Reformgeschäfte?
Aus dem Börsenblatt vom 3. Mai 2002
Rotstiftregiment
Veraltete Schulbücher, schlecht ausgestattete Schulen und Schüler, die international den Anschluss verlieren: Der Sparkurs im Bildungsbereich hat Konsequenzen. Das bekommen auch die Verlage zu spüren. Höchste Zeit für eine Trendwende doch die ist nach Meinung von VdS-Geschäftsführer Andreas Baer nicht in Sicht.
Die schwache Konjunktur trifft die Schulbuchverlage doppelt: Die Verkäufe im Sortiment stagnieren, und die öffentlichen Aufträge sind wegen sinkender Etats rückläufig. Um ihre Zukunft zu sichern, müssen die Häuser investieren oder einen stärkeren Partner suchen: Jüngstes Beispiel ist der Schöningh Verlag das bisher unabhängige Haus hat seine Schulbuchsparte rückwirkend zum 1. April an die Westermann Verlagsgruppe verkauft.
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Die Schulbuchausgaben sind seit 1991 kontinuierlich zurückgegangen. Der VdS Bildungsmedien, ehemals Verband der Schulbuchverlage (VdS) spricht von einer »Ausstattungskatastrophe in den Schulen«. Seit Jahren protestiert die Interessenvertretung gegen die »Rotstiftpolitik« bei der Bildung. Nur ein grundsätzliches Umdenken könne die Misere beheben, mein Andreas Baer im Gespräch mit Börsenblatt-Mitarbeiter Eckart Baier.
Hat sich die wirtschaftliche Lage der Schulbuchverlage dramatisch zugespitzt?
Die Verlage sind wegen der schlechten Rahmenbedingungen in einer schwierigen Situation. Länder und Kommunen geht es finanziell miserabel, und das schlägt voll auf den Bildungsmarkt durch. Die Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand werden immer rigider, und die Verlage sind zum Teil von den öffentlichen Mitteln abhängig. Gleichzeitig zu den verschlechterten finanziellen Rahmenbedingungen finden wesentliche bildungspolitische Strukturveränderungen statt. Diese zwingen die Verlage zu neuen Investitionen.
Können Sie Beispiele nennen?
Da wäre etwa der frühe Fremdsprachenunterricht in vielen Bundesländern. Oder Niedersachsen, das seine komplette Schulstruktur ändert. Bayern setzt derzeit eine umfangreiche Lehrplanreform um, in Baden-Württemberg steht dies in zwei Jahren an.
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(Das Gespräch dreht sich dann um die finanzielle Misere der Kommunen, die anwachsende Schülerzahl, den stagnierenden Markt auch bei den neuen Unterrichtsmedien, Kritik an falschem Einkaufsverhalten der Schulen, die sich auf Hardware konzentriert und die Inhalte vernachlässigt, und schließlich um Pisa.)
Der Verband warnt seit Jahren vor weiteren Kürzungen bei der Bildung. Ist die »Pisa«-Studie für Sie eine Genugtuung?
Nein, absolut nicht wir sind vom Ergebnis nur nicht besonders überrascht. Am meisten bedrückt uns die Tatsache, dass »Pisa« einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsleistung feststellt: Kinder aus sozial schwachen Familien schneiden im Leistungsvergleich schlechter ab, als Schüler, die in sozial gesicherten Verhältnissen leben. Wir befürchten, dass Deutschland bei der Bildung auf dem Weg in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft ist.
Gibt es Ansätze für eine Bildungsreform?
Da haben wir eine groteske Situation: Die Kultusministerkonferenz hat fünf Handlungsfelder benannt, in denen die Länder aktiv werden sollen. Die Antwort der Länder: Wir haben schon vor »Pisa« die Weichen gestellt und sind auf dem richtigen Weg.
(Ende des Interviews)
Was lernen wir daraus?
1. Die Rechtschreibreform, die die Öffentliche Hand mit ungeheuerlichen Summen belastet hat und noch belastet, wird bei diesem Gespräch mit keinem Wort erwähnt, bestenfalls unter »veraltete Schulbücher« keusch angedeutet. Ein seltsamer Konsens des Verschweigens scheint bei diesem Thema zwischen Tätern und Opfern zu herrschen.
2. Die Kultusministerien setzen eine von ihnen selbst als unausgegoren erkannte Rechtschreibreform in Kraft in einer Situation, wo sie wissen müssen, daß die öffentlichen Ausgaben für die Bildungspolitik drastisch zurückgedreht werden, so daß die Anschaffung der neuen Schulbücher auf jeden Fall zu einem Problem werden mußte.
3. Die Warenlager der Schulbuchverlage, Millionen inhaltlich völlig aktueller aber aufgrund der Reform lediglich orthographisch plötzlich »veralteter« Schulbücher, werden von heute auf morgen wertlos. Das ist ein finanzieller Aderlaß, der für kleinere Schulbuchverlage zur Existenzbedrohung wurde, manche konnten nur weiterexistieren, indem sie ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit aufgaben und ihre Anteilsmehrheiten größeren Verlagen übertrugen.
Unglaublich, wie auf der einen Seite über jeden Pfennig Porto- oder Benzinpreiserhöhung, jedes Prozent Lohn oder Rente oder die für die meisten Normalbürger sowieso kaum durchschaubaren Steuerreformen in der Öffentlichkeit herumgezetert wird, hingegen diese finanzpolitisch, verlagswirtschaftlich, kulturell und insbesondere sprachwissenschaftlich so offenkundig skandalöse Fehlleistung der »Rechtschreibreform« mit einer Art Freude an der Selbsterniedrigung nicht nur hingenommen, sondern geradezu als Segen gefeiert wird.
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Walter Lachenmann
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