Die Rechtschreibung ist keine "heilige Kuh"
(eine Kurzbetrachtung über Tabubrecher und Denkmalmalbauer)
Generationen von Deutschen pflegten die Rechtschreibung. Sie verwendeten viel Übungszeit in das Erlernen festgelegter Wortbilder und strebten nach Fehlervermeidung. Dabei setzten insbesondere frühere Generationen die Rechtschreibung in aller erster Linie mit Intelligenz gleich.
Selbst einfache Leute schauten aus diesem Grunde auf jene herunter, die durch besonders krasse Normverletzungen im Rechtschreibbereich auffielen; zudem waren soziales Prestige oder gar Karriere ausschließlich mit guten Kenntnissen der Rechtschreibung zu erreichen.
Religion, Rechnen und Schreiben hießen die traditionellen Schulfächer, und die
Rechtschreibung selbst hatte den Stellenwert einer „heiligen Kuh“.
Gruppennormen und gesellschaftliche Zwänge sorgten zwar dafür, daß innerhalb der gesamten Bevölkerung ein hohes Niveau an Rechtschreibkenntnissen vorhanden war, verhinderten aber gleichermaßen, daß man sich an dieser „Kuh“ vergriff.
Obiger Vorspann will verdeutlichen, daß sich die Kritik an der deutschen Rechtschreibung keineswegs an der Sache selbst entzündete, sondern daß die Kritik an der deutschen Rechtschreibung von allem Anfang an gesellschaftliche Ursachen hatte und den deutschen Rechtschreibfetischismus auf die Hörner nahm. Nicht das System selbst – es war ja ausgereift, begrifflich, begreif- und lernbar – stand zur Debatte, sondern statt dessen war die gesellschaftliche Gepflogenheit mit all den unfeinen Auswirkungen von Karriereverhinderung, persönlicher Beschämung (bis hin zu körperlicher Züchtigung) den Reformern ein Dorn im Auge.
Das ist so gut wie bewiesen, denn die Rechtschreibreformbetreiber schreiben ihre Motive gerne auf ihre Fahnen. So bezeichneten die 68er die Rechtschreibung als „Rohrstockersatz“, und der ehemalige Reformkommissionsvorsitzende Augst feierte bei der Unterzeichnung der Wiener Absichtserklärung in höchster Seligkeit den Tatbestand, „daß die deutsche Rechtschreibung nun endlich nicht mehr sakrosankt war.“
Die Sache selbst war für die Rechtschreibbetreiber nebensächlich. Das beweisen die zahlreichen Beliebigkeiten der neuen Regeln und Wörter. Das hiesige Forum ist voller Einzelbeispiele und begründeter Ablehnungen (weshalb hier nicht näher auf Fehlformen eingegangen wird).
Es genügt vielmehr, den gröbsten aller Fehler der Reformbetreiber aufzuzeigen, der darin besteht, daß diese Ideologen das Wesen und die Notwendigkeit von Regeln und Normen nicht verstanden haben.
Reformer und radikale Systemveränderer können und konnten nämlich noch nie unterscheiden zwischen Regelakzeptanz und Regelzwang sowie zwischen sinnvollen und erstickenden Regeln.
Magisch fühlen sich Revolutionäre nämlich seit jeher dem Neuen verbunden.
Manisch zerstören sie das Alte.
Ein Beispiel:
Die Reformbetreiber lassen (selbst in der vierten Revision ihres sachlich äußerst brüchigen Konzeptes) alte Schreibungen w. z. B. das grammatisch sinnvolle „leid tun“ nicht mehr zu, sondern ersetzen es durch „Leid tun“ bzw. „leidtun“.
Das heißt: Die Reformer zeichnen sich nicht etwa aus durch ihre gepredigte Liberalität und die Gewährung alternativer Freiheiten, sondern sie offenbaren in erschreckender Borniertheit und Rigorosität, daß sie die alten Gewohnheiten und einstigen Herrscher abgeschüttelt haben.
Deshalb ist zu vermuten, daß von ihnen eine größere Schreckens- und Willkürherrschaft ausgeht, denn sie regieren nicht nur gegen die Mehrheit des Volkes, sie regieren auch gegen besseres Wissen und gegen jegliche Einsicht.
Was aber wird mit der Rechtschreibung?
Wird sie jemals auch nur annähernd wieder jenen Stellenwert erreichen, den sie früher hatte?
Vermutlich niemals,
denn allerorten hört man doch: „Es gibt Wichtigeres“. „Die Kinder haben keine Probleme mit der neuen Rechtschreibung“. „Wir können nicht mehr zurück!“
Sind Politik und Gesellschaft einverstanden mit der Systemveränderung?
Es gibt hingegen auch noch andere gesellschaftliche Kräfte,
denn es existieren immer noch einige Handwerksbetriebe und Wirtschaftsunternehmen, welche die Einstellung von Auszubildenden von deren Grundkenntnissen und Leistungsnachweisen abhängig machen.
Man weiß letztlich nicht, welche gesellschaftlichen Kräfte obsiegen werden.
Zum Schluß erlaube ich mir eine Bemerkung als einstiger Pädagoge, der in Grund- und Hauptschule tätig war. Mir sind im Laufe meiner Ausbildung die Begriffe „Sekundärmotivation“ und „Primärmotivation“ in Fleisch und Blut übergegangen.
Die beiden Motivationsbegriffe will ich zunächst erklären:
In allgemeinbildenden Schulen ist es anfänglich meist so, daß lernende Kinder „zweitrangig“ (sekundär) motiviert sind. Sie lernen bestimmter Personen wegen – um den Eltern, dem Lehrer, dem Freund ... zu imponieren.
Häufig gesellt sich später eine „hauptrangige“ (primäre), sozusagen eine sachimmanente Motivation dazu. Kinder lernen dann, weil sie Feuer gefangen haben für irgend etwas (Dinge, Zusammenhänge, Prinzipien, Rechtsangelegenheiten ...).
Und genau das letztgenannte Lernen, das Lernen aus der sog. intrinsischen Motivation heraus, gilt schließlich als das Lernen, dem die Leistungen, Erfindungen, Verbesserungen und die verantwortungsvollen Taten entspringen.
Deshalb meine ich, daß wir die Rechtschreibung als etwas Eigenständiges betrachten müssen, daß wir ihren Sinn, ihre Funktion und ihre Leistung einsichtig machen sollten, damit sich die Kinder in die Sache selbst verlieben können.
Ich meine auch, daß wir verpflichtet sind dazu: all diejenigen, die uns mit sachfremden Argumenten zu vernebeln suchen, dorthin zu jagen, wo sie hingehören. Zum Teufel!!
Das Geschriebene, das Überlieferte, das Vorgedachte sowie das größtenteils Ausgereifte sind und waren doch seit jeher die wesentlichsten Teile zwischenmenschlicher Tradition und Weiterentwicklung. Das wird und muß auch so bleiben.
Generationenüberdauernde, allgemeinverständliche Schreibweisen sollte man hüten wie einen heiligen Tempel.
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