N24
09. August 2004
Aktenzeichen Rechtschreibung
Kanzler gegen Rücknahme der Reform
Bundeskanzler Gerhard Schröder hält eine Rücknahme der Rechtschreibreform für falsch. Das bekräftigte der stellvertretende Regierungssprecher Hans-Hermann Langguth am Montag in Berlin. Er verwies aber zugleich darauf, dass es sich um eine Angelegenheit der Länder, insbesondere der Kultusminister der Länder, handele.
Seitens der Bundesregierung gibt es keine Überlegungen, die Rechtschreibreform wieder rückgängig zu machen, sagte Langguth auf entsprechende Journalistenfragen. Ein Sprecher des Bildungsministeriums ergänzte, dass die Bundesregierung seines Wissens auch nicht ins Spiel komme, wenn es um die Einbindung der Schweiz oder Österreichs in eventuelle Änderungen der beschlossenen Rechtschreibreform gehe. Er verwies darauf, dass die Länder vor wenigen Wochen einstimmig beschlossen hätten, die Änderungen der Rechtschreibreform im Jahre 2005 für verbindlich zu erklären.
Die Sprache gehört dem Volk
Der Chefredakteur der Bild am Sonntag, Claus Strunz, hat inzwischen eine Volksabstimmung über die Rechtschreibreform gefordert. Es gab nur einen klugen Satz in der Debatte im Bundestag: Die Sprache gehört dem Volk. Dann fragt es, sagte Strunz am Samstagabend in der ARD-Sendung Sabine Christiansen. Der politischen Klasse warf er Verhuschtheit vor, weil sie die Menschen, um die es geht, gar nicht mehr fragt.
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Doris Ahnen, lehnte eine Volksabstimmung über die Reform hingegen ab. Die Mehrzahl der Deutschen habe ganz andere Sorgen. Ahnen verwies auf den einstimmigen Beschluss der KMK, die Rechtschreibreform zum 1. Juli 2005 einzuführen. Zur guten Demokratie gehört auch Verlässlichkeit. Wir können nicht alle drei Tage die Pferde wechseln, sagte die rheinland-pfälzische Kultusministerin.
Rüttgers: Jeder kann schreiben, wie er will
Der CDU-Vizevorsitzende Jürgen Rüttgers kritisierte bei Sabine Christiansen vor allem die mangelnde Einheitlichkeit der Rechtschreibregeln seit der Reform. Etwa ein Fünftel der Worte könne jetzt jeder schreiben, wie er will. Das ist doch das institutionalisierte Chaos, bemängelte Rüttgers. Er forderte, die Reform mit Vernunft zu überarbeiten und nicht von oben zu degradieren. Dazu sei jetzt die letzte Chance.
Dagegen verwies der Vorsitzende der Rechtschreibkommission, Karl Blüml, darauf, dass die Reform Ausnahmen von Regeln abschaffe. Das Hauptziel war es, den Menschen zu ermöglichen, nach einer Grundregel zu schreiben. Bei der Groß- und Kleinschreibung habe sich die Treffsicherheit von 60 auf 95 Prozent erhöht. Den Verlagen, die zur alten Rechtschreibung zurückkehren wollen, warf Blüml pädagogische Verantwortungslosigkeit vor. Nachbesserungen seien zwar nötig, er gehe aber davon aus, dass die bereits vor sechs Jahren eingeführte Reform Bestand haben werde.
Augst: Nackte Pressegewalt
Der Bundesverband Junger Unternehmer (BJU) kündigte unterdessen ebenfalls einen Boykott der neuen Rechtschreibung an. BJU-Vorsitzende Karoline Beck sagte der Bild-Zeitung (Montagausgabe): Wir empfinden die Reform als Diktat. Der Schritt einiger Verlage, zur alten Rechtschreibung zurückzukehren, sei eine Abstimmung mit den Füßen.
Der frühere Kommissions-Vorsitzende Gerhard Augst erklärte im Tagesspiegel, repräsentative Umfragen zeigten, wie gut die Reform laufe. Von der "überwältigenden Mehrheit der Lehrer werde sie gelobt, Zeitungen hätten sie zu 97 Prozent richtig angewandt. Augst äußerte die Vermutung, dass es beim Protest der Verlage gar nicht um die Rechtschreibung gehe, diese wollten vielmehr ihre nackte Pressegewalt einsetzen, um zu zeigen, dass sie eine Reform stoppen könnten.
Duden: Rechtschreibung eine amtliche Sache
Der Leiter der Duden-Redaktion, Matthias Wermke, zeigte sich fast sicher, dass es bei der vorgesehenen Umsetzung 2005 bleiben werde. Der derzeitige Aufstand gegen die Reform werde keine große Wirkung haben, da dahinter kein Konzept stehe, betonte Wermke.
Er unterstrich zugleich unter Verweis auf die Reform von 1903, dass die Rechtschreibung im Deutschen immer eine amtliche Sache gewesen sei. Auch damals sei die Reform von Politikern verabschiedet worden. 1998 habe das Bundesverfassungsgericht zudem bestätigt, dass die Einführung von Rechtschreibregeln an den Schulen Sache der Kultusminister sei.
Schriftsteller offenbar gespalten
Unter den Autoren ruft der neu entflammte Streit unterschiedliche Reaktionen hervor: Während Walter Kempowski in der Financial Times Deutschland von einer guten Nachricht sprach, erklärte Ingrid Noll: Die ganze Aufregung nervt mich. Sprache sei ein Teil der Kultur, die Rechtschreibung sei aber nur ein Hilfsmittel. Darum so viel Wind zu machen, finde ich kleinkariert, so Noll.
Autor Wolfgang Menge erklärte, ihm sei unklar, warum die Initiative jetzt komme: Wahrscheinlich hängt das mit dem Sommerloch zusammen. Der Philosoph Peter Sloterdijk nannte die Verlage genauso wenig befugt, eine Rechtschreibreform durchzuführen, wie die Kommission, die das seinerzeit beschlossen hat. Das sind zwei Formen der Anmaßung, die sich gegenseitig aufheben.
Dagegen sagte Walter Kempowski, er habe sich sehr gefreut über die Initiative der Verlage und hoffe, dass ihnen andere folgten.
Zurücknehmen oder Übergangszeit verlängern?
Der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff, der die neuerliche Debatte angestoßen hatte, sagte im Bayerischen Rundfunk, es sei nie zu spät, eine falsche Reform zurückzunehmen. Er hoffe, dass sich kein Ministerpräsident querlegt. Bisher befindet sich Wulff als Befürworter einer Reformrücknahme bei den Länderchefs in der Minderheit.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, sagte, er erwarte, dass die Ministerpräsidenten das Thema auf ihrer Tagung im Herbst behandeln und dann hoffentlich eine rasche Entscheidung finden wie immer sie auch aussehen mag. An den Schulen hoffe man auf ein Ende der Debatten und wünsche sich wieder Klarheit über die Rechtschreibnormen. Kraus betonte zugleich, seiner Auffassung nach sollten die Ministerpräsidenten die Kultusminister verpflichten, die derzeit geltende Übergangsphase, in der sowohl die alte als auch die neue Rechtschreibung gelte, über 2005 hinaus um mindestens fünf Jahre zu verlängern.
(N24.de, AP, AFP, ddp)
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