundesrat erstmals 1902 die Duden- Rechtschreibung als verbindlich für unsere Schulen und für die Verwaltung festgelegt hat.
Stirnemann: Konrad Duden hat nicht eine neue Rechtschreibung festgelegt, sondern im Wesentlichen die gebräuchliche bestätigt. Dann ist schleichend die Dudenredaktion allein zuständig geworden für die Rechtschreibung. Sie hat aber immer nur nachgezeichnet, was sich weiterentwickelt hat. Das hat bis 1996 gut geklappt, dann kam der grosse Bruch. Man hat von aussen ganz neue Regeln an die Sprache herangetragen.
War also diese Einmischung des Staates der eigentliche Sündenfall?
Stirnemann: Unbedingt, er hätte besser die Finger davon gelassen. Deshalb wird es jetzt auch so schwierig, diesen Fehler wieder zu korrigieren.
Huber: Sprache kann nicht verordnet werden, sie gehört weder dem Staat noch den Experten. Dennoch ist es notwendig, dass die festgelegten Regeln von Zeit zu Zeit angepasst und auch vereinfacht werden. Mit der Rechtschreibereform hat man sich im deutschsprachigen Sprachraum zu gemeinsamen neuen Normen durchgerungen. Dass ein solcher Ansatz natürlich auch mit Fehlern behaftet ist, stellt niemand in Frage. Es muss auch eine Entwicklung nach der Reform geben, mit weiteren Anpassungen. Es wäre aber falsch zu behaupten, es hätte früher einmal eine «richtige» deutsche Rechtschreibung gegeben. Für neu Lernende der deutschen Sprache hat die jetzige Regelung eine klar einfachere und systematischere Norm gebracht, gerade auch für die anderssprachigen Schülerinnen und Schüler.
Stirnemann: Es gibt keine taugliche Studie, die beweist, dass die Fehlerzahl seit 1996 abgenommen hat. Wenn Sie sagen, es sei eine Vereinfachung, dann nenne ich die neuen Kommaregeln. Da heisst es in neuen Lehrbüchern, bestimmte Kommas könne man meist weglassen. Genau dann aber werden die Texte sehr viel schwerer verständlich, weniger eindeutig. In der Schule wird also unterrichtet, was die Texterfassung erschwert. Das darf doch nicht sein. Warum denn hat gerade die NZZ die Kommaregelung nicht übernommen? Weil Kommas Lesehilfen sind. Diese Hilfe wird den Schülern vorenthalten.
Finden Sie, Orthographie sei bezogen auf die Sprachkompetenz eine entscheidende Grösse?
Stirnemann: Ja, denn die neuen Regeln im Kernbereich des Zusammen- und Getrenntschreibens, des Gross- und Kleinschreibens führen die Schüler teilweise zu falschem und altem Deutsch, womit die Sprachentwicklung zurückgedreht wird. Das müssen wir korrigieren, und dazu braucht es neue und unabhängige Sprachwissenschafter.
Aberkennen Sie denn den bisherigen Akteuren ihre Fachkompetenz?
Stirnemann: In den Kernbereichen haben sie meines Erachtens wissenschaftlich versagt.
Wie soll es nun weitergehen?
Stirnemann: Auch die Schulbehörden müssen Deutschland gegenüber fordern, dass wieder geordnete Verhältnisse eintreten. Es darf nicht sein, dass an Schulen eine Rechtschreibung unterrichtet wird, die im Alltag nicht angewendet wird.
Sie sammeln für dieses Anliegen Unterschriften?
Stirnemann: Ich beginne damit in diesen Tagen. Bereits habe ich aber Unterschriften von Fachschaften Deutsch, die die Entwicklung mit Sorge verfolgen. Die Unterschriften werden der Erziehungsdirektorenkonferenz vorgelegt mit der Bitte, die Regeln nicht verbindlich werden zu lassen und das Regelwerk von unabhängigen Experten überprüfen zu lassen. Es steht die Glaubwürdigkeit von Schule und Politik auf dem Spiel.
Was sagt Ihr Bildungsdirektor, der ja auch EDK-Präsident ist, zu Ihren Aktivitäten?
Stirnemann: Herr Stöckling hat im Gespräch mit den «Schweizer Monatsheften» festgehalten, dass die Politik nicht über richtig und falsch entscheiden soll. Sie soll nur entscheiden, welches Lehrbuch, welches Wörterbuch, das mit der Sprachwirklichkeit übereinstimmt, für die Schule ausgewählt werden soll. Das ist genau der richtige Weg, er deckt sich mit meinem.
Huber: Im Aargau, Herr Stirnemann, finden Sie ganze Schulen, die ihren Aufruf aus Überzeugung nicht unterzeichnen würden. Sie sagen klar, dass sie keine Rückkehr wollen. Und als politischer Vorgesetzter, nicht als Sprachfachmann, teile ich diese Meinung ebenso wie die gesamte EDK und der Lehrerdachverband. Wenn aber die grossen Verlage oder gar ganz Deutschland wieder zurückbuchstabiert bei der Reform, dann darf die Schweiz keine Rechtschreibe-Insel bleiben. Dann müssen wir auf Expertenebene die Diskussion weiterführen.
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