… was sich verschlechtert hat, ist die Rechtschreibung
Cicero, 22. Februar 2009
Der Genitiv ist quicklebendig!
Interview mit Rudolf Hoberg
[Bild: Verfällt die deutsche Sprache?]
Alles andere als zufrieden sind die Deutschen mit ihrer Sprachkultur: Einer von der Gesellschaft für deutsche Sprache in Auftrag gegebenen Umfrage zufolge sieht über die Hälfte der Bevölkerung das Deutsche gar von einem Sprachverfall bedroht. Im Interview mit Cicero Online analysiert Rudolf Hoberg, Sprachwissenschaftler und Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Sprache, die bösen Ahnungen – und plädiert für ein gesundes Sprachbewusstsein.
Haben die Ergebnisse der Studie Sie überrascht?
Ja und nein. Überrascht hat mich etwa, welche Dialekte die Deutschen gerne hören: Das Bayerische steht an oberster Stelle.
Dass die Leute sich über den jeweiligen Stand ihrer Sprachkultur beklagen, ist jedoch nichts Neues. Das haben schon die alten Ägypter getan. Dabei wird meistens ignoriert, dass Sprache sich ja vor allem durch Fehler verändert: Sprachwandel kommt doch dadurch zustande, dass einer etwas falsch macht, die anderen finden es gut, und dann wird es solange von allen so gesagt, bis es irgendwann richtig geworden ist. Ein gutes Beispiel dafür ist die Verwendung von trotz mit dem Genitiv. Trotz stand früher mit dem Dativ, irgendwann hat sich der Genitiv eingeschlichen. Überhaupt stimmt es nicht, dass der Genitiv zurückgeht.
Wie erklären Sie sich, dass 65 Prozent der Deutschen angeben, der Ansicht zu sein, dass die deutsche Sprache verkommt?
Es ist tatsächlich nicht zum Besten bestellt um die deutsche Sprache. Das war allerdings vor 50 Jahren auch schon so. Viele denken, wenn heute etwas schlecht ist, dann muss es früher besser gewesen sein. Im Gegenteil: Bei einer Untersuchung von Abituraufsätzen der letzten Jahrzehnte haben wir festgestellt, dass fast alles besser geworden ist. Das einzige, was sich verschlechtert hat, ist die Rechtschreibung. Dafür ist der Wortschatz gewachsen. Und ich finde, wenn man mehr Wörter schreibt, dann darf man auch mehr Fehler machen.
Dass vor allem die Älteren die Gefahr eines Sprachverfalls sehen, könnte das daran liegen, dass sie von den Entwicklungen der modernen Sprache nicht mehr mitgenommen werden?
Auf jeden Fall. Die Älteren meinen, dass sie das Richtige gelernt haben. Und deswegen ist das, was die Jüngeren lernen, automatisch schlechter – weil es anders ist. Auch das ist nichts Neues.
Wie schätzen Sie persönlich als Sprachwissenschaftler und Sprachbeobachter die Gefahr eines Sprachverfalls ein? Welche der Faktoren, die die Befragten in der Studie als ursächlich für den Sprachverfall benennen, spielen wirklich eine Rolle?
Die meisten dieser Gründe sind schlicht und einfach falsch. Dass weniger gelesen wird als früher, ist zum Beispiel blanker Unsinn. Auch das Fernsehen hält die Leute nicht vom Lesen ab. Das sind Vorurteile, die in den Medien verbreitet werden. Wenn Elke Heidenreich im Fernsehen sagt, dass wir mehr lesen müssen, dann denken die Menschen automatisch, dass wir bisher zu wenig gelesen haben.
Als positive Aussage eines kleinen Teils der Befragten wird angeführt, dass heute mehr gelesen und geschrieben wird, vor allem durch die Arbeit am Computer. Bemängelt wird wiederum, dass bei der Kommunikation über SMS und E-Mail zuwenig auf die Ausdrucksweise geachtet wird ...
... Es ist eine Tatsache, dass die gesprochene Sprache immer mehr in die geschriebene Sprache hineindrängt. Interessant wird es, zu sehen, ob die SMS-Sprache sich tatsächlich auf andere Bereiche der Schriftsprache auswirken wird. Bis jetzt ist das noch nicht der Fall, aber man weiß nicht, wie das in ein paar Jahren aussehen wird.
Gerade in Berlin kann man auf den Straßen häufig das Phänomen Remix-Sprache belauschen: Bilinguale Jugendliche mit Migrationshintergrund mischen ihre Sprachen. Symptom des Sprachverfalls oder Entwicklungschance?
Wie für die SMS-Sprache gilt auch hier: Aus der Remix-Sprache entstehen Subvarianten des Deutschen, und man kann im Moment noch nicht absehen, wie stark sich diese Variante auf den allgemeinen Sprachgebrauch auswirken wird. Wenn die Remix-Sprache unser gesprochenes Deutsch tatsächlich eines Tages infiltriert, dann könnte man das eventuell als Bereicherung sehen.
Glauben Sie, dass man den Einflüssen anderer Sprachen aufs Deutsche, die sich vor allem in den vielen Anglizismen ausdrücken, die wir in unseren Sprachgebrauch importiert haben, durch eine Radioquote Einhalt gebieten könnte?
Generell sind Einflüsse aus anderen Sprachen ja nichts Schlechtes. 15 Prozent des deutschen Wortschatzes bestehen aus Fremdwörtern. Die Anglizismen will ich damit nicht verherrlichen: Dass Nachrichten zum Beispiel in vielen Medien heutzutage news heißen, ist völliger Quatsch.
Aber eine Radioquote halte ich nicht für sinnvoll. Auch in Frankreich, wo solch eine Quote eingeführt wurde, hat man mittlerweile erkannt, dass man durch solche Maßnahmen nicht bestimmen kann, wie die Leute reden.
Ich glaube, mit Gesetzen lässt sich nicht viel ausrichten. Stattdessen müssen wir bereits in den Schulen mit der Sprachpflege beginnen, um das Sprachbewusstsein des Einzelnen zu stärken. Deutschland hat seit jeher eine liberale Tradition, was das angeht – sogar die Nazis waren nicht sprachnationalistisch. Diese liberale Tradition ist gut und sollte erhalten werden. Aber wir müssen darauf achten, dass das nicht zu einer Vernachlässigung der Muttersprache führt.
Welche Rolle hat die deutsche Sprache im vereinigten Europa für die Identität der Nation?
Obwohl die Deutschsprachigen die größte Bevölkerungsgruppe in der EU sind, spielt ihre Sprache im vereinigten Europa nur eine kleine Rolle. Englisch steht an erster Stelle, dann kommt Französisch, und dann irgendwann Deutsch – obwohl Deutsch jetzt nach der Osterweiterung bei den Fremdsprachen an zweiter Stelle steht. Deutsch steht und fällt mit seiner Rolle in Europa. Und deswegen ist es wichtig, auf eine angemessene Rolle des Deutschen in der EU hinzuarbeiten. Das würde auch das Europavertrauen der Deutschen erheblich stärken.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Sophie Diesselhorst.
Foto: Picture Alliance
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Norbert Lindenthal
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