Brief an den Bundespräsidenten
Mein Brief, per Mail geschickt. Hier in gekürzter Form:
6. Juli 2004
Sehr geehrter Herr Bundespräsident Köhler,
... Welche Verantwortung trägt ein Politiker Ihres Ranges für das Wohl der Bürger? Wer ist zuständig für die sprachliche Not? Perfide ist der Spruch des Bundesverfassungsgerichts, ein jeder dürfe auch angesichts amtlich vorgeschriebener Schreibnormierung(en) die Orthographie benutzen, die ihm beliebe. Optisch entkommt man den verstümmelten Wörtern ohnehin nicht mehr, der Blickhorizont ist uns längst durch alltägliches Schriftgut mit ss-Wörtern und unsagbaren Wortkrüppeln verstellt. Und dieser Horizont wird täglich enger. Der Verfall guter Schreibsitten in Schrift und Form schreitet voran. Seine Ausdehnung – eine Frage der Zeit. Eine Generation wächst heran, welche nicht mehr teilhaben wird an unserer traditionell gewachsenen Schriftkultur, die ihrerseits die Grundlage für unseren Wohlstand bildet. Unsere Kinder dürfen nicht lernen, daß gute Regeln uns helfen, das Leben zu bewältigen. Statt dessen erleben sie, wie man störende und lästige Regeln einfach ausblenden und umgehen kann. Sie lernen mit Oberflächlichkeit und Lügen zu leben. Sie werden der Kultur ihrer Mütter und Väter entfremdet, und damit diesen selbst.
Regeln und Gesetze haben dienende Funktion. Je besser ein Regelwerk ist, umso weniger stört es. Die besten Regeln sind jene, um die man sich nicht kümmern muß. Das verführt zum Trugschluß, es seien keine Regeln nötig. Diesem Irrtum scheinen bis heute viele Apologeten der neuen Schreibvielfalt aufzusitzen. Die Regeln der Rechtschreibreform sind wie ein Paar schlechtsitzender (nicht schlecht sitzender!) Schuhe. Wir haben uns nach sieben Jahren noch nicht daran gewöhnt, unsere Zehen bluten. Wir sehnen uns nach unseren guten alten Wanderschuhen! Welche Daseinsberechtigung sollen künstliche Sprachregeln besitzen, gegen die nicht nur das Volk aufbegehrt, sondern gegen die auch die geistigen Eliten unserer Sprachgemeinschaft protestieren?
Und die Kosten?
Hat 1996 keiner danach gefragt, sollte auch jetzt nicht danach gefragt werden. Was sind schon eine Handvoll Auflagen fehlerhafter Druckwerke im Vergleich zu Milliarden schön gestalteter und sprachlich ästhetischer Bücher mit Texten der gehobenen Sprache? Sollen diese wirklich der „rauchfreien und geruchlosen“ Beseitigung anheimfallen? Wollen wir der natürlichen Veraltung unserer Schriftkultur vorauseilen? Und damit auch der politischen Kultur?
Und kein Weg zurück?
Wie man die Reform heimlich durch die Hintertür hereingeführt hat, so jage man sie durch dieselbe Tür wieder hinaus! Was vorwärts geht, geht auch rückwärts. Wer das leugnet, sagt die Unwahrheit.
...
Wir wollen diese Reform nicht. Wir möchten, daß unsere Kinder eine Zukunft haben, die aus mehr besteht als aus Handys, Hamburgern und SMS. Wir wünschen uns, daß jemand in diesem Land den Mut findet, dem ideologischen Kesseltreiben gegen Sprache, Pädagogik und Kultur ein Ende zu setzen. Wir wollen uns nicht schon wieder schämen müssen, für das Deutsche ...
Ich, sehr geehrter Herr Bundespräsident, ich weiß, wovon ich spreche. Mein enger Kontakt zu Lehrern und Eltern, den ich aus beruflichen Gründen pflege, gewährt mir Einblick in das Denken und Fühlen, wie es nur in privaten Gesprächen zutage kommt.
Und: Darf man wirklich mit „klammheimlicher Freude“ beobachten, wie Deutschlands geistige Eliten ins Abseits gedrängt und mit Spott und Häme übergossen werden? Eine Gesellschaft, die solches geschehen läßt aus fehlender Ehrfurcht vor Gewachsenem, vor Leistung und Leistungsträgern, vor dem gesprochenen und geschriebenen Wort, untergräbt ihre eigenen Fundamente, so lehrt es die Geschichte. Und sie ist eine wahrlich unerbittliche Lehrerin. Wer nicht freiwillig den nötigen Schritt tut, den wird sie stoßen.
Im Namen der vielen, die ich hinter meinem Anliegen weiß, ersuche ich Sie: Machen Sie der sogenannten Rechtschreibreform ein Ende.
Mit freundlichen Grüßen
Karin Pfeiffer-Stolz
Abschließend darf ich Ihnen herzlich zur Wahl für das Amt des Bundespräsidenten gratulieren und wünsche Ihnen eine glückliche Hand für Ihre künftigen Vorhaben.
Mit großem Interesse las ich Ihre Antrittsrede und kann mich Ihren Aussagen anschließen.
Ein Auszug aus Ihrer Rede:
„Ein zweiter Grund, warum wir uns in Deutschland mit der Erneuerung so schwer tun, ist – ich habe das bereits erwähnt – die Angst zu scheitern. Rückschläge und Irrtümer sind aber Teil des menschlichen Tuns. Wichtig ist, sich nicht aufzugeben, immer wieder Neues anzufangen und sich nicht hängen zu lassen.“
Angst zu scheitern hatten die Rechtschreibreformer wohl nicht. Daß Irrtümer zum menschlichen Tun gehören, ist ihnen offenbar auch fremd, sonst würden sie nicht auf Fortsetzung eines gescheiterten Experiments beharren. Wir aber, die wir unsere Sprache lieben und ihr wieder zu einer angemessenen Form verhelfen wollen, werden uns ganz gewiß nicht von den Reformern „hängen lassen“. Wir mögen wie Aufständige erscheinen, aber Gangster sind wir nicht, und der Tod durch den Strang ist längst abgeschafft.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident: Ein schöneres Beispiel vom blühenden Unsinn der sogenannten Reform hätten Sie dem Volk gar nicht unterbreiten können wie diesen Satz aus Ihrer Antrittsrede!
Wir freuen uns auf Ihre Unterstützung!
PS.
Darf ich mich kurz vorstellen?
Ich bin 1948 in Salzburg geboren und dort zur Schule gegangen. Meine Schule, das war eine Tafel-und-Kreide-Schule. Wir haben auswendig gelernt und viel geschrieben. Wir haben erfahren, daß Sprache etwas Schönes ist, das bleibenden Wert besitzt. Daß Bücher gute Freunde sind, die einen durchs Leben begleiten. Ich zehre noch heute vom Schulunterricht. Mit zwanzig verschlug es mich nach Köln. Ich wurde Lehrerin. Aus dem Schuldienst schied ich aus, um mich ganz dem Schreiben zu widmen. Ich verfasse hauptsächlich Lernhilfen.
In den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts wurden wir daran gewöhnt, daß es ständig Reformen gab: in der Pädagogik, in der Gesellschaft. So sah ich in der Rechtschreibreform zunächst nichts anderes als eine weitere Reform, mit der man sich anfreunden mußte, kam sie einem anfangs auch noch so fremd und unsinnig vor. Weil ich für die Schule schreibe, blieb mir nichts anderes übrig, als die Reform mitzutragen, glücklich war ich darüber nicht. Wir haben uns von Anfang an eine Hausorthographie zugelegt und waren erstaunt, als die Zeitungen drei Jahre später genau dasselbe taten.
Anfang des Jahres 2004 meldeten sich mir starke Zweifel über Sinn und Inhalt der Reform. Ich begann mich intensiv mit der Materie auseinanderzusetzen. Die Folge war, daß ich mich öffentlich von der Reformschreibung distanzierte, genau wie die F.A.Z. Es ist nicht auszuschließen, daß es anderen Personen ähnlich ergeht, sobald sie einmal gezwungen sind, sich die neuen Regeln aneignen zu müssen. Sie sind unverdaulich.
Es muß sich deshalb auch niemand schämen, der anfangs mitgemacht hat. Man sollte jeden ermuntern, seine Meinung zu ändern, wenn es angebracht ist. Was sind das für Menschen, die vorschlagen, einen Weg weiterzugehen, von dem alle erkannt haben, daß er in die Sackgasse führt?
Der einzige Zweck der Schrift ist, gelesen zu werden.
Schrift ist nicht für die Schüler erfunden worden.
Hingegen hat Schule die Aufgabe, die von den Erwachsenen und Gebildeten gepflegte Schriftkultur zu vermitteln.
Die Schule hat nicht das Recht, die Sprache für pädagogische Zwecke zu verändern.
Die Schule sei Dienerin der Sprache, nicht ihre Herrin!
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Karin Pfeiffer-Stolz
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