Vor 20 Jahren erster Rechtschreibputsch
Nachdem gerade im Sommer das zehnjährige Jubiläum der „verbesserten“ Schreibreform gefeiert wurde, wird jetzt vom Bayerischen Rundfunk der orthographischen Machtergreifung der Länderpolitiker vor zwanzig Jahren gedacht:
20 Jahre Rechtschreibreform
Als der Friseur zum Frisör wurde
Geliebt und gehasst: 20 Jahre ist es her, dass die Ministerpräsidenten die Rechtschreibreform beschlossen. Viel wurde diskutiert, viel gemeckert. Mögen die Deutschen die Regeln heute, was spricht dafür, was dagegen?
Von: Leonie Sanke und Annette Walter
Stand: 01.12.2015
Rächtschraipung?!: 20 Jahre Rechtsschreibreform
Schreibt man Rad fahren oder Radfahren? Und was ist korrekt: leid tun oder leidtun? Als am 1. August 2005 eine überarbeitete Reform der Rechtschreibreform von 1996 in Kraft trat, meckerten viele über Sprachverwirrung. Dass wegen Kommas und Groß- und Kleinschreibung ein heftiger Streit toben kann, das hatte die Rechtschreibreform zu Beginn nämlich bewiesen. 1995 beschlossen, trat sie ein Jahr später in Kraft. 2005 wurden die überarbeiteten Regeln an Schulen eingeführt, 2006 zogen Bayern und Nordrhein-Westfalen nach. Der Duden-Chefredakteur Werner Scholze-Stubenrecht bemängelt etwa, dass seitdem zu viele Varianten erlaubt seien.
Mittlerweile Ruhe eingekehrt
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Vor 20 Jahren wurde die neue Rechtschreibung in Deutschland beschlossen. Die neuen Regeln sollten die Sprache einfacher machen. Schaffen Sie es fehlerfrei durch unser Rechtschreib-Quiz?
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Mittlerweile haben sich die Menschen aber scheinbar an die neuen Regeln gewöhnt. Sie sei an den Schulen "überhaupt kein Thema mehr, sagte kürzlich Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Aber es gibt immer noch Reformkritiker. Sie würden Schülern am liebsten wieder die alte Rechtschreibung durchgehen lassen. Eine Forderung, die im Sommer der Germanist Theodor Ickler, Verleger Matthias Dräger und der als Rechtschreibrebell bekannte Friedrich Denk aus Bayern äußerten. Ihr Argument: Es gebe schließlich noch alte Schreibweisen in Schullektüren von Werken, etwa von Bertolt Brecht oder Max Frisch.
Eine Reform, zwei Standpunkte
+++ Pro +++
Weil es mehr Varianten gibt, verringern sich Fehler
Lutz Kunsch, Leiter der Sprachberatung bei der Gesellschaft für deutsche Sprache
Lutz Kunsch ist für die Reform
Ich gebe viele Seminare zur Rechtschreibung und begegne dort den unterschiedlichsten Menschen, die sich tagtäglich mit Rechschreibung befassen. Von der Sekretärin bis zum Journalisten ist da alles dabei. Dabei fällt mir auf, dass die Substantivierung, also die aktuelle Groß- und Kleinschreibung, gut angenommen werden. Man hat da mehr Möglichkeiten als früher. Nehmen Sie etwa das Beispiel auf Grund und aufgrund. Hier sind beide Möglichkeiten erlaubt. Weil es beide Varianten gibt, verringern sich Fehler.
Noch einen Vorteil, den die Reform gebracht hat, sehe ich bei der Vereinfachung der Kommaregeln. Die haben sich seit der Publikation des ersten Dudens 1911 sehr verändert. Zwischendrin gab es mal Phasen, in denen hunderte Kommaregeln existierten. Heute gibt es grob gesagt noch zehn. Kommas können generell viel freier als früher gesetzt werden. Was ich auch sehr gut finde, ist die Vereinheitlichung des Doppel-S vor kurzen Konsonanten, z.B. bei Kuss. Das gilt ja seit der Reform standardmäßig. Eine weitere Erleichterung ist, dass inzwischen drei Konsonanten immer ausgeschrieben werden wie etwa in Schifffahrt und Sauerstoffflasche. Auch die Anwendung von Bindestrichen finde ich jetzt logischer.
Wir erleben, dass seit 2006 eine gewisse Ruhe in die Debatte um die Rechtschreibung eingekehrt ist. Viele Menschen, denen ich in meiner Arbeit begegne, sind heute zufrieden, weil sich die Rechtschreibung eingepegelt hat. Konrad Duden, dem Erfinder des gleichnamigen Buches, ging es immer um eine Normung. Für mich persönlich ist eine Normung mit Varianten notwendig und heute auch realisiert.
--- Kontra ---
Diese „alte“ Schreibung ist im Prinzip die modernere
Reinhard Markner, Vorsitzender der Forschungsgruppe Deutsche Sprache
Reinhard Markner ist gegen die Reform
Es ist nie sinnvoll, in die Sprache einzugreifen. Sprache ist ein Organismus, der sich natürlich entwickelt. Statt ihn durch Regeln zu verändern, muss man dieses Phänomen beschreiben und festhalten. Die Rechtschreibreform wurde damals im geheimen Zirkel beschlossen. Hätte man das Thema frühzeitig öffentlich diskutiert, hätte sie verhindert werden müssen. Die Kultusministerkonferenz hat sich aber taub gestellt – gegenüber den Bürgern und den Sprachwissenschaftlern. Dass die Reform zur Reduzierung von Fehlern beitrage, ist eine überzogene These, die nie durch eine angemessene Vergleichsstudie belegt wurde. Obwohl noch Fehler auszubessern sind, ist der Rat für deutsche Rechtschreibung nicht mehr aktiv.
Der Rückbau zur alten Rechtschreibung sollte weiter fortgesetzt werden. Diese „alte“ Schreibung ist im Prinzip die modernere, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Die „neue“ Rechtschreibung orientiert sich dagegen an den Regeln, die noch um 1900 galten. Ein Beispiel dafür ist die propagierte Getrenntschreibung, etwa bei „kennen lernen“, die inzwischen zum Teil wieder zurückgenommen wurde. Dadurch sind wiederum Ausnahmen entstanden, die zusätzlich verunsichern.
Auch die vermehrte Großschreibung ist problematisch, da sie Wörter zu Substantiven macht, die eigentlich stehende Formulierungen sind – zum Beispiel bei „im Wesentlichen“. Ein weiteres Problem, das zu vielen Fehlern führt, ist die neue „ss – ß“-Regelung. Seitdem „dass“ statt „daß“ geschrieben wird, ist den Schülern der Unterschied zwischen „dass“ und „das“ kaum noch beizubringen. Ich plädiere dafür, die Reform rückgängig zu machen und nie wieder eine Reform in Gang zu bringen.
Konrad Duden: Der Ursprung
Eine Chronologie
• 1995: Die Kultusministerkonferenz beschließt, dass bis zum 1. August 1998 die neuen Rechtschreibregeln eingeführt werden. Es wird eine Übergangsphase bis 2004/2005 eingeräumt.
• 1998: Ab 1. August gilt die neue Rechtschreibung offiziell in Behörden und an Schulen. Aber alte Schreibweisen werden noch toleriert und nicht als Fehler gewertet.
• 2005: Ab 1. August wird die neue Rechtschreibung zur verbindlichen Praxis in Behörden und Schulen, bei einigen neuen Regeln wie der Getrennt- und Zusammenschreibung waltet noch Milde. Bayern und Nordrhein-Westfalen bleiben erst noch bei der Übergangsregelung und ziehen 2006 nach.
• 2007: Am 1. August stellen die meisten Nachrichtenagenturen auf die neue Rechtschreibung um. Auch Schüler müssen sich nun ausnahmslos daran halten.
br.de 1.12.2015
Übrigens: „Frisör“ las ich schon 1945 als kleiner Junge an einem Friseurladen. Ich habe es behalten, weil ich das damals komisch fand. Der „Frisör“ ist sicher nicht 1995 erfunden worden.
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