Scheuringer, Stang
Scheuringer, Hermann/Stang, Christian (2004): Die deutsche Rechtschreibung. Geschichte – Reformdiskussion – Neuregelung. Wien. „Gedruckt mit Förderung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Wien“
Es handelt sich um eine Neubearbeitung von Scheuringers Geschichte der deutschen Rechtschreibung. Wien 1996, vermehrt um eine Darstellung der Neuregelung und der jüngsten Revision durch Stang.
Beide Autoren bekennen sich zur Neuregelung, die sie auch mit diesem Werk weiterverbreiten wollen. Dazu gehört auch das Verächtlichmachen der Reformkritiker, besonders durch Scheuringer, während Stang, der auch im Schriftverkehr mit Reformkritikern (stets in der bewährten Rechtschreibung) immer sehr vorsichtig ist, zu größerer Sachlichkeit neigt.
Scheuringer scheint ein Opfer seines eigenen reforminduzierten Wortspiels zu werden, wenn er schreibt:
„Rechtschreibung beinhaltet doch auch: 'Ich habe Recht!' Wer Recht hat, hat auch Macht und Einfluss.“ (S. 11)
Scheuringer behauptet, ohne (explizite) Rechtschreibregeln gebe es keine Rechtschreibung, sondern nur einen „Usus scribendi“ (dies schreibt er stets so, also falsch im Sinne der Neuregelung). Allerdings spricht er später (S. 17) doch auch in bezug auf die Frühzeit von einer „Orthographie“. Scheuringer gibt sich keine besondere Mühe, die Systematik der bisherigen, in Jahrhundert enwickelten Schreibweisen zu erfassen.
Scheuringer spricht einerseits von der „stillen und wissenschaftlichen Arbeit“ des Internationalen Arbeitskreises (S. 93), höhnt aber an anderer Stelle über die Klage der Frankfurter Erklärung, daß „die hinter der Reform stehende Expertengruppe 'anonym' und im stillen Kämmerlein ohne Beteiligung der Öffentlichkeit gearbeitet habe.“ (S. 122)
Nicht nur Kultusminister Zehetmair hat aber in jenem Spiegel-Interview 1995 eingeräumt, daß die Öffentlichkeit so gut wie gar nicht informiert sei, es gibt auch viele andere Bestätigungen, z. B. von IDS-Direktor Stickel: „Aber wurde nicht doch etwas falsch gemacht bei der Reform, zumindest bei ihrer Umsetzung? 'Doch. Alle hätten wirklich mehr tun müssen, die Öffentlichkeit zu informieren und ihre Zustimmung zu gewinnen.'“ (DIE ZEIT 46, 1996, Gespräch mit Dieter Zimmer)
Scheuringer behauptet, die Getrenntschreibung entspreche der sprachgeschichtlichen Entwicklung, während Stang gerade umgekehrt und richtiger vom „natürlichen Trend zur vermehrten Zusammenschreibung“ spricht, der die Reformer entgegenwirken wollten.
Die Bezeichnung der Tageszeiten in heute abend und abends hält Scheuringer für „Adjektive“ (S. 110).
„In Zukunft wird genauso behandelt werden wie und und ganz normal auf die nächste Zeile rutschen, also: Zu-cker.“ (S. 113)
Warum das keineswegs „normal“ ist, erwägt er nicht.
Scheuringer bedauert, daß bei Fremdwörtern die morphologische Trennung zulässig bleibt, weil die neue Rechtschreibung damit „dem elitären Anspruch des Bildungsbürgertums weiterhin entgegenkommt“ (S. 114). Das sind die kulturrevolutionären Töne der siebziger Jahre. Erst wenn man No-stalgie verbietet und nur Nos-talgie zuläßt, ist Bildung nicht mehr an der Schreibweise zu erkennen.
Orthographische Fehler:
der erste, als erster usw. wird regelmäßig klein geschrieben
ersterer
zu den Publikationen noch Mentrup (2004), Letztere eine höchst ausführliche Geschichte ... (hier muß Letztere klein geschrieben werden)
den Halleschen Rektor
ähnlich tief greifend gestaltet sich ...
die Heysesche s-Regelung
klein zu schreiben
gleichlautend (erst nach der Revision wieder zulässig)
Stang will die Neuregelung „einschließlich ihrer letzten Modifikationen vor der amtlichen Alleingültigkeit ab 1. August 2005 im Detail“ darstellen (S. 6, ähnlich S. 124). Als die Verfasser dies schrieben, wußten sie noch nicht, daß wenige Wochen nach dem Erscheinen des Buches der neue „Rat für deutsche Rechtschreibung“ zusammentreten würde, um die „letzte“ Fassung der Reform in eine allerletzte umzuwandeln. Die gesamte Darstellung ist also bereits überholt; sie ist aber noch aus einem anderen Grunde ohnehin unbrauchbar. Stang klammert nämlich den umstrittensten und von der Revision am stärksten betroffenen Teil, die Getrennt- und Zusammenschreibung nach § 36, vollständig aus. Eine Begründung findet man nicht, das Kapitel fehlt einfach. Glaubt Stang im Ernst, der Leser würde das gar nicht bemerken?
Es ist zwar richtig, daß die Bindestrichschreibung zur Entschärfung der neuen Dreibuchstabenregel die Großschreibung des Erstgliedes in Adjektiven wie Sauerstoff-frei zur Folge hat (S. 132); man sollte aber erwähnen, daß der Duden (K 25) und auch die Rechtschreibkommission gerade deshalb von der Bindestrichschreibung abraten.
Von den griechischen Fremdwörtern mit ph behauptet Stang, nur die Stämme phon und graph würden fakultativ mit f geschrieben: „Die Schreibung aller anderen griechischen Fremdwörter wird nicht verändert.“ (S. 134) Offenbar hat er Delfin und Fantasie übersehen. Es trifft auch nicht zu, daß die Eindeutschung Filosofie „zu keiner Zeit in Betracht gezogen“ worden wäre – so inkonsequent waren die Reformer nun auch wieder nicht.
Die volksetymologischen Schreibungen wie Zierrat bleiben unkommentiert.
Die Darstellung der neuen ss-Regel ist geradezu irreführend, weil sie das Kriterium der Betonung unterschlägt. Nach Stangs Formulierung müßte es zu Tausenden von Fehlschreibungen wie Erlebniss usw. kommen.
„Das Wort Spaß wird trotz der unterschiedlichen Aussprache immer mit ß geschrieben.“ (S. 128)
Die Revision läßt für Österreich auch Spass zu (das schon länger im ÖWB steht, aber noch nicht im neuesten Duden).
„Das Wort selbständig kann auch selbstständig geschrieben werden.“ (S. 132)
Nein. Das Wort selbständig wird selbständig geschrieben und das Wort selbstständig wird selbstständig geschrieben. Das ist ganz genauso wie bei Rindsbraten und Rinderbraten: beide Wörter bedeuten dasselbe, aber sie sind trotzdem nicht dasselbe Wort.
Die Nichttrennung der Buchstabengruppe str (wie in Lustrum, Magistrat) ist entgegen Stangs Meinung seit 1996 nicht mehr zulässig (S. 139).
In irrewerden sieht Stang ein „Substantiv“ als ersten Bestandteil.
„Verbindungen mit sein werden getrennt geschrieben.“ (S. 144)
Das revidierte amtliche Wörterverzeichnis enthält auch schon wieder zurückgewesen; die Folgen sind unabsehbar.
Die Behauptung, daß zusammengesetzte Fremdwörter mit unselbständigem Erstglied stets zusammengeschrieben werden (Afrolook), wird durch das kurz zuvor angeführte Moto-Cross (mit Bindestrich) widerlegt. (S. 150)
Die Großschreibung von Fachausdrücken wie Roter Milan ist keineswegs ein Ergebnis der Revision von 2004. Die Einschränkung auf biologische Begriffe war eine Fehldeutung der Regelung von 1996. Die nochmalige Erwähnung von botanischen und zoologischen Fachausdrücken (das Fleißige Lieschen) ist ein ungeschickter Versuch, die bisherige Deutung mit der neuesten zusammenzuführen.
„Paarformeln für die Bezeichnung von Personen werden grundsätzlich großgeschrieben.“ (S. 155)
Der Begriff der Paarformel hat keine Entsprechung in der amtlichen Regelung, sondern ist eine Interpretation. Falsch ist die folgende Auskunft:
„Nach der bisherigen Regelung musste zwischen ungebeugten und gebeugten Paarformeln (groß und klein vs. die Großen und die Kleinen, arm und reich vs. die Armen und die Reichen) differenziert werden.“ In Wirklichkeit unterschied der Duden zwischen wörtlichem und übertragenem Gebrauch („jedermann“), ganz unabhängig von der Beugung.
In der Reihe der neuen, z. T. grammatisch falschen Großschreibungen (Leid tun, Pleite gehen) fehlt Recht haben. (S. 155)
Während sehr vieles fehlt, erwähnt Stang überflüssigerweise manches, was vor 12 Jahren geplant war, aber nicht durchgesetzt werden konnte.
Die Abbildungen sind z. T. sehr schlecht.
Druckfehler:
Laboratium (Laboratorium), Grizzylbär (Grizzlybär)
Nebenbei erfährt man, daß 2005 die Neubearbeitung des ÖWB erscheinen soll. (S. 8)
Das Buch beweist, daß selbst Leute, die sich unablässig mit der Rechtschreibreform beschäftigen, längst den Überblick verloren haben.
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Th. Ickler
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