Welt
Mittwoch, 11. August 2004 Berlin, 20:29 Uhr
Politik DeutschlandMehrheit der Deutschen will Rechtschreibreform kippenvon Klaus-Peter Schöppner
Berlin - Das Chaos in Sachen Rechtschreibreform ist perfekt. Die Deutschen schreiben, wie sie wollen: 32 Prozent schreiben derzeit nach Gefühl, mischen dabei also die alten und neuen Regeln. 52 Prozent bringen ihre Worte nach den alten, nur 15 Prozent, vornehmlich die Jüngeren, nach den neuen Regeln zu Papier. Die Folge: Eltern schreiben anders als ihre Kinder, Zeitungen je nach der Entscheidung ihres Verlages. Überall sieht man Gleiches anders. So dass ein nicht gelebter Schulunterricht automatisch zum orthografischen Chaos führen muss. Wer vor der Reform sicher schreiben konnte, macht heute Fehler. Es ist nicht gut, wenn unterschiedlich geschrieben wird.
Die Deutschen trauen ihrem Schreibgefühl nicht mehr. Also spaltet die Rechtschreibreform die Nation wie kaum etwas zuvor. Schreiben nach den Reformvorgaben? Oder ganz einfach ignorieren? 65 Prozent geht es so wie Angela Merkel, die es so ihr böser Verdacht in diesem Leben nicht mehr schaffen wird, die neuen Regeln voll zu beherrschen.
Die deutsche Rechtschreibung ist verfahren ohnegleichen. Erst recht, nachdem Verlage wie Axel Springer und der Spiegel angekündigt haben, zu den alten Regeln zurückzukehren. Ihr demoskopisch nachweisbares Argument: Fünf Jahre Probephase haben zu einer Vermischung von Alt und Neu geführt: Jeder macht, was er meint. Keiner, was er soll. Im September wollen die Ministerpräsidenten über die endgültige Version beraten. Falls es nach dem klaren Urteil der Deutschen überhaupt noch etwas zu beraten gibt: Denn nur 28 Prozent sprechen sich dafür aus, die neuen Regeln wie geplant 2005 in Kraft zu setzen. 70 Prozent sind dagegen. Nach den bisherigen Erfahrungen halten nur 18 Prozent die Einführung der vermeintlich einfacheren Schreibe für notwendig. 81 Prozent dagegen für nicht notwendig.
Die neue Rechtschreibung ist nicht konsensfähig, weil sich die Übereinkunft, wie man spricht und wie man schreibt, von allein ergeben muss. Die Schreibe muss dem Schreib- und Sprachgefühl entsprechen. Sie darf, so das Gefühl der Deutschen, nicht von oben verordnet, sie muss von unten gelebt werden.
Eine gute und allgemein akzeptierte Rechtschreibung ist auch kulturelles Kapital. Mehr als 100 Jahre lang verfügte Deutschland über eine nahezu vollständig einheitliche Rechtschreibung. Das scheint jetzt nicht mehr der Fall zu sein: 56 Prozent nämlich halten unser Kulturgut Sprache durch die neuen Regeln für gefährdet.
Was also ist zu tun, wenn eine Rechtschreibung, die offenbar auf Zwangsverordnung basiert, nicht durchsetzbar erscheint? Wäre es da ein Weg, verbindliche Regeln zu schaffen, die sich am Schreibgefühl der Deutschen orientieren? Auch darüber, wie es weitergehen soll, haben die Deutschen ein klares Meinungsbild: 66 Prozent wollen die neuen Regeln kippen, so dass nichts von der Reform in Kraft tritt. Nur zwei Prozent der Deutschen wollen starr an der Reform festhalten. Der vermeintliche Königsweg, eine abgeschwächte Form verbindlich einzuführen, ist für die Deutschen keiner: Weil dem nur 21 Prozent folgen würden.
Klaus-Peter Schöppner ist Chef des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid.
Artikel erschienen am Do, 12. August 2004
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