Hat jemand die Leserbrief-Antworten hierauf?
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/280/54226/
3.6.2005, 17:02 Uhr
Rechtschreibreform
Im Länd der unpegrentzten Möglischkayten
Nach den jüngsten Windungen der Kultusministerkonferenz wird es eine verbindliche, gesellschaftlich durchgesetzte deutsche Rechtschreibung nicht mehr geben, und die Schule wird an ihrer Aufgabe scheitern, eine einheitliche Schriftsprache zu vermitteln.
Von Thomas Steinfeld
Der schönste Satz in der Verlautbarung zur deutschen Rechtschreibung, mit der die deutschen Kultusminister am gestrigen Freitag an die Öffentlichkeit gegangen sind, ist dieser: Der aktuelle Stand des Regelwerks und das Wörterverzeichnis ist im Internet zugänglich. Ganz abgesehen davon, dass ein grammatikalischer Fehler in ihm steckt -- das doppelte Subjekt müsste ein sind nach sich ziehen --, enthält er ein schlimmes Geständnis: Denn was ist hier mit aktuell gemeint?
Die deutsche Rechtschreibung, wie sie der Duden im vergangenen Jahr veröffentlichte, lange bevor die entsprechende amtliche Regelung zugänglich war? Die jüngste amtliche Regelung, wie sie den meisten Lehrern nie übermittelt wurde? Die jüngste Regelung unter Ausschluss der Bereiche der Rechtschreibung, darunter die Getrennt- und Zusammenschreibung, für die der Expertenausschuss im Rat für deutsche Rechtschreibung nun eine weitgehende Rückkehr zu den Zuständen vor der Reform empfiehlt? Die jüngste Regelung inklusive dieser Bereiche, aber mit Toleranzklausel?
Eine große Zahl von Möglichkeiten tut sich hier auf, und nur eines ist gewiss: Keine von ihnen wird die verbindliche, einheitliche Rechtschreibung wiederherstellen, wie es sie bis 1996 ganz selbstverständlich gegeben hatte. Sie ist verloren und wird verloren bleiben, bis sich, vielleicht in einer Generation oder in fünfzig Jahren, alle sinnwidrigen und ungrammatikalischen Regelungen abgeschliffen haben werden.
Was macht nun ein Lehrer, dieser bedauernswerte Mensch, wenn er nach dem 1. August eine Klassenarbeit auf sprachliche Richtigkeit hin korrigieren muss? Er wird nachschlagen müssen, nachschlagen und noch einmal nachschlagen, weil das, was die ihm anvertrauten Schüler jetzt noch lernen, nicht mehr dem entspricht, was im Duden von 2004 steht, der wesentlich mehr Varianten zulässt als alle anderen Veröffentlichungen der Reform. Er wird prüfen müssen, ob das, was in diesem Duden steht, mit dem konform geht, was der Rat für Rechtschreibung empfiehlt und was vermutlich bald verbindlich werden wird. Er wird Möglichkeiten über Möglichkeiten finden -- und das Verbindliche, was er finden wird, sind die Bereiche der Orthografie, die nur deshalb als unstrittig gelten dürfen, weil die Kultusminister den von ihnen selbst eingesetzten Rat für deutsche Rechtschreibung an der Arbeit hindern wollen. Unstrittig sollen etwa Groß- und Kleinschreibung, Laut-Buchstabenzuordnung sein. Aber sie sind es nur, weil der Rat noch keine Zeit hatte, sich mit ihnen zu beschäftigen.
Und so ist vor allem eines gewiss: Eine verbindliche, gesellschaftlich durchgesetzte deutsche Rechtschreibung gibt es nicht mehr, und die Schule wird an ihrer Aufgabe scheitern, eine einheitliche Schriftsprache zu vermitteln. Die besseren Schüler, oder genauer: viele Kinder der Gebildeten, wird das nicht darin hindern, sie trotzdem zu lernen. Denn wenn sie beginnen, literarische Werke zu lesen, werden ihnen viele Rechtschreibungen begegnen, die alten aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, die neuen und noch ein paar ganz andere, etwa die von Arno Schmidt oder Reinhard Jirgl. Die reformierte Rechtschreibung ist für sie eine Technik, die man beherrschen kann wie jede andere auch. Die Kinder aus weniger gebildeten und bücherarmen Haushalten aber werden von diesem Durcheinander um so härter getroffen werden -- denn auf sie fällt die reformierte Schreibung mit all ihren inneren Widersprüchen und Ungereimtheiten unvermittelt herab.
Und warum dieser Quatsch? Weil die Kultusminister es nicht ertragen können, dass sich die Rechtschreibung dem amtlich Dekret entzieht. Weil sie meinen, es mit ihrem Amt nicht vereinbaren zu können, wenn ein Gremium von Experten und Betroffenen, das sie selbst eingesetzt haben, ihnen widerspricht. Dabei wäre es doch so leicht gewesen. Man hätte den Ausschuss des Rates arbeiten lassen und den Termin für das Verbindlichwerden der Reform verschieben können. Und jeder hätte eine solche Entscheidung verstanden: Denn war der Rat für deutsche Rechtschreibung nicht von den Kultusministern dazu geschaffen worden, um sie zu beraten?
SZ v. 4./5.6.2005
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Detlef Lindenthal
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