Neue Züricher Zeitung, 19.7.2002
»Leistung früh fördern, Auslese vermeiden
Gleich zwei PISA-Studien beschäftigen Deutschland
Ein halbes Jahr nach der ersten, internationalen PISA-Studie hat die deutsche Bildungsdebatte neuerlichen Antrieb erhalten: Eine Ergänzungsstudie sortiert die Leistungsunterschiede der Schulen nach Bundesländern. Die politische Diskussion darüber geht nicht ohne ideologische Grabenkämpfe ab, die Experten indessen sind sich einig.
Als im Dezember 2000 die erste PISA-Studie Deutschland im internationalen Vergleich auf einen beschämenden Platz an der Grenze zum unteren Drittel der Rangliste verwies, mischte sich in die allgemeine Bestürzung fragende Ungläubigkeit: Sollte die Lage wirklich bundesweit gleich schlimm sein? Schliesslich ist die deutsche Schulpolitik Sache der Bundesländer. Die Kultusminister hatten es für ihre Hoheitsgebiete genau wissen wollen und daher zusätzlich zum internationalen Ranking eine dem innerdeutschen Ländervergleich gewidmete Ergänzungsstudie in Auftrag gegeben. Der nun unter dem Kürzel «PISA-E» kursierende Befund, an zehnmal so viel deutschen Schülern erhoben wie der OECD-Vergleich, bestätigt das schon bekannte Desaster, macht aber regionale Niveauunterschiede geltend.
So schneiden die unionsregierten Länder merklich besser ab als solche mit sozialdemokratischen Regierungen. Bayern, wo Kanzler-Herausforderer Edmund Stoiber das Zepter schwingt, liegt weit vorn; Niedersachsen, die Heimat Gerhard Schröders, sieht blass aus, und die SPD-Hochburg Bremen bildet das Schlusslicht. Ein stolzer Stoiber attackierte sogleich die «unsägliche Bildungspolitik» der siebziger und achtziger Jahre in Teilen Deutschlands, womit er vor allem die sozialdemokratisch initiierte Einführung von Gesamtschulen meinte; Kanzler Schröder versuchte ein Ablenkungsmanöver, indem er die Schuld auf den Föderalismus schob, den er als «Länderegoismus auf dem Rücken der Schüler» beschimpfte.
Lernschwache entschieden das Ranking
Die alten, ideologisch aufgeladenen Kämpfe um Chancengleichheit haben zwar ihre Verbissenheit verloren, aber manche Rechnung ist noch offen. Dabei wissen im Grunde alle, dass die Lage für eine parteipolitische Indienstnahme viel zu ernst ist und die Befunde aus PISA auch nicht dafür taugen. Differenzierung tut not, und sie wird in den Erläuterungen der PISA-Forscher auch geboten, aber die Versuchung interessierter Simplifikateure, die Befunde ideologisch passend zu machen, bleibt mächtig. Typisch ist der Kommentar eines Leitartiklers in der «Welt»: «Die erste und wohl auch wichtigste Lektion aus PISA lautet, dass die Parole der siebziger Jahre, die Fördern statt Auslesen hiess, falsch war.»
Dass man als Einwanderer generell zu den Benachteiligten gehöre, ist auch einer dieser schiefen Gemeinplätze. Oder dass das Malaise nicht am fehlenden Geld liege. Zum Beweis wird herangezogen, wie vergleichsweise gut doch Sachsen trotz schmalem Bildungsetat im PISA-Test abgeschnitten habe. Im Stadtstaat Bremen hingegen werde üppig finanziert. Tatsächlich aber führt der Etat dort nicht zu einem erweiterten Angebot, sondern hohe Verwaltungs- und Personalkosten verteuern die Unterrichtsstunde. An der Notwendigkeit, für einen besseren Unterricht den Etat zu erhöhen, ändert es nichts.
Präzisierungen und Richtigstellungen der nicht immer sachgerechten Diskussion bot dieser Tage eine Veranstaltung des Börsenvereins des deutschen Buchhandels. Unter dem Titel «PISA-Studie I und II: Analyse Visionen Konsequenzen» hatte der Verband Autoren der Studie und andere Bildungsforscher, die Stiftung Lesen, die Unternehmensberatung McKinsey, Vertreter der Wirtschaft und Kulturstaatsminister Julian Nida- Rümelin nach Berlin eingeladen. Es war interessant zu hören, wie die frühere Montessori-Schülerin und heutige McKinsey-Mitarbeiterin Annet Aris, eine in Bayern lebende Holländerin, die Qualitätsanforderungen an die deutschen Schulen verschärfte, jedoch ihr Votum für mehr Leistung zugleich mit einer energischen Absage an die in Deutschland übliche allzu frühe Begabungsauslese verband. Sie forderte ein offenes Schulsystem, denn die Schüler «sollen sich nicht in Kästchen gefangen fühlen, wo sie dann anfangen, sich entsprechend zu benehmen».
Wilfried Bos, Bildungsforscher an der Universität Hamburg, rückte eine Sichtweise zurecht, wonach Kinder von Einwanderern «zu Aussenseitern verdammt» sind. Sicherlich stimmt, dass der Stadtstaat Bremen mit einem Migrantenanteil von über vierzig Prozent es von vornherein schwerer hat, bei PISA gut wegzukommen, als der nur einen etwa halb so grossen Anteil aufweisende Flächenstaat Bayern. Irrig jedoch ist es, Nachteile und Vorteile pauschal mit der Unterscheidung nach Ausländern und Inländern zu korrelieren. Die Schule, an welche ein Kind gerät, und die soziale Stellung seiner Familie relativieren den Einflussfaktor «Migrationshintergrund» entscheidend, wie Bos ausführte.
Für die Migranten muss man hinzusetzen: Kommen sie aus einer höheren Schicht und haben sie erst einmal die Sprachbarriere überwunden, so sind sie dank ihren grösseren «Bildungsaspirationen» gegenüber gebürtigen Deutschen sogar im Vorteil. Für die Unterprivilegierten unter ihnen freilich sieht es umso düsterer aus. Konservative Stimmen behaupten, schuld an ihrer misslingenden Integration sei unter anderem, dass sie an den Schulen nicht ausschliesslich in Deutsch, sondern auch in ihrer Herkunftssprache unterrichtet werden. Empirisch spricht indes alles für Zweisprachigkeit: «Wenn Türken besser Türkisch lernen», erklärte Bos, «lernen sie auch besser Deutsch.»
Das Berlin-Forum belegte einmal mehr die Einigkeit der Experten. Diskussionen über den deutschen Föderalismus oder Schulstrukturen halten sie für unfruchtbar. Es geht um die Qualität des Unterrichts. Notwendig ist es, die Fortbildung der Lehrer zu intensivieren. Sie selbst müssen begreifen, dass Sprachunterricht ins Metier aller Lehrkräfte fällt. Individuelle und vor allem frühzeitige Förderung der Kinder ist das A und O. Eltern und Kindergärten sind in die Pflicht zu nehmen und zu unterstützen. Ganztagsschulen können helfen, sofern sie nicht bloss Betreuung bieten, um Eltern zu entlasten. Bitter not tut eine Umstellung auf Ergebniskontrollen: Klar gesetzte Lernziele sollen sagen, was ein Kind am Ende der Schulpflicht können muss. Die Standards wären allgemein verbindlich festzulegen, der Weg zu ihrer Erfüllung aber wäre freizugeben. Die alles reglementierenden Lehrpläne müssen schrumpfen, die Autonomie der Schulen muss wachsen.
Bildungs- oder Lehranstalt?
Während die praktischen Devisen klar scheinen, lässt die deutsche Bildungsdiskussion ihr basales kulturelles Selbstverständnis unerörtert. Julian Nida-Rümelin, der in Berlin als Philosoph sprach, erinnerte im Rückgriff auf sokratische, frühhumanistische und Humboldt'sche Ideale an eine Vorstellung von Bildung, die auf das «gelingende Leben» und die «Persönlichkeitsbildung» zielt und sich darum gegen ihre instrumentelle Verpflichtung auf beruflichen Nutzen wehrt. Bei dieser Entgegensetzung mochte ihm nicht jeder folgen. «Persönlichkeitsentwicklung und Erwerbsleben hängen doch zusammen», protestierte Norbert Bensel vom Vorstand der Deutschen Bahn. Fragen muss man, ob ein emphatischer Begriff von Bildung die Schule nicht überfordert. Ist sie Bildungs- oder doch nur Lehranstalt? Jeder Experte hat dazu vermutlich eine Haltung, welche die Tendenz seiner Expertisen prägt. Nur diskutiert wird sie nicht. Auch Wissenschaft beginnt mit einem Vorurteil.
Joachim Güntner«
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