Bis heute umstritten
Rechtschreibreform mit Fehlern
Osnabrück/Hannover. Vor 15 Jahren wurde die „neue deutsche Rechtschreibung“ ins Leben gerufen, die Klarheit in das unübersichtliche Regelwerk bringen sollte. Nach der Einführung kritisierten Schriftsteller, Verlage, Eltern und Schulen die Reform aber so heftig, dass sie bis 2006 zweimal nachgebessert wurde. Doch trotz der Reformen der Reform ist die Neuregelung bis heute umstritten.
Auch der heutige niedersächsische Landtagspräsident und damalige Kultusminister Bernd Busemann stellt im Gespräch mit unserer Zeitung klar: „Ein Freund der Reform meiner Amtsvorgänger bin ich nie gewesen.“ Bereits in der heißesten Phase der Diskussion 2004 habe er gesagt, dass Sprache und Rechtschreibung etwas Fließendes seien, das man dem Volk nicht verordnen könne.
Zu Beginn der schrittweisen Einführung der Reform im Jahr 1998 waren sich die Kultusminister aller Länder aber noch einig gewesen und hatten für den Reformentwurf des „Instituts für Deutsche Sprache“ gestimmt. Doch Autoren, Verlage und auch Bürger gingen auf die Barrikaden. Die heute 54-jährige Oldenburgerin Gabriele Ahrens gründete die landesweite Initiative „WIR gegen die Rechtschreibreform“ mit dem Ziel, 70000 Unterschriften für eine Volksinitiative zu sammeln. Sie erreichte immerhin einen Aufschub. Etliche Klagen gingen auch beim Bundesverfassungsgericht ein. In Schleswig-Holstein stellten sich die Bürger in einem Volksentscheid mehrheitlich gegen die Reform, was die damalige Ministerpräsidentin Heide Simonis allerdings unbeeindruckt ließ.
Der Leipziger Linguist Harald Marx, Professor für Pädagogische Psychologie, wies im Jahr 2004 in einem Interview mit unserer Zeitung auf beunruhigende Ergebnisse von Schreibversuchen hin. Sie legten offen, dass einige der neuen Schreibweisen fehlerträchtiger waren als die alten. Vor allem bezüglich der s-Laut-Schreibung zeigten sich negative Auswirkungen: Zum einen machten die Kinder aller Klassenstufen bei den von der Reform betroffenen s-Laut-Wörtern signifikant mehr Fehler, zum anderen übergeneralisierten sie, indem sie offensichtlich die neuen Schreibweisen auch bei s-Laut-Wörtern anwendeten, die nicht von der Reform betroffen waren.
Das Blatt schien sich zu wenden, als sich der damalige niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff überraschend gegen die Neuregelung aussprach, sogar vor einer „Sprachverhunzung“ warnte. Auch andere Politiker meldeten sich kritisch zu Wort. Die Axel Springer AG und der Spiegel Verlag kündigten an, dem Beispiel der FAZ zu folgen und bei der alten Rechtschreibung zu bleiben.
Doch die Hoffnungen der Gegner wurden enttäuscht. „Weil bereits seit 1998 alle Schülerinnen und Schüler nach den neuen Regeln unterrichtet wurden, war eine vollständige Aufhebung der Reform nicht mehr durchsetzbar“, erläutert Busemann, der damalige Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, die Hintergründe. So blieb nur noch,nur noch „die schlimmsten Auswüchse der Reform zu verhindern“. Auch die Tatsache, dass viele Schulbuch- und andere Verlage bereits nach den neuen Regeln abgefasste Bücher druckreif vorliegen hatten, soll bei der Entscheidung aber eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben.
Mit der undankbaren Aufgabe, die Reform zu überarbeiten, wurde der „Rat für deutsche Rechtschreibung“ unter der Leitung von Hans Zehetmair betraut. Im Gespräch mit unserer Zeitung erinnert sich der frühere bayerische Kultusminister an „schwierige und arbeitsintensive Beratungen, um evidente Unebenheiten in der damals bestehenden Reform zu glätten“ und wieder zu einer einheitlichen und verbindlichen Rechtschreibung im deutschsprachigen Raum zu kommen Änderungsvorschläge seien vor allem in den Bereichen Getrennt- und Zusammenschreibung, Interpunktion, Silbentrennung und Groß- und Kleinschreibung erarbeitet worden. Heute könne er mit Zufriedenheit feststellen, „dass die vom Rat erarbeiteten Neuregelungen von den Schreibenden angenommen wurden“. Dies gelte sowohl für die Schulen und Bildungseinrichtungen als auch für die Zeitungs- und Buchverlage.
Auch Busemann sieht die Arbeit des Gremiums insgesamt positiv: „Ihm haben wir es zu verdanken, dass wir heute wieder Nachrichten ans ‚Schwarze Brett‘ heften. Wir dürfen wieder ‚eislaufen‘ statt ‚Eis laufen‘, was niemandem ‚leidtut‘“ , freut er sich. An die Dreifachkonsonanten etwa in „Essstäbchen“, „Fitnessstudio“, „Genusssucht“, „Haselnussstrauch“ oder „Imbissstube“ habe er sich allerdings bis heute nicht gewöhnen können.
Am 1. August 2006 wurde die „Amtliche Regelung der deutschen Rechtschreibung in der Fassung von 2006“ auf Beschluss der Kultusministerkonferenz und mit dem Segen des Bundesverfassungsgerichts dann zur verbindlichen Grundlage des Unterrichts an allen deutschen Schulen. Ihr erklärtes Ziel war es, das Erlernen der Rechtschreibung zu vereinfachen.
Inzwischen gibt es immer mehr Zweifel, ob das wirklich gelungen ist: So hat Wolfgang Steinig , Professor für Germanistik an der Uni Siegen, Schulaufsätze aus drei Jahrzehnten miteinander verglichen. Das Fazit: Die Schüler machten mehr als doppelt so viele Rechtschreibfehler wie vor vierzig Jahren. Das ist sicher nicht allein auf die Reform zurückzuführen, doch vermutlich hat sie daran einen Anteil.
Auch der Germanist Uwe Grund erklärte in einem Gutachten, dass seit der Reform die Rechtschreibfehler bei Schülern eklatant zugenommen haben – in Abituraufsätzen sogar bis zu 120 Prozent. Die Groß- und Kleinschreibung, so Grund, vor allem aber die Schreibung des s-Lautes („s“, „ss“, „ß“) bereite immer noch große Schwierigkeiten. Damit bestätigte er die Befürchtungen, die der Leipziger Linguist Harald Marx bereits 2004 geäußert hatte.
Für Ilka Hoffmann, für Schule verantwortliches Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), ist die Rechtschreibung dagegen durch die Reform tatsächlich logischer geworden. „Das hat das Lehren und Lernen einfacher gemacht“, sagt sie gegenüber unserer Zeitung. Hoffmann weist aber auch darauf hin, dass Rechtschreibregeln nicht alles seien. „Beim Erlernen der Schriftsprache spielen die visuelle und die auditive Wahrnehmung, die Motivation und Vorerfahrungen der Kinder sowie die Schriftsprachkultur in der Familie eine große Rolle.“Die PISA-Studien hätten deutlich gezeigt, dass allein der Besitz von Büchern in einer Familie sehr positive Auswirkungen auf das Erlernen der Schriftsprache habe. „Viele Kinder und Jugendliche haben diesen Zugang zur Schriftsprache aber schlicht nicht .“ Hier soziale Barrieren und Berührungsängste abzubauen, Lesen und Schreiben gezielt und individuell zu fördern, sie eine der wichtigsten Aufgaben des Bildungssystems, die aber leider durch Ziffernnoten und Diktate oft verhindert würde.
Ein Kritiker der ersten Stunde ist der Germanist Theodor Ickler. Er kann der Reform bis heute nichts Positives abgewinnen. „Drei Rechtschreibreformen innerhalb von zehn Jahren haben die Lehrer so verunsichert und frustriert, dass darunter der ohnehin nicht besonders beliebte Rechtschreibunterricht sehr gelitten hat.“ Allerdings strichen die Lehrer kaum noch an, weil sie selbst verunsichert seien, so Ickler gegenüber unserer Zeitung.
Den Printmedien wirft Ickler vor, sich allen Warnungen zum Trotz und ohne Not den Wünschen der Kultusminister unterworfen zu haben. Sie trügen deshalb auch eine Hauptschuld. „Es ist aber nie zu spät“, sagt Ickler. „Eine Zeitung, die zur klassischen Orthographie zurückkehrt, an der ja nichts auszusetzen war, hätte den Beifall fast aller Leser.“ Ickler fordert eine „Reform der Reformen“.
Die findet nach Einschätzung von Busemann schon statt – allerdings außerhalb von Schulen, Amtsstuben und Gremien. Es habe sich insgesamt sehr viel Beliebigkeit in unsere Schreibweisen eingeschlichen, meint der Politiker. Nachrichten per Handy, E-Mails und von anderen elektronischen Diensten würden von Korrekturprogrammen lesbar gehalten. Und Zeitungen und Presseagenturen richteten sich überwiegend nach eigenen Hausorthografien. Auch wenn die sich meist nur in Einzelfällen von der Reform aus dem Jahr 2006 unterschieden, räumt Busemann ein.
Der Emsländer selbst nimmt bis heute besonders an der seiner Ansicht nach oft nicht stimmigen Ableitungen der Schreibung aus der angeblichen Herkunft der Wörter Anstoß: „Als Schafzüchter stört es mich einfach, dass wir uns heute ‚belämmern‘ lassen müssen statt des ursprünglichen ‚belemmern‘.“ Da das Wort vom niederländischen „belemmeren“ stamme, habe es mit Schafen nämlich [... nichts zu tun? – Da fehlt was!]
Ein Artikel von Waltraut Messmann
neue-oz.de 9.9.2013
Leserkommentare
Marco Mahlmann
Die Rechtschreibreform ist eine Schande. Sie wirft die Sprachentwicklung um zweihundert Jahre zurück, sie wurde als Kopfgeburt einer Clique von Linguisten, die sich für klüger hielten als die hundert Millionen deutschen Muttersprachler zusammen, der Sprachgemeinschaft aufgezwungen, sie ist ein Experiment zulasten der Schüler.
Keine der vollmundigen Versprechungen der Reformbefürworter ist erfüllt worden, aber so gut wie alle Warnungen haben genau das beschrieben, was wir heute sehen: Unsicherheit, Anstieg der Fehlerzahlen, Beliebigkeitsschreibung und etliche Hausorthographien, die die einstmals vorbildliche Einheitlichkeit der deutschen Schriftsprache vergessen machen.
Daß ausgerechnet die GEW für die Reform spricht, verwundert nicht. Sie ist eine der treibenden Kräfte; sie hat spätestens seit den siebziger Jahren die Rechtschreibung als Herrschaftsinstrument gegeißelt, das gebrochen gehöre. Wider besseres Wissen hält die GEW die Reform heute für gelungen. Die Reform ist in der Schule durchgesetzt, aber sie wird nicht beherrscht; die Schülerarbeiten sind beredtes Zeugnis.
Schön, daß Sie nicht die Rolle der Medien verschweigen; schreiben Sie bitte auch, warum die NOZ seinerzeit so schnell umgestiegen ist und noch immer an der Reform festhält.
Friederike Heinrich
Frau Hoffmann bringt statt Fakten nur nur politisch korrekte Allgemeinplätze. Kein Wunder, denn WAS ist tatsächlich logischer geworden? Die nunmehr inflationäre Großschreibung wohl kaum. Die Kommasetzung auch nicht, und wegen ihrer Komma-Armut schon gar nicht für den Lesenden. Die ss/ß-Schreibung (Schlussstein) ist anders, aber kaum besser als vorher (vgl. Schlußstein). Machen etwa neu erfundene Schreibvarianten (aufwändig, notwändig, selbstständig, selbststätig) das Lesen einfacher? Oder Leerzeichen mitten im Wort? Oder sogenannte Volks-Ehtühmohlogien, die letzlich einfach nur dumm sind und den Lesenden auch dumm machen? Wenn man die Dame fragte, was ein Adverb sei, bekäme man vermutlich nicht einmal eine brauchbare Antwort. Sie sollte mal bei Wikipedia unter Mehrdeutigkeit nachzulesen, um zu verstehen, was die RechschreibreformErInnen verbrochen haben, aber vermutlich würde das an ihrer politisch diktierten Antwort auch nichts ändern.
Hier noch einige der dümmsten Errungenschaften der sogenannten Reform:
Von vornherein Im Voraus : Was zur Hölle ist ein Voraus
Was ist bei des Öfteren ein "Öfteren? Wessen Öfteren ist gemeint?
Bei Hamburg oder bei Weitem? Von Wolfsburg oder von Weitem? Warum Letzeres, aber dieses und jenes?
Warum schreibt jede(r) Hirni heute am Liebsten und ich möchte Fotografieren und Die Sonne wird auf gehen?
Warum gelten Kommas als böse, und es gilt, sie zu vermeiden?
Die ganze Reform ist von vorn und hinten (von Vorn und Hintern?) Schwachsinn. Sie ist häßlich und ungrammatisch, erhebt das Dumme zur Norm und erschwert das Lesen. Schuld daran ist nicht zuletzt (zu Letzt?) auch der DUDEN mit seinen Empfehlungen, denn er empfiehlt gern Großbuchstaben und Auseinanderschreiberei.
Was hat uns die Reform an Positivem gebracht? Den Verlagen eine goldene Nase und ein paar Profs ein Denkmal (schaut mal, das ist Prof. Dingsbums, der hat das neue Wort aufwändig erfunden und dem rauh das H entfernt! Hurra!!!).
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