In: Das Parlament
Dankwart Guratzsch
Ohne Muttersprache heimatlos
ESSAY
Deutsch im Grundgesetz Anker gegen das Abheben der Eliten und Ausgrenzung der Mehrheit
Nicht der Deutsche Bundestag, nicht Bundestagspräsident Norbert Lammert, auch nicht der Verein für Deutsche Kulturbeziehungen im Ausland (VDA) und der Verein Deutsche Sprache (VDS) sind als erste auf die Idee gekommen, die deutsche Sprachpflege zu einer Staatsangelegenheit zu erklären. Sondern kein Geringerer als der Philosoph und Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz. Er, der selbst fließend französisch sprach, war es, der als erster Präsident der Sozietät der Wissenschaften in Preußen schon im Stiftungsbrief des Jahres 1700 das Problem der Reinerhaltung der deutschen Sprache aufgriff und diese Aufgabe dem König antrug.
Diese Erinnerung tut not, um die völlig überspannte Diskussion über die von den genannten Verbänden geforderte und von Lammert befürwortete Aufnahme des Deutschen als Landessprache ins Grundgesetz zu versachlichen. Denn natürlich kann damit nicht Ausgrenzung und Abgrenzung gemeint sein. Vielmehr wird mit der vorgeschlagenen Formulierung Die Sprache der Bundesrepublik ist Deutsch ein Tatbestand hervorgehoben, über den inzwischen nicht nur auf manchen Schulhöfen, sondern auch in der Politik, auf Wissenschafts- und sogar Bundespressekonferenzen Unklarheiten aufgekommen sind.
Nichts Anrüchiges
Selbst wenn dem nicht so wäre, hätte ein derartiger Passus nichts Anrüchiges. Für sich allein ist er so unschuldig wie die Regelungen des Artikels 22, nach denen Berlin die Bundeshauptstadt und Schwarzrotgold die Bundesfarben sind. Ähnlich müssen es jene 18 europäischen Staaten sehen, die ihren Landessprachen schon länger Verfassungsrang eingeräumt haben und darin Deutschland vorangegangen sind. Wer dies chauvinistisch nennen wollte, käme mit dem Europagedanken in Konflikt, der ja auf der Achtung und Pflege der kulturellen Eigenarten und damit der Nationalsprachen der EU-Mitgliedsländer aufbaut. Bei der Verankerung des Deutschen im Grundgesetz geht es allerdings um mehr. Den Petitionen, hinter denen bereits knapp 70.000 Unterzeichner stehen, und dem Plädoyer des Bundestagspräsidenten ist die ernste Sorge zu entnehmen, dass es um die Sprache von Goethe und Schiller schlecht steht. Die mangelnde Geltung der meistgesprochenen Muttersprache Europas in der EU, der Abstieg des Deutschen als Wissenschaftssprache, die Inflation von Anglizismen, die verrenkte Werbesprache, das Türken-, SMS- und Twitter-Missingsch, die Verballhornung der Schriftsprache durch die Rechtschreibreform und nicht zuletzt die Schludrigkeit der Medien im Umgang mit der deutschen Grammatik lassen immer mehr Bürger am Willen und an der Kompetenz der politischen Klasse zweifeln, die Belange kultureller Identität noch wahrzunehmen.
Großes Missbehagen
Deshalb sagen die Anträge erst einmal etwas über die Stimmung im Land aus, über ein offenbar weitverbreitetes Missbehagen. Es ist nur denen unbekannt, die sich selbst mühelos und gewandt in der Muttersprache bewegen, oder aber natürlich genauso jenen, die kulturelle Standards (und das heißt oft: jegliche Kultur und jeglichen kulturellen Anspruch) prinzipiell für lästig, ja überflüssig halten. Sie wollen an eine schiere Selbstverständlichkeit nicht auch noch amtlich erinnert werden sei es, weil ihnen der Gegenstand allzu banal erscheint, sei es, weil sie sich ihm selbst nicht gewachsen fühlen.
Tatsächlich haftet dem Verhältnis der Deutschen zu ihrer Sprache von altersher ein resignativer Zug an. Er äußerte sich früh in einer anderen Völkern völlig fremden Verachtung der Gebildeten für die Sprache des eigenen Volkes, die in dem berühmten Ausspruch Kaiser Karls V. gipfelte, dass er Lateinisch mit seinem Gott und Deutsch mit seinem Stallknecht spreche. In Wahrheit meint deutsch seiner Wortbedeutung nach nichts anderes als dem Volke gehörig. Und die Sprache des Volkes unterhalb der Referenzebene der Akademiker- und Beamtensprache ist das Deutsche bis auf diesen Tag geblieben. Es hat sich dabei als erstaunlich robust und lebenskräftig auch gegenüber allen Wellen der "Überfremdung durch Latein, Französisch oder Englisch erwiesen. Auf diese Lebenskraft, Derbheit und Farbigkeit des volkstümlichen Deutsch setzte der Sprachschöpfer und -einiger Luther, der sich eben gerade nicht damit begnügte, seine Bibelübersetzung auf die kursächsische Kanzleisprache zu stützen, sondern sich nicht scheute, dabei dem Volk sehr direkt aufs Maul zu schauen.
Faktisch, nämlich vermittelst der Einheit von Thron und Altar, wurde das Deutsche auf diese Weise schon mit der Bibelübersetzung zur Staatsangelegenheit, auch wenn der Reformator weit davon entfernt war, die Sorge um die deutsche Sprache den politischen Machthabern zu übertragen. Auch Leibniz, der den Sprachschützern der Fruchtbringenden Gesellschaft keineswegs nahestand, erstrebte keine politische Kuratel über den Sprachgebrauch.
Seine Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben, erging dagegen explizit an die Wissenschaft, die Universitäten, Sozietäten und Akademien. Dass es dann tatsächlich noch einmal fast zweihundert Jahre dauern sollte, bis sich das Deutsch auch als Wissenschaftssprache Geltung verschaffen konnte, erhellt allein daraus, dass Leibniz' Schrift, niedergeschrieben 1683, erst 1846 erstmals gedruckt wurde.
Diese Vorgeschichte sollte man kennen, ehe man sich über das Begehren lustig zu machen unterfängt, einem Rückfall des Deutschen in einen nun endlich für immer überwunden geglaubten Zustand der Inferiorität und gesellschaftlichen Spaltung zu wehren. Erst der quälende Durchbruch der deutschen Sprache zu einer Sprache auch der Gebildeten und Mächtigen hat umgekehrt auch den Wissenschaften zu breitem volkstümlichem Durchbruch verholfen, hat das Jahrhundert der Lesekultur, das 18./19. Jahrhundert, begründen helfen, hat Volksbildung in seinem umfassenden Verständnis, hat die Blüte der deutschen Philosophie und Literatur, hat zuletzt sogar die industrielle Revolution durchzusetzen und anzutreiben vermocht.
Die Gebildeten heben ab
Es gehört zu den Paradoxien der aktuellen Debatte, dass sich Teile der politischen Klasse ausgerechnet in dem Land, in dem die vielleicht tiefsten Werke der Sprachphilosophie entstanden sind, dem Rang und der Geltung der eigenen Sprache heute wieder verweigern zu müssen meinen. Es sind die Wissenschaften und Fachdisziplinen, die dabei zuerst abheben. Inzwischen gibt es deutsche Fachliteratur, die nur noch fremdsprachig gedruckt wird. Es laufen ganze Serien von Kongressen, die zwar vom deutschen Steuerzahler finanziert, aber nicht einmal mehr mit einer Übersetzung ins Deutsche ausgestattet sind.
Ganz abgesehen davon, dass das Englisch, das dort zuweilen geradebrecht wird, zum Erbarmen ist und einen blamablen Schatten auf seine Stotterer und damit letztlich auf die Qualifikation der so genannten Bildungselite wirft, also alles andere als etwa dem Ansehen der heimischen Wissenschaft dient, wird hier die alte Mauer zur gesellschaftlichen Hefe neu hochgezogen, die so mühsam abgebaut worden ist. Das hat nichts mit Moderne, nichts mit dem Vordringen der neuen lingua franca Englisch (oder bald vielleicht Chinesisch) zu tun, sondern unendlich viel mehr mit dem Rückfall in verstockte deutsche Traditionen, die sich unbezweifelbar viel zu lange als entwicklungs- und fortschrittshemmend erwiesen haben.
Aufstiegshilfe
Man muss es unter die unzähligen Ironien der 68-er Bewegung rechnen, dass deren Wortführer zwar mit martialischem Getöse gegen den elaborierten Code als Herrschaftsinstrument einer abgehobenen Kaste zu Felde zogen, damit aber in naiver Verblendung das hochsprachliche Deutsch meinten, das für Generationen die wichtigste Aufstiegshilfe in die bessere Gesellschaft war und ihnen Universitäten und Karrieren erschlossen hat, die ihnen Jahrhunderte versperrt waren. Hochdeutsch ist nicht und war nie hochgestochen, sondern der wichtigste Schlüssel für den Zugang zu Bildung überhaupt. Aber in der aktuellen Debatte über den Verfassungsrang von Deutsch als Landessprache taucht derselbe Irrtum in ähnlicher Argumentation ein weiteres Mal auf. Wieder wird von Ausgrenzung und Diskriminierung gesprochen, wo doch nichts so sehr wie gerade die Beherrschung der Landessprache die Integration, Anerkennung und den Erwerb von Bildung möglich, und somit die Zugewanderten überhaupt erst gesellschaftlich konkurrenzfähig macht.
Jutta Limbach, die frühere Verfassungsrichterin und Präsidentin des Goethe-Instituts, hat im anrührendsten und überzeugendsten Essay über Unsere Sprache in der globalisierten Welt (so der Untertitel) gerade diese elementare Voraussetzung für Integration hervorgehoben: Das Erlernen der Sprache, insbesondere der Landessprache, ist ein Grundstein für die Bildung. Sie spricht von der Sprachlosigkeit von zugewanderten Minderheiten, die gesellschaftliche Ohnmacht, wenn nicht gar Heimatlosigkeit erzeugt. Und sie hebt hervor, die Muttersprache gehöre zu jenen Elementen der Kultur, die mehr noch als das Vaterland gesellschaftlichen Zusammenhalt stiften.
Ist es nicht genau diese Einsicht, die hellhörig dafür machen müsste, was in der Integrations-, der Bildungs- und der Sprachpolitik bisher falsch gelaufen ist? Müsste sie nicht das Gespür dafür schärfen, dass nicht der Deutschpassus im Grundgesetz, sondern der Widerstand dagegen ausgrenzt nämlich exakt diejenigen ausgrenzt, die auf Erwerb der Landessprache angewiesen sind, um nicht nur formell eingebürgert zu sein, sondern sich selbst vollwertig einzubürgern?
Ein Zeichen
Ist auch der zusätzliche Satz im Grundgesetz nichts als ein Zeichen und kann er niemals ein Recht sein, das sich einklagen lässt, so gibt er doch Orientierung, wo provinzielle Geschwätzigkeit und ideologisches Renommiergehabe gesellschaftlichen Zusammenhalt allzulange behindert haben. Es ist höchste Zeit, diese Blockade zu lösen.
das-parlament.de 13.12.2010
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