Kieler Nachrichten v. 11.04.2007
Das Literaturrätsel gibt mir Rätsel auf. Ich tippe auf: Leon de Winter „De (ver)wording van de jongere Dürer von 1978, ein Erstlingsroman, der 1986 zunächst unter dem Titel „Die (ver)Bildung des jüngeren Dürer“, dann aber unter „Nur weg hier! Die Abenteuer eines neuen Taugenichts“ erschienen ist.
LITERATURRÄTSEL
Wer schrieb was?
„... doch sie fauchte: „All meine Mühe umsonst! und rief mir noch nach: „Was ich alles für dich getan habe, mein Junge! Herrgott, wenn du das wüss-test! Ich hatte ihr sagen wollen, dass sie eigentlich sehr zufrieden mit mir sein konnte, denn schließlich hatte ich ihre Wohltätigkeit überlebt, die Horde der Psychologen und all der anderen Leute, und das ist so ungefähr das Schwierigste, was man überleben kann. Aber dann sagte ich es doch nicht. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es noch einen Sinn machte.“
So recht weiß der junge Mann, der nichts mehr von den Holocaust-Geschichten seiner Eltern hören will, nicht, was er mit sich anfangen soll. Intelligent, ebenso tatkräftig wie ausgeflippt, taumelt er durch das, was nicht einmal er selbst ein Leben nennt. Das ist immer anderswo. Der jugendliche Taugenichts und Rebell ohne Ziel trägt in diesem Erstlingsroman des damals gerade 23-jährigen Autors den gleichen Namen wie dieser. Auch die Lebensläufe der beiden berühren sich. Doch der Autor hat sich mit Theaterstücken, journalistischen Arbeiten und einer ganzen Reihe von Romanen aus dem Sumpf, in dem er einst steckte, herausgezogen und ist mittlerweile einer der profiliertesten jüngeren Vertreter der niederländischen Literatur.
Die kryptische Andeutung des Autorennamens erschließt sich mir nicht, denn im Original heißt die Hauptfigur „Herman Dürer“. 1997 wird der Aufbau-Verlag noch die unreformierte Fassung verbreitet haben. Wann die nichtnutzige neue ss-Verferkelung vorgenommen wurde, konnte ich noch nicht herausfinden.
Einem verhilft dieser Kulturbanausenstreich sicher nicht: den Schülern.
Diese KN-Ausgabe enthält auf den ersten vier Seiten rd. 40 neue „ss“. Diesmal sind sogar 80 Prozent davon neue „dass“, die um nichts leichter zu treffen sind als die traditionellen „daß“, dafür aber noch leichter verwechselt werden.
Gerade berichtete die Schulbuchverlegerin Karin Pfeiffer-Stolz auf den Seiten der Forschungsgruppe Deutsche Sprache, von Briefen einer ganzen Schulklasse – unter Aufsicht des Deutschlehrers – an einen Schriftsteller, in denen es von dass/das-Fehlern wimmelte. Wie peinlich!
In der Zeitung werden auch Lesefallen sichtbar: „Hoeneß“, „Haßstraße“, „Anschlussstellen“ „Multifunktionss-canner“
Natürlich grassiert auch die (teilweise wieder verbotene) Trennschreiberei: so genannt, schwer fällt, zufrieden geben, sicher gehen, zwei Mal, zufrieden stellend, offen stehen, aneinander geschnittene Momentaufnahmen, … und mehr Banauserien wie vom rauen, derben Sound, nummerierte, -Jährige oder im Roman – sonst vergleichsweise vorsichtig in der Anwendung neuer Schreibungen – Heute Nacht werde ich die Sache hinter mich bringen … Olga fasste sich als Erste.
Wie unheilvoll das Wirken politischer und wirtschaftsnaher Kulturapparatschiks auch in anderen Bereichen ist, kann man an den Protesten von Künstlern gegen die Betriebsamkeit des Kienbaum-Instituts in Kiel sehen:
Nichts begriffen
Zu: Kienbaum geistert durch die Kultur
Wie in einem schlechten Film kam ich mir vor beim Lesen von Maren Kruses Text. Was Andere mit Heuschrecken und hedgefonds bezeichnen, können wir im Kulturbereich von nun an getrost „Kienbaum nennen….
Prof. Bernhard Schwichtenberg, Kiel
Als Kiels ehemaliger Kulturdezernent, Dr. Heinz Rethage, zu Zeiten seines Amtsantritts von dem einzigen Gedanken beseelt war, im Zuge der (selbst) angesagten Synergieeffekte Einsparungen vorzunehmen, da hatte er in seiner sich selbst attestierten kulturellen Ahnungslosigkeit für eine Weile die tolle Idee, alle städtischen Ausstellungshäuser und Galerien am besten doch in ein einziges Gebäude zu stecken. … Sehr bald hatte er dann selbst (immerhin nach Berücksichtigung fachlicher Argumente) von dieser absurden Idee Abstand genommen und wenig später auch Kiel von ihm. Auf eine ähnlich einsichtige Lösung zur rechten Zeit kann man vor dem Hintergrund der Kienbaum-Schildbürger-Überlegungen nur hoffen.
Ulrich Behl, Kiel
Da liegt liegt der Gedanke an die „Rechtschreibreform – ein Schildbürgerstreich“ nahe.
Auch in der Nachbarstadt Eckernförde erkennt man den Wert des historischen Stadtbildes und leidet an den Verstümmelungen, die aus Dummheit und Bequemlichkeit zugelassen wurden.
Schönheit und Sünde in der Kieler Straße
… Sieht man einmal vom zumeist geschäftlich genutzten Erdgeschoss ab, verfügt die Kieler Straße über einige architektonische Juwele. Dazu zählen eindeutig das Jacobsenhaus von 1898 im wilhelminischen Baustil an der Ecke zum Rathausmarkt, das ehemalige Kaufhaus Witt im reinsten Jugendstil (leider zum Rathausmarkt hin verschandelt) und das Behrendt-Haus Nr. 25, die frühere Stadtschule. Eine weitere Attraktion ist die „Ritterburg von 1537 mit ihren aufgesetzten geschwungenen Renaissancegiebeln (Nr. 48, heute „Ihr Platz), ehemals herrschaftlicher Adelssitz derer von Rantzau. Auch andere Häuser sind Dokumente ihrer Zeit und werden von ihren Eigentümern mit viel Mühe erhalten. …
Schräg gegenüber auf der anderen Seite steht ein Beispiel, wie eine Fassade nicht aussehen dürfte. Das Eckhaus Kieler Straße/Gänsemarkt ist neben der Nr.15 ein typisches Beispiel dafür, wie man in den siebziger Jahren Fassaden „zeitgemäß modernisierte. Modern hieß glattflächig und ohne Schnörkel. Deshalb verblendete man kunstvoll gestaltete Fassaden mit Kunststoffplatten auf Holzlattenkonstruktionen und ersparte sich damit aufwändige Reparaturen am Mauerwerk. Die Fassaden galten als praktisch und zeitlos, verloren damit aber jeglichen Charakter…
... wie die klassische Literatur in „neuer“ Rechtschreibung. Wann sich bei den Kultusministern wohl die Einsicht durchsetzen wird, daß die „Rechtschreibreform“ der neunziger Jahre eine ganz ähnliche Kulturbanauserei ist?
Noch aber leben und wirken sie, die Dichter, die man der umerzogenen Jugend entfremden will:
Vom Vers zur Schwalbe
Machen Spaß: Gedichte und Kurzprosa von Hans-Jürgen Heise
Von Rainer Paasch-Beeck
… Heise legt nun, nach dem Zyklopenauge der Vernunft (2005) und der großen Gedichtsammlung von 2002 erneut eine umfangreiche Sammlung von Texten vor.
…
Wer jedoch glaubt, dass die kurzen „Öko-Gedichte mit Titeln wie Maroder Fluß oder Nachgebessertes Biotop Zugeständnisse an den jüngsten Zeitgeist sind, sieht sich getäuscht: Die ersten Entwürfe stammen schon aus den 60er und 70er Jahren und gehören damit in eine Zeit, als Heise seinen Ruf als innovativer Poet begründete. Dazu gehört der weitgehende Verzicht auf den Reim, was ihn in den Augen mancher Traditionalisten wohl verdächtig erscheinen lässt.
Zu ihrer Beruhigung sei auf einen schönen Reim auf den Wiener Schmäh und einen kurzen, aber letztlich vergeblichen Ausflug in die Anarchie verwiesen: „So viele Jahre / trug ich einen Parker / Und war doch niemals / ein Autarker. Alt-68er heißt dieses kleine Gedicht von 1996 und steht stellvertretend für viele solcher Wortspiele, die in dem großen und tiefstapelnden Kapitel Eine Handvoll Lustigkeit zu den Glanzlichtern dieses Buches gehören.
…
Am Schluss des Buches hat der Kieler Kulturpreisträger Hans-Jürgen Heise unter der Überschrift Juvenilia ein paar kurze Prosatexte versammelt, die einen späten Einblick in die frühe Phase seines Schreibens erlauben. Im melancholischen Schluss-text geht es um den zu spät erfüllten Wunsch des kleinen Jörg. Nicht nur damals muss-te er lernen, dass man im Leben fast alles zu spät bekommt. Die frische Gedichtbrise des Lyrikkobolds Heise kommt deshalb genau zur richtigen Zeit.
Hans-Jürgen Heise: Ein Kobold von Komet. Gedichte und Kurzprosa, Wallstein Verlag, 292 Seiten, 24 €
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Sigmar Salzburg
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