heute magazin
7.8.2004
Rechtschreibung: Schweiz und Österreich ziehen nicht mit
Erziehungsdirektor befürchtet Chaos im Unterricht Streit in Deutschland
Die großen Zeitungen in Österreich und der Schweiz wollen vorerst nicht zur alten Rechtschreibung zurückkehren. Der Präsident der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) in der Schweiz, Hans Ulrich Stöckling, kritisierte den Trend in der deutschen Medienlandschaft außerdem scharf. Für die Schweizer Schulen wäre eine Rückkehr eine fatale Entwicklung, sagte er der Neuen Zürcher Zeitung.
07.08.2004
Viele Medien kehren zur alten Rechtschreibung zurück. Wie finden Sie das?
Gut. Die Reform muss verhindert werden.
Schlecht. Das verwirrt die Leser nur zusätzlich.
Abstimmen
Ergebnis zeigen
Das EDK entspricht etwa der deutschen Kultusministerkonferenz. Sollte die Reform in Deutschland zurückgenommen werden, müsste dem auch die Schweiz folgen, sagte Stöckling. Sollte dies aber tatsächlich nötig werden, dann prophezeie ich das absolute Chaos im Unterricht. In der Schweiz wüsste man gar nicht, zu welchem Regelwerk man zurückkehren sollte.
Die Schweiz habe diese Rechtschreibreform in bindender Terminabsprache mit den andern deutschsprachigen Ländern erfolgreich umgesetzt sowie sämtliche Lehrmittel bis hin zu den Rechtschreibeprogrammen im Computer umgestellt. Den Lehrern sei in teuren Kursen beigebracht worden, wo sie bei Schülerarbeiten den Rotstift ansetzen müssen.
Wenn jetzt die Uhr wieder zurückgedreht wird, dann werden weder Schüler noch Lehrer wissen, welche Regeln denn nun gelten. Dann droht die völlige Verwilderung der Sprache, weil sich niemand mehr um irgendwelche Schreibregeln kümmern wird, sagte Stöckling. Erhebungen hätten gezeigt, dass die jungen Schüler mit den neuen Regeln weniger Fehler machten als vorher.
Populistische Entscheidung
Ähnlich argumentieren viele Lehrer- und Elternverbände in Deutschland. Der Bayerische Elternverband (BEV) übte deutliche Kritik: Das ist eine populistische Entscheidung, so die BEV-Vorsitzende Ursula Walter. Sie plädierte für eine Beibehaltung der neuen Regeln. Müssten die Schüler tatsächlich zur alten Rechtschreibung zurückkehren, müsste wertvolle Unterrichtszeit für das nochmalige Umlernen eingesetzt werden. Es gebe in der Sprache Wichtigeres als die Rechtschreibung, sagte Walter.
Mit einer Reform der Reform werden Kinder zu Versuchskaninchen für die Anhäufung unterschiedlicher Schreibweisen gemacht.
Die Rückkehr großer Zeitungsverlage zur alten Rechtschreibung führt nach Ansicht des Philologenverbands Baden-Württemberg zu einer großen Verunsicherung von Schülern, Lehrern und Eltern. Der neu entflammte Streit sei ein Sommertheater mit verheerenden Folgen, sagte am Samstag der Verbandsvorsitzende Karl-Heinz Wurster in Stuttgart. Mit einer Reform der Reform werden Kinder zu Versuchskaninchen für die Anhäufung unterschiedlicher Schreibweisen gemacht. Gerade jüngere Schüler hatten die Reform gut angenommen.
Missachtung der Lehrerarbeit
Eine Abkehr vom neuen Regelwerk wäre auch eine unverzeihliche Missachtung der Lehrerarbeit, sagte Wurster. Die mit großem Aufwand erstellten Unterrichtsmaterialien zu dem Thema wären dann schon wieder veraltet. Der Philologenverband, der die Interessen von Gymnasiallehrern vertritt, warnte vor einer gewaltigen Kostenlawine bei den Schulbuchverlagen im Fall einer radikalen Umstellung. Für sinnvolle Korrekturen müsse ein von Experten begleiteter mehrjähriger Vorlauf gewährleistet sein.
Die österreichische Presse wird nicht zur alten Rechtschreibung zurückkehren. Wie die Nachrichtenagentur APA am Freitag berichtete, haben alle bedeutenden überregionalen und Wiener Tageszeitungen angekündigt, bei der bisherigen Rechtschreibreform zu bleiben.
Leser irritieren
Wir sind als Zeitung ja nicht die Institution, die darüber zu richten hat, betonte der Chefredakteur des linksliberalen Standard, Gerfried Sperl, laut APA. Eine Rückkehr zu den alten Schreibweisen würde gerade die junge Leserschaft irritieren, um die man sich besonders bemühe: Die Kids müssen die neue Rechtschreibung lernen. Gerade um diese Zielgruppe müsse man aber kämpfen.
Auch das auflagenstarke Boulevardblatt Kronenzeitung bleibt laut Chefredakteur Michael Kuhn zähneknirschend bei der Reform. Wir wollen die Kinder nicht mit einer anderen Rechtschreibung verunsichern als der, die sie in der Schule lernen, meinte er. Auch der Kurier, kündigte an, das zu machen, was Konvention ist und bleibe bei der neuen Rechtschreibung.
(Foto)
reuters
Guido Westerwelle
Streit um die Schreibwweise
In Deutschland streiten die politischen Parteien inzwischen erbittert um die künftig richtigen Schreibweisen. Mehrere SPD-Ministerpräsidenten sprachen sich am Samstag für die Beibehaltung der Rechtschreibreform aus, der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle dagegen. Zuvor hatten bereits einige Unions-Ministerpräsidenten, darunter CSU-Chef Edmund Stoiber, für die Abschaffung der Reform plädiert wobei es allerdings parteiinterne Gegenstimmen gab.
Für den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck hat die Ankündigung der Verlage viel mit Kampagne und Public Relations, aber wenig mit Inhalt zu tun, wie der SPD-Politiker dem Tagesspiegel sagte. Der brandenburgische Bildungsminister Steffen Reiche (SPD) verwies in der Berliner Zeitung darauf, dass mit der Reform viele alte Ausnahmeregelungen sinnvollerweise aufgegeben worden seien.
07.08.04
Rechtschreibreform: Rückkehr oder nicht?
"Überflüssig wie ein Kropf
Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle will dagegen für die Rücknahme der Rechtschreibreform kämpfen. Die neue Rechtschreibung ist so überflüssig wie ein Kropf, sagte er der Welt am Sonntag. Daher könne und sollte sie rückgängig gemacht werden. Die Rücknahme soll nach dem Wunsch des niedersächsische Ministerpräsidenten Christian Wulff schon im Herbst erfolgen. Damit würde man dem Wunsch einer großen Mehrheit der Deutschen nachkommen, sagte der CDU-Politiker der Bild am Sonntag. Widerspruch erntete Wulff jedoch von seinem ostdeutschen Unionskollegen Dieter Althaus. Der thüringische Ministerpräsident sagte der Berliner Zeitung: Ich bin gegen eine Reform der Reform.
Reformdebatte
Rechtschreibreform: Politiker fordern Volksentscheid
Weiss: Unsinnige Neuerungen ändern
Der Geschäftsführer der Rechtschreibkommission, Klaus Heller, sagte der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, er halte den Boykott der neuen Regeln für unmoralisch, da die Rechtschreibreform ein jahrzehntelanger demokratischer Prozess gewesen sei. Es kann doch nicht sein, dass in der Schule etwas gelehrt wird, das anders ist als das, was man liest, kritisierte er.
Rückkehr angekündigt
Axel Springer und Spiegel hatten am Freitag überraschend die Rückkehr zu den alten Regeln angekündigt. Grund sei die mangelnde Akzeptanz der Reform in der Bevölkerung. Die Süddeutsche Zeitung will sich anschließen; die FAZ boykottiert die Reform schon seit Jahren. Spiegel-Chef Stefan Aust lobte am Samstag im Inforadio Berlin-Brandenburg die FAZ: Das war damals sehr mutig und der richtige Schritt. Wir hätten im Grunde gleich mitmachen sollen.
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