Gehörlose diskriminiert?
Da die amtliche Regelung die Schreibung der Wörter auf phonetischer Basis definiert, ist eine Bevölkerungsgruppe völlig davon ausgeschlossen: Gehörlose.
Zwar gibt es nur wenige Menschen, die überhapt nichts hören, aber es gibt sie. Was sollen solche Menschen mit dem Hinweis auf die Betonung in Paragraph 36 anfangen?
Für Gehörlose ist das Erlernen der Sprache durchaus ein Problem. Wie die Neurobiologie aber längst nachgewiesen hat, werden beim Erlernen der Gebärdensprache und in der Folge beim Erwerb der Lese- und Schreibfähigkeit die gleichen Regionen der Gehirnrinde aktiviert, wie dies auch bei Menschen mit Gehör der Fall ist. Die Analogie geht so weit, daß bei Verletzungen des Gehirns im System der Gebärdensprache Defekte auftreten, wie sie gleichermaßen im Sprachvermögen eines Hörenden auftreten. Gehörlose erwerben Sprachfähigkeit also nach sehr ähnlichen Mustern wie Hörende, nur der Erwerb ist anfangs schwieriger.
Rechtschreibung ist für völlig Gehörlose kein Problem. Sie erlernen sie aber nicht aufgrund der Phonetik. Wortfamilien, Flexionen, Wortartableitung etc. werden nicht nach akustischen Grundsätzen behandelt. Aber Musterverarbeitung des Gehirns ist ohnedies nicht auf Phonetik angewiesen. Ich vermute, daß auch bei Menschen mit Gehör ein überraschend hoher Anteil der intuitiven Regeln, die man zur Erzeugung der Schrift benutzt, nichts mit Akustik bzw. den auditiven Regionen des Kortex zu tun hat.
Es gibt Menschen, die nicht völlig gehörlos sind, sondern nur schwerhörig. Bei ihnen treten je nach Grad und Art des Defekts unterschiedliche Fehler auf, die mit gewissen Schemata verwandt sind, die man von Legasthenikern kennt. Aber das ist nicht der entscheidende Punkt, obwohl die Neurobiologie auch hier bereits Erkenntnisse hat, daß Gehördefekte zu systematischen Leistungseinbußen in der Sprachproduktion führen können.
Auf jeden Fall ist Spracherwerb nicht zwingend an Gehör gebunden. Und letztlich hilft einem Dialektsprecher die Aussprache ja auch nicht: Wer mit Mundart aufgewachsen ist, lernt mit der Schrift zugleich auch eine Hochsprache, die er selbst sprechend nie benutzt jeder echte Schwabe kennt das Problem.
Ich finde, man könnte die amtliche Regelung in den Paragraphen 1 bis 31 sowie 36 durchaus als politically incorrect bezeichnen.
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