Rechtschreibung und Pädagogik
In unserem Januarkatalog wird zum Thema Schreiben sachlich aufgeklärt. Unter anderem drucken wir folgenden Text ab:
Die „Diktatphopie“
Seit einigen Jahrzehnten wird die Deutschdidaktik von der akademischen Meinung beherrscht, nach der das Schreiben von Diktaten unerwünscht, ja sogar schädlich sei, weil es die Kinder ängstige und demotiviere. Dabei wird fälschlicherweise vorausgesetzt, daß das Diktat allein der Disziplinierung diene. Natürlich ist es dem Lehrer möglich, über das Schreiben von Diktaten Druck auszuüben. Doch wer es darauf angelegt hat, Kinder zu entmutigen, wird dazu nicht unbedingt das Diktat brauchen, es finden sich genügend andere Anlässe. Auffällig ist die Mißerfolgsorientierung der „progressiven“ Pädagogik, wenn sie über Dikate spricht. Dabei kann jedes Kind gerade beim Schreiben von Diktaten Erfolge erzielen. Voraussetzung ist natürlich, daß zuvor geübt wird und das Schreiben in freundlicher Atmosphäre stattfindet.
Das Diktatschreiben schult verschiedene Fähigkeiten, die in den Lehrplänen aller Schulfächer als Zielvorgaben angeführt sind:
– das aufmerksame Zuhören,
– die Konzentration,
– die Ausdauer,
– „stilles“ Mitdenken und Memorieren,
– Genauigkeit und Sorgfalt,
– und schließlich die Orthographie selbst.
Das Schreiben nach Diktat steigert das Gefühl für die Sprache, für ihre Melodie, für Grammatik und Stil.
Niemals sonst wird ein Kind so genau hinhören und nachdenken, als wenn es einen Text diktiert bekommt. Außerdem muß man das Diktat ja nicht benoten!
Regelmäßig durchgeführte Übungsdiktate sind eine einfache und überaus wirksame Übungsform, die von den Kindern auch gern akzeptiert wird. Das wöchentlich stattfindende Übungsdiktat wird zum Ritual, das sogar heftig herbeigesehnt wird, weil Erfolgserlebnisse winken. Diese Erfahrung habe ich während meiner Zeit als Lehrerin machen können – sowohl in der Grund- als auch in der Hauptschule.
Wenn man in einschlägiger Fachliteratur zum Thema „Diktat“ nachliest, wird man meist auf den Ratschlag stoßen, die Kinder mögen sich das Rechtschreiben mit Hilfe von Selbstdiktaten (auf Tonband gesprochen), Dosen- oder Laufdiktaten selbst beibringen. Sie sollen sich selbst motivieren und korrigieren, ohne Hilfe von Erwachsenen. Welch unrealistischer Vorschlag! Nichts ist besser geeignet, die Motivation der Kinder zu zerstören, als ein derart unpersönliches Vorgehen, aus dem der Lehrer sich auch noch heraushält! Kinder benötigen persönliche Zuwendung in Form von Anleitung, Vorbild, Korrekturen usw. Das schöne Bild vom Menschen, der „selbstmotiviert“ lernt, also quasi in die „Einsamkeit“ hinein, ist nichts als eine pädagogische Utopie. Selbst wir Erwachsenen möchten immer wissen, für wen oder was wir lernen. Erst recht Kinder!
Geradezu abenteuerlich ist die Methode, die nach Anlauttabelle im ersten Schuljahr geschriebenen „Texte“ nicht zu korrigieren, weil dabei angeblich die Motivation der Schüler verlorenginge. Wer das vorschlägt, hat nicht erkannt, daß Kinder sehr wohl korrigiert werden möchten. In ihrem dringenden Wunsch zu lernen fühlen sie sich nicht ernstgenommen, wenn ihre fehlerhaften „Kreativtexte“ gelobt werden. Kinder fühlen intuitiv, daß sie hier nicht „Leistung“ erbringen. Die Kuschelpädagogik fördert nicht etwa, nein, sie mindert die Lust am echten Lernen, und darüber hinaus schädigt es das Vertrauen in die Erwachsenen.
Wir enthalten unseren Kindern eine wichtige Form des Lernens vor, wenn wir ihnen in den ersten Schuljahren nicht regelmäßig kleine Texte diktieren. Letztlich ist auch das Schreiben von Aufsätzen nichts anderes als eine Art „Eigendiktat“: ein Strom von Worten, die aus dem Gedächtnis abgerufen und notiert werden.
Karin Pfeiffer-Stolz
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Karin Pfeiffer-Stolz
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