Hans-Jürgen Grosser Gymnasium Marianum, Warburg Privatanschrift: Eichenweg 10, 34414 Warburg Tel: 05641-50534 Fax: 05641-740322 E-mail: heinen-grosser@t-online.de | Warburg, den 26. Juli 2004 |
An den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen
Herrn Peer Steinbrück
Betrifft: Rechtschreibreform / Ministerpräsidentenkonferenz
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Steinbrück,
der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog erklärte einmal: „Ich habe mich nie mit der Rechtschreibreform befaßt. Ich befasse mich nur mit wichtigen Dingen.“ Und in Schanghai nannte er die Reform, aber auch die Aufregung darüber, „überflüssig wie einen Kropf“.
Ich wende mich an Sie, weil der Protest gegen dieses überflüssige Unternehmen nicht in gleicher Weise überflüssig ist, sondern notwendig.
Zweifellos hat Deutschland insgesamt und sein Bildungssystem im besonderen auch andere Sorgen. Aber es wäre gut, wenn es diese Sorge endlich los wäre. Den Widerstand gegen die mißlungene Reform betrachte ich als Teil des Kampfes für ein besseres Bildungssystem.
Ich wende mich an Sie als Deutschlehrer eines Gymnasiums, weil sich immer deutlicher abzeichnet und nicht mehr leugnen läßt, daß die amtliche deutsche Rechtschreibung nicht konsensfähig ist.
Wie Sie wissen, wollen deshalb fünf Ihrer Ministerpräsidentenkollegen (Wulff, Müller, Stoiber, Böhmer und Teufel) mit Ihnen zusammen einen Weg aus dieser Krise suchen und das Reformexperiment abbrechen.
Im Unterschied zu unserer Schulministerin Ute Schäfer bin ich der Auffassung, daß Ihr Kollege Christian Wulff recht hat mit seiner Feststellung, „daß das Chaos jetzt tobt und erst ein Ende findet, wenn diese Reform abgewendet ist“. („Münchner Merkur“ vom 23.07.2004)
Ich wende mich an Sie, da von der Kultusministerkonferenz im allgemeinen und von Frau Schäfer im besonderen kein Beitrag zur Lösung des Problems zu erwarten ist.
In einem Interview mit der „Neuen Westfälischen“ (22. Juli 2004, S. 3) offenbart die Schulministerin leider ein erschreckendes Maß an Unkenntnis, als habe sie die oben zitierte Äußerung von Roman Herzog allzu wörtlich genommen. Es tut mir leid, daß ich als Beamter des Landes NRW den Aussagen der Ministerin auf der ganzen Linie widersprechen muß:
Die Schulministerin behauptet, die neue Rechtschreibung sei „ab dem neuen Schuljahr ... verbindlich“. Das ist falsch, denn das sog. „amtliche Regelwerk“ soll erst am 1. August 2005 für Schulen und Behörden „verbindlich“ werden.
Die obengenannten Ministerpräsidenten haben aus diesem Grund ein Zeitfenster von einem Jahr, um die von nur 13% der Bevölkerung akzeptierte Reform abzuwenden.
Das Reformexperiment weist die folgenden strukturellen Grundfehler auf:
- Inbesitznahme der Sprache durch Beamte
- Ausschluß der Öffentlichkeit von der Reformdebatte
- mangelnde systematische Abschätzung der Änderungsfolgen
- überstürzte Einführung
- weitgehende Verweigerung der Rezeption der Regeln
- mangelhafte Einschätzung der Reichweite schulischer Entscheidungen (siehe: „Oberhalb der Schulwelt“ von Prof. Dr. Heiner Willenberg, FAZ v. 13.07.2004, S.36)
und muß deshalb beendet werden.
Die Archive unserer Zeitungen dokumentieren verläßlich, daß zahlreiche Reformkritiker frühzeitig auf die gravierenden Mängel des „amtlichen Regelwerks“ hingewiesen hatten, und zwar spätestens nach Erscheinen der ersten „reformierten“ Wörterbücher. Schon damals, also noch vor Beginn der Einführungsphase, hieß es, für eine Korrektur oder Rücknahme sei es „zu spät!“. Es gab schlechterdings keinen Zeitpunkt, an dem die Kritik nicht entweder „zu früh“ oder „zu spät“ kam. Aber wer zu spät kommt, sind eigentlich die Reformer, an deren Werk noch immer herumgebastelt wird. Am 28. August erscheint bereits der dritte Reformduden. Die Notwendigkeit seines Erscheinens bestätigt die prophetischen Worte des Potsdamer Sprachwissenschaftlers und Mitglieds der Mannheimer Rechtschreibreform-Reformkommission Peter Eisenberg:
„Das neue Regelwerk ist sprachwissenschaftlich so schlecht, daß wir auf seiner Basis nie zu einer gemeinsamen Schreibweise zurückkehren können... Und hier können Sie sehen, daß das Regelwerk sprachwissenschaftlich auf den Müll gehört.“
Und der damalige Außenminister Kinkel fand die treffenden Worte: „Die Rechtschreibreform ist ein Relikt des technokratischen Machbarkeitswahns der 70er Jahre.“
Ihre Schulministerin Ute Schäfer behauptet weiter, die neue Rechtschreibung werde seit sechs Jahren „praktiziert“. Dies ist eine seit Jahren schon andauernde Irreführung, denn die Kinder an den Grundschulen lernen lediglich die übliche Rechtschreibung unter Beimengung einiger „neuer“ ss-Schreibungen und einiger Grammatikfehler wie z.B. „du tust mir sehr Leid“. Die Hauptmängel der Reform, vor allem die unsinnigen Getrennt- und Großschreibungen, die zu einer im Juni beschlossenen Reform der Reform geführt haben, sind an den Grundschulen bedeutungslos. Deshalb ist es kein Wunder, sondern war zu erwarten, daß die Rechtschreibreform dort keinen Proteststurm ausgelöst hat.
Ihre Ministerin irrt außerdem, wenn sie einen „Staatsvertrag“ ins Feld führt. Richtig ist: Es gibt lediglich eine Absichtserklärung, die völkerrechtlich nicht verbindlich ist.
Besonders absurd ist Frau Schäfers Behauptung in dem NW-Gespräch, vor der Reform habe es, anders als in Frankreich, keine Rechtschreibregeln gegeben. Diese Behauptung kann nur von einem Bürokraten kommen. Denn natürlich gibt es auch Regeln, die sich entwickeln und die nicht verordnet werden müssen. Diese sind besser und nachhaltiger, weil sie gewachsen sind.
Im übrigen ist die ganze Rechtschreibreform auch deshalb überflüssig, weil die Schüler früher das richtige Schreiben im Laufe ihrer Schulzeit ganz allmählich von allein gelernt haben, beispielsweise durch häufiges und gründliches Lesen. Allerdings können Eltern und Lehrer die Bücher unserer privaten und öffentlichen Bibliotheken nur dann guten Gewissens zur Lektüre empfehlen, wenn sie nicht schlagartig durch die Inkraftsetzung der Reform vom 1. August 2005 an als fehlerhaft gelten. Die Umsetzung der „amtlichen“ Rechtschreibung würde auch einen immensen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten.
Aus diesem Grunde verbietet es sich auch, aus Alibigründen wenigstens die „neue“ ss-Schreibung beizubehalten. Sie wird von zahlreichen Schülern und Erwachsenen, die früher in der Rechtschreibung sicher waren, falsch angewandt. Überall, auch in den Presseerzeugnissen, finden sich Falschschreibungen wie Fuss, Gruss, Spass, aussen usw. In Schülerarbeiten muß ich häufig Fehler wie z.B. bissher, der Misst, lässtig oder desshalb usw. anstreichen. Die „neue“ ss-Schreibung, die übrigens aus dem Jahre 1777 stammt und 1904 in Österreich wegen ihrer Fehlerträchtigkeit abgeschafft wurde, ist zwar genauso logisch wie die „alte“ Schreibung, aber für Schüler nicht leichter geworden, weil sie nun lang- von kurzgesprochenen Vokalen unterscheiden müssen. Viele Schüler sprechen „Spaß“ kurz aus und schreiben deshalb „Spass“.
Unterstützung für den Vorstoß der Ministerpräsidenten kam aus allen politischen Lagern. Abgelehnt wurde er in erster Linie mit dem Argument, der anstehende „Rückbau“ (also Abriß) der Reformruine käme zu teuer. Dazu ist zu sagen: Bis auf wenige Ausnahmen in den Grundschulen können die bereits gedruckten Bücher weiter benutzt und im üblichen Turnus ausgetauscht werden.
Die Kostenfrage wurde von den Reformgegnern frühzeitig ins Gespräch gebracht, doch damals hieß es, die Reform werde „kostenneutral“ durchgeführt. Es wäre aber ein Treppenwitz der Bildungsgeschichte, wenn jetzt ausgerechnet die Kostenfrage die Rückkehr zu sprachlicher Sicherheit verhindern würde.
Herr Ministerpräsident, machen Sie bitte Ihren Einfluß als Ministerpräsident des größten Bundeslandes geltend, eine „Reform“ abzuwenden, die diesen Namen nicht verdient und nur aufgrund eines Etikettenschwindels nicht früher beendet werden konnte.
Handeln Sie nach dem alten Indianerspruch: Wenn du merkst, dein Gaul ist tot, so steig ab!
Lieber ein Ende mit Schrecken (für einige wenige), als ein Schrecken ohne Ende für den großen Rest des Volkes!
Mit freundlichen Grüßen
Hans-Jürgen Grosser