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Großschreibung und Rechtschreibung bei Arno Schmidt
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Christian Melsa
08.08.2001 22.32
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Freiheit und Einheit in Brüderlichkeit

Ah, wie ich Arno Schmidt liebe! Eine treffliche Preisung der Großschreibung. Ich denke jedoch, wie ich bereits einmal irgendwann hier ausführte, daß die Wortsprache doch schon von Grund auf so beschaffen ist, daß ein exklusiv festgelegter „kleinster gemeinsamer Nenner“, die von Schmidt vorgeschlagene Sprache für den groben Gebrauch, gar nicht nötig wäre bzw. sozusagen in jeweils individuell dynamisch angepaßter Weise für jede Kommunikationskonstellation bereits vorhanden ist, vielmehr sich immer wieder von selbst ergibt. Das heißt, man braucht eine solche Sprache gar nicht extra von irgendwem als künstlich geschaffene Neunorm festlegen zu lassen – gleichsam wie Ozeaniens „Neusprech“ –, sondern jeder Einzelne kann sie für sich frei wählen. Da sie sowieso eine leicht abgestumpfte Teilkopie der vorliegenden gesamten geordneten Sprache wäre, braucht hierfür weder Neues erfunden noch gelernt zu werden. Wie wir fasziniert feststellen, daß sich ja nicht nur die Orthographie aus der Praxis heraus in all ihren feinen Gesetzmäßigkeiten irgendwie grundsätzlich von selbst eingependelt hat, sondern schließlich ja überhaupt die Sprache insgesamt, so kann man etwa beobachten, daß das von Schmidt erwogene „Simpelsprech“ sich in gewisser Weise in der üblichen Chattersprache verwirklicht hat. Tatsächlich kommt man im Chat mit völlig durchgehender, nicht einmal gemäßigter, Kleinschreibung aus; Grammatik wie Rechtschreibung ist dort unwichtig, was bei Verständigungsproblemen durch die schnelle Rückkopplung kompensiert wird, die es sonst nirgends in der Welt des Geschriebenen gibt; alles ist von interjektionshaften Abkürzungen durchsetzt (LOL! ROFL! btw, afk); man schreibt nicht etwa: „Gegenwärtig verspeise ich eine Pizza“, sondern: "*pizzamampf*", nicht: „Du bringst mich zum Lächeln“, sondern: "". Wie Arno Schmidt in seiner gehobenen Literatur sich neue Wege bahnt, so tut es die Sprache (oder präziser: die Sprachgemeinschaft) angesichts neuer Medien – ganz von alleine.

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Richard Dronskowski
08.08.2001 17.37
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Zufällig finde ich beim Blättern einen Aufsatz von Arno Schmidt, in dem er sich zur Rechtschreibung äußert, und dies sehr eigenwillig; die Typographie ist ebenso AS-typisch:

„Gesegnete Majuskeln“

Nicht ohne Widerstreben und der Mißdeutung fast gewiß, spreche ich meine Ansichten über Rechtschreibung öffentlich aus; zumindest bitte ich, sich jederzeit gegenwärtig zu halten, daß ich – fast von jeder Seite ohne Zögern als „Avantgardist“ eingestuft – seit Jahren das vergipste Gravitationszentrum des Gebrauchsdeutschen verlassen habe, und bewußt in den Randgebieten und Bayous unserer Sprache neue Wege suche (oder präziser : bahne). Ich gehe hier also lediglich vom Standpunkt der Pioniers aus, der Worte nicht nur verwendet, um beim Bäckerjungen verständlich seine Morgensemmel zu bestellen; sondern um die Fülle der Erscheinungen linguistisch einzuholen, sie immer überlegener zu benennen (also zu beherrschen !) und Neues sichtbar zu machen. -

Die Großschreibung der Substantive im Deutschen ist nicht nur philosophisch eine Feinheit und ein Vorzug; sondern mir auch handwerklich unerläßlich. Ich schreib einmal – ein Beispiel statt vieler – etwa so : „Winterwälder : sie machten öde Ringe um die aschengrube Welt.“ Nur durch die im Deutschen mögliche Unterscheidung durch große und kleine Anfangsbuchstaben konnte ich unverwechselbar festlegen, daß ich „aschengrube“ hier als Eigenschaftswort geschehen lassen wollte ! Man schreibe in dem angeführten Satz sämtliche Worte klein : und ich scheine von einer Aschengrube, Welt genannt, zu sprechen – was zwar auch einen Sinn ergiebt, aber nicht den von mir gewollten. (Ich weise ausdrücklich darauf hin, daß diese adjektivische Verwendung von Substantiven keine Spielerei darstellt; ein Substantiv ist nämlich bereits ein ganzes Bündel von Eigenschaften und löst vermittels EINES Wortes – und also viel rascher, also suggestiver, als mehrere Adjektive dies vermöchten – das gewünschte kompliziert=volle Bild im Leser aus).

Außerdem wird durch unsere gesegneten Majuskeln die Orientierung im Satz so sehr erleichtert, daß man, anstatt sie abschaffen zu wollen, lieber den anderen Sprachen ihre Aufnahme anempfehlen sollte.

Eine phonetische Schreibweise lehne ich für mich ebenfalls ab. Einmal, weil man dadurch die meisten Worte gewaltsam von ihrem historischen Ursprung abtrennen, und damit eine Fülle von Reminiszenzen und Assoziationen vernichten würde; zum zweiten, weil man dadurch den Dialekten – diesem unschätzbaren Quell= und Grundwasser jeder Sprache – den wohl endgültigen Todesstoß versetzen würde (man hat scheinbar an den verheerenden Folgen des drohenden Verlustes unserer Ostdialekte noch nicht genug !); auch könnte man den alten Adelungschen Streit, „Was ist Hochdeutsch“, beliebig erneuern. -

Andererseits sehe ich sehr wohl ein, daß für „das Volk“, ob In= oder Ausländer, eine Vereinfachung der Rechtschreibung doch wünschenswert, und im „praktischen Gebrauch“ eine rechte Erleichterung sein könnte; und schlage zur Lösung dieses Dilemmas folgenden Weg vor :

Seit langem schon hat sich durch die immer wachsende Ausdehnung jedes Wissensgebietes zwangsläufig eine Dosierung von Kenntnissen ergeben. Der Volksschüler lernt wohl „rechnen“; aber daß limes (1 + 1/n) hoch n für n gegen unendlich gleich e ist, weiß er nicht; es interessiert ihn auch nicht, und mit Recht empfindet er dieses Nichtwissen durchaus nicht als Diffamierung. Für jede andere Wissenschaft (und Kunst) gilt dasselbe. In der Wortschrift des Chinesischen etwa, kennt der einfache Mann ein paar hundert Zeichen; das reicht für seine Zwecke der Verständigung und sogar fürs Zeitunglesen aus; den Vorrat für seinen speziellen Beruf erwirbt sich Jeder während der Lehrzeit.

Was hinderte auch uns, ein „Tausend-Worte-Lexikon“ nach einem international vereinbarten phonetischen Schlüssel zu fixieren? Hier könnte ohne Schaden auch die konsequente Kleinschreibung angewendet werden, die ja wohl fürs Druck= und Schreibmaschinenwesen tatsächlich eine Arbeitsersparnis von gewichtigen Prozenten ergäbe. Dadurch würde nicht nur dem Volke geholfen; sondern auch dem Geistesarbeiter – speziell natürlich dem Dichter – die Stelle angewiesen, die er als „Wortspezialist“ seit langem verdiente. In einer solchen Trennung in „reine“ und „angewandte“ Sprache liegt weder eine Ungerechtigkeit noch ein Grund zur Beschämung; betrachtet sich der Jodler als deklassiert, weil er keine Opernpartitur lesen kann ? Und welche Erleichterung für den Liebhaber von „Lore-Romanen“ : wenn er versehentlich den „Faust“ erwischte, sähe ers sogleich am Druck !

Und umgekehrt !

(Hamburger Anzeiger, 16. August 1954)

Eine schöne Illustration der Vorzüge von Groß- und Kleinschreibung! Andererseits: Weiß jemand, ob der Vorschlag der orthographischen Apartheid wirklich ernst gemeint war? Es klingt mir zu verwegen. Wenn man aber den „Lore-Roman“ gegen die „XXX Zeitung“ oder diverse neue Bücher der Art „Tausend tolle Internet-Tipps“ austauscht, dann stimmt wieder alles...

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