Einen Beitrag zur Bekämpfung von Legendenbildung kann vielleicht folgender Lexikoneintrag liefern, der dem Brockhaus der Jahrhundertwende 19./20. Jh. entnommen wurde. Der betreffende Band ist genauer gesagt von 1903, also ganz frisch nach der 2. Orth. Konferenz, von der ja sehr umstritten ist, ob man sie berechtigterweise als Reform ähnlich der heutigen bezeichnen kann. Der Artikel verschafft da eine ganz gute Übersicht der Historie und ist auch aufgrund der in ihm selbst benutzten Schreibweisen ganz interessant.
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Rechtschreibung, Orthographie, der Inbegriff der Regeln, nach denen die Sprache durch Schriftzeichen dargestellt werden soll. Sie scheidet sich in die Lehre von der Darstellung der einzelnen Wörter durch Buchstaben (Orthographie im engern Sinne) und in die Lehre von den Satzzeichen (Interpunktion, s. d.). Die Darstellung der einzelnen Wörter durch Buchstaben beruht auf der Idee einer Lautschrift. Diese Lautschrift, im Unterschied von der Begriffsschrift, zerlegt das gesprochene Wort in seine einzelnen Laute und stellt jeden dieser Laute durch ein besonderes Zeichen dar. Jede Lautschrift muß aber notwendigerweise den ihr zu Grunde liegenden Gedanken «Schreib wie du sprichst» in sehr unvollkommenem Maße verwirklichen. Das gilt selbst von der verhältnismäßig vollendetsten Lautschrift, der phonetischen Schreibweise, d.h. derjenigen, der sich moderne Sprachgelehrte zum Zweck einer wissenschaftlich genauen schriftlichen Wiedergabe der Aussprache bedienen. Denn man hat erkannt, daß die einzelnen Laute nur einen Teil, sozusagen das Knochengerüst des Wortes darstellen, während sämtliche Übergangselemente von Laut zu Laut gar nicht abgegrenzt werden können und überdies von so mannigfacher Schattierung sind, daß eine schriftliche Wiedergabe jedes einzelnen schon an der Unzahl der anzuwendenden Zeichen scheitern würde. Der phonetischen R. steht die historische gegenüber. Die Geschichte der R. sämtlicher Sprachen mit Buchstabenschrift ist ein fortwährender und nie ausgleichbarer Kampf zwischen der phonetischen und der histor. Schreibweise. Die Aussprache hat sich in allen Sprachen im Laufe der Zeit verändert, und stets ist die R. konservativer gewesen, also hinter der lebendigen Aussprache zurückgeblieben. So ist es gekommen, daß man schließlich so schrieb, wie man in frühern Jahrhunderten gesprochen hatte. Je größer so der Gegensatz zwischen R. und Aussprache wurde, um so lebhafter empfand man das Bedürfnis, erstere der letztern entsprechend zu modernisieren, d.h. die veraltete historische R. durch eine neue phonetische zu ersetzen. Natürlich mußte auch diese neue phonetische R. im Laufe der Zeit wieder eine historische werden. Verhältnismäßig am strengsten historisch ist jetzt die englische R., die etwa die Aussprache des ausgehenden Mittelalters wiedergiebt. Das Sanskrit im Altertum, das Italienische in der Gegenwart nähern sich am meisten der phonetischen R. Der Deutsche meint zumeist so zu schreiben, wie er spricht. Dies ist jedoch ein Irrtum; vgl. z.B. ie für langes i, beruhend auf der frühern (süddeutschen) diphtongischen Aussprache ië; h als Dehnungszeichen; die beiden Buchstaben ch für den Reibelaut; die drei Buchstaben sch, früher s-ch gesprochen; die verschiedene Aussprache von st im Anlaut und im Inlaut; die in der Aussprache nicht entsprechend vorhandene Scheidung von e und ä; das b und d im Wortauslaut, wo wir p und t sprechen; die in der Aussprache nicht vorhandene Scheidung von ß und s u. s. w. Beispiele wie die letztern zeigen, daß außer dem phonetischen und dem histor. Princip auch noch das etymologische die R. beeinflußt: wir schreiben «lieb» oder «glaubt» nicht mit p, sondern mit b, weil es «lieben» und «glauben» heißt.
Die Geschichte der deutschen R. beginnt mit dem schriftlichen Gebrauch der deutschen Sprache überhaupt. Eine einheitliche deutsche R. gab es im Mittelalter so wenig wie eine einheitliche Aussprache. Es gab vielmehr bestimmte orthographische Kreise, ausgehend von einigen wenigen Klosterschulen, von denen für die altdeutsche R. die St. Galler die wichtigste gewesen ist. Neben der St. Galler Schule erlangte in der althochdeutschen Zeit besonders die rheinfränkische R. durch die Litteratur einen größern Einfluß, diese im Mittel-, jene im Oberdeutschland. Ein drittes litterar. Centrum mit mundartlicher R. bestand am Niederrhein; die niederländische R. hat für ganz Niederdeutschland einen maßgebenden Einfluß erlangt, solange Niederdeutsch überhaupt eine Litteratursprache gewesen ist.
Die mittelhochdeutsche Litteratur weist eine verhältnismäßig einheitlichere R. auf als die althochdeutsche, wenngleich sie in Wirklichkeit viel stärkere mundartliche Unterschiede zeigt, als sie in unsern normalisierten mittelhochdeutschn Texten zu Tage treten. Diese R. setzt die althochdeutsche nur zum Teil fort. In keiner Zeit hat sich die deutsche R. mehr dem Ideal einer phonetischen R. genähert, als im 12. und 13. Jahrh., der Blütezeit unserer mittelalterlichen Litteratur. Hier war es besonders der Einfluß der Hohenstaufen, der der oberdeutschen, speciell schwäb. Schreibweise eine weitere Geltung verschaffte.
Von einer gemeindeutschen R. kann eigentlich erst seit dem 15. Jahrh., genauer noch seit Luther die Rede sein. Ihre Geschichte ist mit der unserer neuhochdeutschen Schriftsprache untrennbar verbunden (s. Deutsche Sprache). Wenn man z. B. auch dort, wo man «Zît» und «Hûs» sprach, anfing, nach dem Vorbild der kaiserl. Kanzlei und Luthers «Zeit» und «Haus» zu schreiben, so empfand man dies in der That als eine orthographische Frage. Wie unsere Schriftsprache im wesentlichen mitteldeutscher Sprechweise entspricht, so auch unsere R. Luther selbst hat an seiner ursprünglichen R. manches geändert. Seine R. war für die Folgezeit vorbildlich, wenn auch im 17. Jahrh. unsere R. stark verwilderte, besonders durch unsinnige Anhäufung von Konsonanten. Über die Thätigkeit der Grammatiker des 16., 17. und 18. Jahrh. bei der Festlegung unserer modernen R. s. Deutsche Sprache. Der Grundsatz der bedeutendsten Grammatiker, wie Schottel, Gottsched, Adelung, «Schreib, wie du sprichst», hat sich nur in geringem Maße als durchführbar erwiesen. Unsere R. ist seit Luther immer mehr eine historische geworden. Gegen Ende des 18. Jahrh., zur Zeit der höchsten Litteraturblüte, war unsere R. im wesentlichen festgestellt. Nur in einzelnen Punkten haben sie dann J. Chr. A. Heyse u.a. in den in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrh. noch weiter gebildet, und zwar auf dem von Adelung (1787) und seinen Vorgängern betretenen Wege. Seit Jakob Grimm in seinen bahnbrechenden Werken auf dem Gebiete der deutschen Sprachgeschichte (Deutsche Grammatik, 1819-40) vorangegangen war, haben die deutschen Sprachgelehrten angefangen, auf eine radikalere Vereinfachung unserer R. nach phonetischen Grundsätzen zu dringen, und man findet in der wissenschaftlichen Litteratur vielfach eine einfachere R. durchgeführt, als sie sonst üblich ist. Besonders strebt man dahin, zu den lat. Buchstaben wieder zurückzukehren und alle Hauptwörter klein zu schreiben. Diese Bestrebungen sind bisher noch nicht durchgedrungen.
Im J. 1876 trat auf Veranlassung des preuß. Kultusministeriums in Berlin eine Konferenz von Sprachforschern und Schulmännern zur Festsetzung einer einheitlichen R. zusammen, für die Rudolf von Raumer (s. d.) einen Entwurf ausgearbeitet hatte, der den Verhandlungen zu Grunde gelegt wurde. Unter Benutzung der von dieser Konferenz gemachten Vorschläge wurde zunächst Österreich (2. Aug. 1879) und Bayern (21. Sept. 1879), dann auch in Preußen (durch einen Erlaß des Ministers von Puttkamer vom 21. Jan. 1880), in Sachsen (durch Generalverordnung vom 9. Okt. 1889) und in den übrigen deutschen Staaten eine nur unwesentlich vereinfachte R., die sog. Puttkamersche R., in den Schulen eingeführt, für welche die im Auftrag der einzelnen Regierungen bearbeiteten und im wesentlichen übereinstimmenden «Regeln und Wörterverzeichnisse für die deutsche R.» maßgebend waren. Diese R. fand jedoch vielfachen Widerspruch. Fürst Bismarck war ein entschiedener Gegner derselben; im amtlichen Verkehre der Behörden kam sie nicht in Anwendung, und so blieb sie in der Hauptsache auf die Schule beschränkt. Im Juni 1901 fand auf Veranlassung des preuß. Unterrichtsministeriums abermals eine sog. «Orthographische Konferenz» in Berlin statt, auf Grund deren Beratungen das Ministerium neue «Regeln für die deutsche R. nebst Wörterverzeichnis» (Berl. 1902) herausgab. Der preuß. Kultusminister ordnete 16. Okt. 1902 die Einführung dieser neuen R. in alle preuß. Schulen und Seminare für den Beginn des Schuljahres 1903/4 an. Der Bundesrat beschloß 18. Dez. 1902, die Bundesregierung zu ersuchen, diese neueste R. vom 1. Jan. 1903 an in den amtlichen Gebrauch der Behörden einzuführen, und die Ministerien der einzelnen Bundesstaaten erließen sämtlich dementsprechende Verordnungen. Die österr. Regierung, die einen Kommissar nach Berlin entsendet hatte, erkannte die Verarbeitung der Beschlüsse, wie sie in den offiziellen «Regeln für die deutsche R.» vorliegt, an; die Schweizer Bundesbehörden haben sich schon seither der neuen R. angeschlossen, und auch die Deutschen in Amerika, besonders die deutschen Schulen Nordamerikas betrachten das vorliegende Orthographische Wörterbuch fast allgemein als maßgebend. Ferner haben auch die Buchhändler und Zeitungsverleger beschlossen, die neue R. in den künftig erscheinenden Büchern und Zeitungen anzuwenden, und so ist zu hoffen, daß es in der That in kurzem für das ganze deutsche Sprachgebiet eine einheitliche R. geben wird. Vgl. Adelung, Anweisung zur Orthographie (Lpz. 1788 u. ö.); Rudolf von Raumer, Gesammelte sprachwissenschaftliche Schriften (Frankf. a. M. 1863); Schröer, die deutsche R. (Lpz. 1870); Lehmann, über deutsche R. (Berl. 1871); Duden, Die deutsche R. (Lpz. 1872); Sanders, Zur Regelung der deutschen R. (in «Unsere Zeit», ebd. 1875); Verhandlungen der Orthographischen Konferenz in Berlin (Halle 1876); Michaelis, Die Ergebnisse der Orthographischen Konferenz (Berl. 1876); Duden, Die Zukunftsorthographie (Lpz. 1876); Schmits, über R. und Druckschrift (Köln 1876); Sanders, Orthographisches Wörterbuch (2. Aufl. Lpz. 1876); ders., Katechismus der Orthographie (4. Aufl., ebd. 1878); Willmanns, Kommentar zur preuß. Schulorthographie (Berl. 1880; 2. Ausg. u. d. T.: Die Orthographie in den Schulen Deutschlands, ebd. 1887); H. Paul, Zur orthographischen Frage (ebd. 1880); Bieling, Das Princip der deutschen Interpunktion (ebd. 1880); Duden, die neue Schulorthographie (5. Aufl., Münch. 1896); ders., Orthographischer Wegweiser (2. Aufl., Lpz. 1884); ders., Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache (7. Aufl., ebd. 1902); Saalfeld, Katechismus der deutschen R. (ebd. 1895); Bause, Überblick über die Entwicklung der deutschen R. (Meseritz 1900); Vogel, Ausführliches grammatisch-orthographisches Nachschlagbuch der deutschen Sprache (Berl. 1902).
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