4. Fortsetzung
Die Teilregeln der „Reform“ sind grammatisch und sachlich falsch und damit unzulässig
Die Landesregierung hat mit Wirkung v. 1.8.2005 die Änderungen an der deutschen Rechtschreibung, die 1994-2004 von der Kultusministerkonferenz verabredet wurden, an den Schulen für teilweise verbindlich erklärt.
Dies ist eine Anweisung, die Schüler […] etwas Falsches oder Unübliches zu lehren und die Lehre des Richtigen oder weithin Üblichen zu unterdrücken und zum Nachteil der Schüler als Fehler zu verfolgen.
1.) Die Unterdrückung des Richtigen geschieht dadurch,
a) daß grammatisch richtige Darstellungen wie: „Er kann mir leid tun“, „Wie recht er doch hat“ „heute früh“, „heute morgen“ als Fehler verfolgt werden, dagegen grammatisch falsche gelehrt („wie Leid er uns tut!“, „wie Recht er doch hat!“,„heute Früh“, „heute Morgen“, d.h. die Schreibung als Substantiv),
b) daß historisch, etymologisch und sachlich richtige Schreibungen, wie „Quentchen“, „Tolpatsch“, „belemmert“, „behende“oder „rauh“ als Fehler verfolgt und falsche neu geschaffene Schreibung gelehrt werden (wie „Quäntchen“, „Tollpatsch“, „belämmert“, „behände“oder „rau“).
Dies widerspricht auch dem Schulgesetz, das dem jungen Menschen eine (natürlich sachlich richtige) „Ausbildung“ zusichert. Danach soll die Schule auch die „geistigen, seelischen und körperlichen Fähigkeiten des jungen Menschen“ entwickeln. Wer die Fähigkeit entwickeln kann, „leid“ und „recht“ in seiner richtigen grammatischen Funktion zu benutzen und darzustellen, hat auch einen Anspruch auf die entsprechend richtige Unterrichtung; ebenso jemand, der imstande ist, die etymologisch begründete richtige Schreibung von etwa zwölf Wörtern, wie „Tolpatsch“ zu verstehen und zu erlernen.
(Schüler müssen Millionen von Details lernen. Warum eine etymologische Verballhorung von zwölf Wörtern hier merkliche „Erleichterungen“ schaffen soll, bleibt unerfindlich.)
Die Schule „soll Kenntnisse wirtschaftlicher und historischer Zusammenhänge vermitteln,…“ und dies muß auch für das (lernerleichternde!) Verständnis von Wortsinn und Wortherkunft gelten.
Die Verfolgung des Richtigen als „Fehler“ ist auch kein „Gemeinwohlbelang“.
2) Die Unterdrückung üblicher Schreib- und Leseerleichterungen und herkömmlicher Schreibtraditionen geschieht dadurch,
a) daß die traditionelle Einsparung des dritten Buchstabens wie in „Schifffahrt“ oder „Brennessel“ als Fehler verfolgt wird und die Lehre dieser bislang zulässigen Möglichkeit als unzulässig verboten wird.
b) daß die traditionelle Kleinschreibung verblaßter Substantive und fester adverbialer Fügungen, wie „des öfteren“, „zu eigen“, „im allgemeinen“ als Fehler verfolgt wird und die Lehre dieser Leseerleichterung als zulässige Möglichkeit verboten wird.
c) daß der seit 600 Jahren übliche leseerleichternde Gebrauch des „ß“ als Wort- oder Silbenschlußzeichen als Fehler verfolgt wird und seine Lehre als zulässige und sinnvolle Möglichkeit verboten ist.
Dies widerspricht ebenso dem Schulgesetz (§4,3). Wer die „geistigen, seelischen und körperlichen“ Voraussetzungen besitzt, diese traditionellen Vereinfachungen und Erleichterungen zu nutzen, hat einen Anspruch darauf, daß die Schule hier ihre Aufgabe, diese als „Fähigkeiten“ zu entwickeln, nach dem Schulgesetz erfüllt, zumal diese von der Mehrheit der Bevölkerung als üblich und selbstverständlich angesehen werden.
Wer die Fähigkeit entwickeln kann, auf Texte in neuer Rechtschreibung die einfache Regel anzuwenden, „nach alter Tradition wird bei deutschen Wörtern am Wort- und Silbenende das ss als ß geschrieben“ (die Ausnahme „As“ ist lat./frz.), der hat auch einen Anspruch darauf, daß die Schule ihm hilft, diese Kulturtechnik zu entwickeln und anzuwenden, da diese von der Mehrheit der Bevölkerung als richtige Schreibweise anerkannt ist.
Der ehemalige Verfassungsrichter Prof. Ernst Gottfried Mahrenholz hatte schon 1997 geschrieben: „In der Neuregelung der Daß-Schreibweise haben die Minister ihre Kompetenz überschritten. Hier hat die Kommission und ihr folgend die Ministerriege sich so gesehen, als habe sie zwischen zwei möglichen Gebrauchsformen des „ß“ zu wählen. Es ging aber doch um die Wahl zwischen einer alten und bewährten Praxis und einem neuen Modell. Hier kann ein Eingriff, der die bisherige Funktion eines Buchstabens betrifft, eine Veränderung seines überlieferten „Ortes“, nicht aus der Kompetenz für Schulfragen gerechtfertigt werden. Und um es gleich zu sagen, dies kann auch kein Landtag (der Bundestag ohnehin nicht).“ (Süddeutsche Zeitung 23./24. 08.1997)
Die Schule „soll Kenntnisse wirtschaftlicher und historischer Zusammenhänge vermitteln, Verständnis für Natur und Umwelt schaffen und die Bereitschaft wecken, an der Erhaltung der Lebensgrundlagen von Pflanzen, Tieren und Menschen mitzuwirken.“ (SchulG)
Zu den Lebensgrundlagen und historischen Zusammenhängen gehört auch die Verhinderung der Entfremdung von der eigenen Kultur, zu der die im 20. Jahrhundert veröffentlichte und gedruckte, auch frühere Jahrhunderte umfassende deutschen Literatur gehört . Das Schulgesetz bestimmt:
Die Schule soll die Offenheit des jungen Menschen gegenüber kultureller Vielfalt, den Willen zur Völkerverständigung und die Friedensfähigkeit fördern. Sie soll den jungen Menschen befähigen,die Bedeutung der Heimat… zu erfassen. (SchulG)
Der frühere Bundesbildungsminister und Erste Bürgermeister Hamburgs, Klaus von Dohnanyi, SPD, stellte dagegen fest (ZDF am 29.07.2001):
„Wir haben eine Situation, in der Deutschland ohnehin Probleme mit seiner Geschichte hat, in der wir in der Sprache eigentlich die letzte Behausung unseres Landes haben, da haben sie die Leute aus der Sprache rausgetrieben durch diese Reform.“
3) Es werden künstlich neugeschaffene deutsche Schreibweisen für Fremdwörter gelehrt und die Verwendung originaler Schreibweisen, insbesondere bei der Pluralbildung verboten. ( z.B. „Ladys“ anstelle von „Ladies“)
Die Verwendung richtiger englischer Pluralschreibung ist auch im Deutschen bislang weitverbreitet üblich. Es widerspricht der Erziehung zur „Offenheit des jungen Menschen gegenüber kultureller Vielfalt“ (SchulG), wenn das richtig erlernte fremde Sprachgut im Deutschen als Fehler gewertet wird und nur eine deutsche Schrumpfform als allein richtig gelten soll. Außerdem trägt dies zur Verwirrung der Schüler bei („Tipp“in Englischarbeiten).
4) Es wird die Verwendung der in weiten Bevölkerungskreisen als unhöflich empfundenen Kleinschreibung der vertraulichen Briefanrede „Du“ gelehrt und die traditionelle Großschreibung als Fehler verfolgt.
Dies ist keine staatliche Aufgabe. Überkommene Umgangsformen dürfen kein Gegenstand staatlicher Regelungen sein. Aber auch hier greift das Schulgesetz:
Zum Bildungsauftrag der Schule gehört die Erziehung des jungen Menschen zur freien Selbstbestimmung in Achtung Andersdenkender, zum politischen und sozialen Handeln und zur Beteiligung an der Gestaltung der Arbeitswelt und der Gesellschaft im Sinne der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.
Zum sozialen Handeln gehört auch die Achtung vor überkommenen, noch immer üblichen Umgangsformen. Hier hat sich der Staat eines unzulässigen Eingriffs schuldig gemacht, den demokratischen Bildungsauftrag der Schulen mißachtet und außerdem durch die Annullierung des Volksentscheid dem Ansehen der Demokratie Schaden zugefügt.
Im Lehrmaterial der Schulen werden historische Briefe in der Du-Anrede verfälscht und damit den Schreibern Mißachtung der Höflichkeitskonventionen unterstellt. All dies ist nicht hinnehmbar.
Die einzige bisherige „Höflichkeitsreform“ per Ministerialerlaß war die Einführung des sogenannten „Deutschen Grußes“ an den Schulen Schleswig-Holsteins am 22. Juli 1933.
Die Verfolgung des großgeschriebenen Du als „Fehler“ und die Einübung des kleingeschriebenen ist unzweifelhaft auch kein „Gemeinwohlbelang“.
(Kritische Würdigung der einzelnen Maßnahmen gesondert)
Der „Geburtsfehler“ der Reform
Alle diese Dinge sind bisher von den Kultusministern nach Gutdünken, eigenen Vorurteilen und geringstem Widerstand in der Kultusbürokratie entschieden worden. Auch der neugeschaffene „Rat für Rechtschreibung“ ist kein geeignetes Gremium, hier Abhilfe zu schaffen, da er recht einseitig mit Interessenvertretern besetzt ist und außerdem in seinen Kompetenzen beschnitten wurde.
Die gesamte „Rechtschreibreform“ krankt an einem grundsätzlichen Geburtsfehler:
Bis 1998 wurden Rechtschreibfehler an den Schulen nach Duden korrigiert und bewertet. Es wäre nun Aufgabe der Kultusverwaltungen gewesen, didaktische Verbesserungen vorzunehmen und die tolerierbaren Varianten festzustellen, die nicht mit einem Punkteabzug geahndet werden müssen. Stattdessen hat man eine „Rechtschreibreform“ gemacht, in der der gesamten Schreibgemeinschaft vermutete häufige Fehler über den Hebel der Schulen als allein richtig aufgezwungen werden sollen. Das Absurdeste daran ist, daß dabei aus „Systemgründen“ auch Falschschreibungen verbindlich gemacht wurden, die vorher praktisch nie vorkamen, etwa: „So Recht er hat, so Leid kann er einem tun“.
Die traditionelle Rechtschreibung war Dienst am Leser. Dies gibt die „Reform“ auf zugunsten von angeblichen Erleichterungen für eine Minderheit von Schreibern. So werden verfassungswidrig einer großen Mehrheit von normal Lernfähigen die richtigen und lesefreundlichen Kulturtechniken in der Ausbildung vorenthalten.
Verkomplizierung und Fehlerverfolgung sind kein „Gemeinwohlbelang“
Durch die neuen Schreibweisen sollten Erleichterungen eintreten.
Wenn diese nun aus verschiedenen Gründen nicht stattgefunden haben, dann ist auch kein „Gemeinwohlbelang“ vorhanden, diese irrtümlich als „erleichternd“ eingeführten Schreibweisen durch die Zensurengebung zu erzwingen – zumal die Mehrheit der Bevölkerung in der ganzen „Reform“ kein „Gemeinwohl“ erkennen kann.
Die Art der Einführung der „Reform“ widerspricht aller Systematik und Methodik, wie sie etwa auch in der Informatik üblich ist. Programme werden im allgemeinen so konzipiert, daß auch die Verwendung älterer Befehle und Eingaben nicht zu Fehlern und Systemabsturz führt. Mühelos hätte die „Reform“ so eingeführt werden können, daß alle alten Schreibweisen weiter gültig gewesen wären, neue jedoch als zulässige Variante eingeführt worden wären.
Daß dies möglich war, zeigt die (lästige und überflüssige) Zulassung von „aufwändig“ neben „aufwendig“. Es zeigt sich auch darin, daß seit 2004 auch zahlreiche alte Schreibungen mit den Zusatz „auch“ im Regelwerk und Duden wieder zugelassen wurden, andere willkürlich wiederum nicht.
In den meisten Fällen zeigt sich, daß die „Reform“ ganz hätte unterbleiben können, und daß viele der neuen überflüssigen Formen nur der Gesichtswahrung wegen, weil sie eben von Reformern, Politik und Bürokratie in die Welt gesetzt wurden, weiterhin gültig sein sollen, absurderweise sogar meist vorrangig.
Viele „Erleichterungen“ sind Erschwernisse
Viele der angeblichen „Erleichterungen“, Hauptgrund für die Einführung der „neuen“ Rechtschreibung, sind in Wirklichkeit Erschwernisse.
a) Die Fehlerträchtigkeit bei der Anwendung der neuen ss/ß-Regel ist durch die Untersuchungen von Harald Marx nachgewiesen worden.
Die Lesehemmnisse sind offensichtlich: „Bambusessstäbchen“ (…), Schlosserhaltung, Messerwartung …
b) Getrennte Schreibungen vom Typ „Grauen erregend“ (bisher „grauenerregend“) sind gefordert, jedoch ist die Aufspaltung in der Mehrzahl der Fälle nicht möglich und zulässig: „flächendeckend“, „lebensspendend“ oder unsicher: „bahnbrechend“. Zur Anwendung dieser Vorschrift müssen immer grammatische Proben und Umstellungen im Text vorgenommen werden. Diese überflüssige Regelung hat eine Fülle lächerlichster Schreibungen hervorgerufen: „Herz zerreissend“, „Bein amputiert“.
Die Störungen des Lesens sind erheblich: „Jeder hat Not leidenden Menschen zu helfen.“ Auch wenn sich im Kontext der Sinn klären kann, bleibt die Lesefalle, besonders mit der neuen „Weglaßbarkeit“ des Kommas vor dem erweiterten Infinitiv..
c) Regelungen wie „auseinander setzen“ immer auseinander schreiben zu sollen, dagegen „zusammensetzen“ immer zusammen, haftet ein hohes Maß an Willkür an. Die getrennt zu schreibenden Partikel müssen einzeln gelernt werden. Außerdem entfällt das intuitive Schreiben, das veränderte Betonungen als Signal für Wortbildungen erkennt.
Für Lesende stellt diese getrennte Schreibung wiederum Erkennungs- und Aussprachefallen dar: „Da sich die Kunststile auseinander entwickelten…“ muß jetzt auch die ganz andere Bedeutung „da sich die Kunststile auseinanderentwickelten…“ darstellen.
d) Die „erleichterte“ Zeichensetzung erlaubt, das Komma z.B. vor dem erweiterte Infinitiv fortzulassen. Es soll jedoch gesetzt werden, wenn die Klarheit dies erfordert. Dies zwingt den Schreiber, nachzuprüfen, ob auch andere Lesarten möglich sind – eine Erschwernis, die Lernende am wenigsten bewältigen können: „Er empfahl dem Lehrer nicht zu widersprechen“ kann gelesen werden als: „Er empfahl, dem Lehrer nicht zu widersprechen.“ „Er empfahl dem Lehrer, nicht zu widersprechen.“ „Er empfahl dem Lehrer nicht, zu widersprechen.“
Für Lesende kann die Textverständlichkeit sehr gestört sein. Daher haben die Nachrichtenagenturen die neuen Kommaregeln ausdrücklich nicht übernommen.
Im Gegensatz zu Beamten und Angestellten, die verpflichtet sind, allen, auch willkürlichen und unsinnigen Anordnungen ihres Arbeitgebers Folge zu leisten, besteht bei Schülern kein solches Verhältnis gegenüber Lehrern, Schulbehörden und Bildungsministerium. Vielmehr haben die Schüler einen Anspruch darauf, daß die staatlichen Bildungseinrichtungen die Lernenden an der Lebenswirklichkeit orientiert ausbilden und ihnen zugleich das Erlernen der demokratischen Freiheiten und die Teilhabe daran vorbildhaft zu ermöglichen. Dazu gehört auch die Freiheit, die von der Bevölkerung mehrheitlich anerkannte und gewünschte Rechtschreibung zu verwenden. Hierbei ist besonders für Schleswig-Holstein zu berücksichtigen, daß ein gültiger Volksentscheid vorliegt, der dies fordert. Auch die Streichung der ins Schulgesetz diesbezüglich eingebrachten Passage durch die sogenannten Vertreter des Volkes (aus eher parteiegoistischen Gründen) kann nicht die Wirklichkeit auslöschen, daß damit Verletzungen von Prinzipien der Demokratie begangen wurden und daß deren Ahndung durch Mängel in den vorhandenen Verfassungsregelungen verhindert wurde.
Das Ausscheiden der Kultusminister aus dem Kreis der Schreibgemeinschaft
Insgesamt ergibt sich daraus, daß die Verfolgung der traditionellen Rechtschreibung als Fehler den Prinzipien der freiheitlichen Demokratie und der Verhältnismäßigkeit widerspricht. Wenn das Verfassungsgericht den Ländern Abweichungen in der Rechtschreibung zugesteht, muß auch Schülern diese Abweichung zugestanden werden, sofern er sich im Rahmen der seit hundert Jahren gültigen Regelungen hält.
Urteil v. 14.7.1998 heißt es:
Das Erfordernis eines hohen Maßes an einheitlicher Schreibung, ohne welches Lesbarkeit und Verständlichkeit von Texten und damit Kommunikation zwischen den Schreibenden nicht möglich sind, bedeutet nicht notwendig Übereinstimmung in allen Einzelheiten. Deshalb hat das Ausscheren eines Beteiligten aus dem Kreis derer, die sich zuvor auf gemeinsame Regeln und Schreibweisen verständigt haben, verfassungsrechtlich nicht notwendig die Unzulässigkeit der Neuregelung zur Folge, wenn Kommunikation im gemeinsamen Sprachraum trotzdem weiterhin stattfinden kann.
Das läßt den Umkehrschluß zu:
Das Ausscheiden der Kultusministerien der Länder aus dem Kreis der Deutschen, die seit hundert Jahren gemeinsame Regeln einvernehmlich verwenden, kann nicht notwendig die Unzulässigkeit dieser traditionellen Rechtschreibung an den Schulen zur Folge haben.
Hierfür ist es aber auch nicht notwendig, daß ein Schüler nun vollständig die alte Rechtschreibung verwendet. Das kann wegen des gleichzeitigen Vorhandenseins von alter Rechtschreibung und verschiedenen Stadien der „Reform“ nebeneinander nicht verlangt werden.
Es ist kein sicheres Lernen der „neuen“ Rechtschreibung möglich.
Es gibt sie nämlich gar nicht
Junge Leute lernten bis 1996 vorwiegend durch ausgiebiges Lesen. Das ist heute nicht mehr möglich, da die Schüler nicht mehr sicher sein können, ob eine Schreibung „veraltet“ oder eine von den vielen reformierten oder wieder zugelassenen oder, ebenso häufig, falsch geschriebenen Varianten ist. Die Verinnerlichung eines bestimmten Schriftbildes wird durch das Durcheinander der verschiedenen Rechtschreibungen erheblich gestört. Lernende müßten von aller älteren Literatur abgeschirmt werden. Dies scheint auch die Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes gewesen zu sein:
Vor diesem Hintergrund ist nicht zu erkennen, daß die Beschwerdeführer gehindert wären, ihre Kinder, nachdem diese sich die neue Schreibung angeeignet haben, auch mit den traditionellen Schreibweisen vertraut zu machen, ihnen eigene Bücher zum Lesen zu geben und sie an die klassische Literatur in deren ursprünglicher Schreibweise heranzuführen. (S.143)
Dieser Ausschluß aller bisherigen Literatur entspricht nicht der Lebenswirklichkeit und ist auch kulturell schädlich.
In manchen Schulbüchern sind nach Urheberrecht vor Veränderung geschützte Texte in „alter“ Rechtschreibung abgedruckt. Auch ein allgemeiner Hinweis darauf hebt die verwirrende Wirkung dieser Abweichung nicht auf. Es könnte im Gedächtnis ein „altes“ Schriftbild abgespeichert werden. Hier wie in allen ähnlichen Fällen wird „Ranschburgsche Ähnlichkeitshemmung“ (P. Ranschburg 1870-1945) wirksam, die die geforderten Schriftbilder vertauscht oder behindert
Das an den Schulen […] verwendete ausgeliehene Lehrmaterial stammt [meist] aus den Jahren 1987 bis 2005. Etwa zur Hälfte liegt noch die „alte“ Rechtschreibung vor. In vielen anderen Fällen ist die unreformierte Reformschreibung von 1996 festzustellen, oft auch noch fehlerhaft. Groteskschreibungen wie „Schwindel erregend“ gehören zum Standard, obwohl seit 2004 auch die kultiviertere alte Schreibweise wieder zugelassen ist. Hierdurch wird optisch-graphisch das grammatische Lernen fehlgeleitet und damit das sprachliche Empfinden verstümmelt. Solche neue Literatur sollte nur unter Anleitung eines befähigten Lehrer nach erfolgter gemeinsamer Korrektur in die (wieder zulässige) bewährte Schreibweise verwendet werden dürfen. Auf jeden Fall bewirkt das durcheinander der verschiedenen ss-Schreibungen eine Unsicherheit. Dies wird noch verstärkt durch das Kopieren alter Arbeitsblätter, die die Lehrer nicht zuletzt wegen ihrer oft besseren didaktischen Qualität weiterverwenden.
Zudem liegt in den öffentlichen und privaten Büchersammlungen die Mehrzahl der Texte noch in der alten Rechtschreibung vor. Während in der Kinderliteratur die Verlage eine große Kraftanstrengung vollbracht haben, um die Texte anzupassen, ist das bei der gehobenen Literatur mehrheitlich nicht möglich und auch nicht wünschenswert.
Die Verfolgung solcher dadurch entstandener Unsicherheiten, die eine Folge der unsinnigen Reformbetriebsamkeit der Kultusminister ist, kann kein „Gemeinwohlbedarf“ sein. Schüler, die ganz oder teilweise Schreibweisen der traditionellen Literatur übernehmen, ganz gleich, ob absichtlich oder unabsichtlich, müssen vor Verfolgung und Erniedrigung geschützt werden.
Ein besonders trübes Kapitel sind die Wörterbücher, ohne die man ja auch nach Aussage der Kultusminister nicht mehr auskommt. Die Neuschreiblexika von 1996 von Duden und Bertelsmann sind fehlerhaft und überholt. An Schleswig-Holsteins Schulen befinden sich aber noch 10 000 dieser Bertelsmann-Lexika, die 1999 in einer Gemeinschaftsaktion von Bertelsmann und GEW zur Unterminierung des Volksentscheids verteilt wurden. Es gibt seit zehn Jahren kein Wörterbuch mehr, das einen bleibenden Stand der Schreibung der deutschen Wörter widerspiegelt wie es der Duden zuvor 94 Jahre lang geleistet hatte. Daneben sind zahlreiche weitere Wörterbücher des schnellen Geldes wegen auf den Markt geworfen worden, deren große Fehlerhaftigkeit kein Schüler und kein Elternteil erkennen kann. Den Kultusministerien genügt in diesen Fällen wie auch bei anderer Schulliteratur die Versicherung der Verlage, daß der Text den Regeln der neuen Rechtschreibung folge (Etwa Amtsblatt 7/2005 vom 15. Juli 2005, S. 466 bzw. S. 525 „In Zweifelsfällen sind Wörterbücher zugrunde zu legen, die nach den Erklärungen des Verlags den aktuellen Stand der Regelung vollständig enthalten.“). Welcher Verlag würde das nicht behaupten! Nach dem „Schulwörterbuch Deutsche Rechtschreibung“ (2003 Trautwein und andere Lizenznehmer) lernen die Schüler nur die neue Primitivschreibung „Grauen erregend“ – (dazu erleichternd „aber: äußerst grauenerregend“), nicht aber, daß man auch „grauenerregend“ schreiben darf. Außerdem fehlt die Folge der gängigen Wörter (n. Duden) hinhauen, hinhocken, hinhorchen, Hinkebein, …fuß, Hinkel, hinken, hinkriegen, Hinkunft, hinlänglich, Hinnahme, hinnehmen, hinneigen, Hinneigung, hinnen, hinreichen, hinreichend, Hinreise, hinreisen. Noch schlimmer ist das Wörterbuch der Rechtschreibung (H+L Verlagsgesellschaft 1999). Es enthält weder „grauenerregend“ noch „Grauen erregend“. Außerdem wurde das Fehlen einer Wörterstrecke festgestellt, die 40 (!) Dudenspalten entspricht. Während die laufenden Änderungen für kleine Verlage kaum tragbar sind, wurden Duden und Bertelsmann mit privilegierten Informationen aus der Kommission versorgt und konnten dadurch ihren Vorsprung ausbauen. So ist „morgen Früh“ in den Duden 2004 gelangt, aber inzwischen schon wieder falsch.
In dieser Lage kann von den Schülern keine sichere Reformschreibung abverlangt werden. Hier ist die traditionelle Rechtschreibung die einzige sinnvolle Konstante. Sie darf nicht willkürlich gegen die Mehrheit der Deutschen zum Fehler erklärt werden, sondern erfüllt den Anspruch, die einzige von der Schreibgemeinschaft allgemein anerkannte Rechtschreibung zu sein.
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Sigmar Salzburg
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