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Forum > Beispielsammlung über Sinn und Unsinn
Deutschlandfunk
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Sigmar Salzburg
05.03.2016 15.54
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Die Reform-Narretei nochmal in DLF-Sicht:

Rechtschreibreform
Waffenruhe im Wörterkrieg


„Menschenverachtendes Massenexperiment“, „staatlich verordnete Legasthenie“ – die Vorwürfe gegen die neue Rechtschreibung wogen schwer. Sie gilt nun seit August 2006. Ein jahrelanger Kulturkampf ging der Einführung voraus, sogar das Bundesverfassungsgericht musste sich damit beschäftigen. Doch: Die Regeln gelten nicht überall.

Von Monika Dittrich

Manch einer findet, dass die deutsche Sprache einem leidtun kann. Wobei gleich zu klären wäre, wie „leidtun“ überhaupt geschrieben wird. In zwei Wörtern, und Leid groß? Oder klein und auseinander? Oder klein und zusammen? Man kann so etwas im Wörterbuch nachschlagen, im Internet recherchieren, oder man wählt die Nummer der Duden-Sprachberatung. Kostenpflichtig, versteht sich.

Telefon, Freizeichen, dann: „Duden-Sprachberatung, Kunkel, guten Tag.“

Fünf studierte Germanisten beantworten hier an jedem Werktag durchschnittlich 150 Fragen zu Zweifelsfällen der deutschen Sprache. Also, wie schreibt man „leidtun“? Melanie Kunkel weiß Rat:

„Bei leidtun hat sich sehr viel verändert, das ist im Laufe der Zeit noch einmal verändert worden in der Rechtschreibung. Und heute schreiben wir „leidtun“ zusammen, und in Fügungen wie „Sie tut uns leid“ muss „leid“ immer klein geschrieben werden.“ [siehe hier]

Da könnte einem die deutsche Sprache tatsächlich leidtun, immerhin hat sie bei diesem Begriff schon viel aushalten müssen. Erst klein und auseinander, dann „Leid“ groß und auseinander, jetzt also klein und zusammen.

„Frau Kunkel, ich habe da noch so einen Satz: „Er hatte vor, mit ihr spazieren zu gehen.“ Spazieren zu gehen zusammen oder auseinander?“

„Ja, das wird auch häufig gefragt in unserer Sprachberatungshotline! Also in Ihrem Beispiel: Er hatte vor, mit ihr spazieren zu gehen, wird 'spazieren zu gehen' in drei Wörtern geschrieben, weil spazieren gehen auch getrennt geschrieben wird, nach der neuen Rechtschreibung. In Fällen, in denen der Infinitiv zusammenzuschreiben ist, zum Beispiel bei zurückkommen, wird auch zusammen geschrieben, wenn ein ‚zu‘ hinzukommt. Also so etwas wie: Ich plane, um fünf Uhr zurückzukommen.“

Wer also schon weiß, welche Wörter zusammengeschrieben werden, dem ist mit dieser Regel geholfen. Alle anderen dürften allerdings an der komplizierten Getrennt- und Zusammenschreibung gelegentlich verzweifeln. Dabei hätte doch alles so viel einfacher werden sollen – mit der Rechtschreibreform. Doch Ausnahmen, Unterregeln und Varianten gibt noch immer ziemlich viele, weiß Melanie Kunkel, die auf einige Jahre Erfahrung in der Sprachberatung zurückblicken kann:

„Also natürlich werden uns weiterhin viele Fragen zur Rechtschreibung gestellt. Insgesamt haben wir aber den Eindruck, dass die Diskussion um die Rechtschreibreform stark nachgelassen hat und die Regeln heute insgesamt gut angenommen worden sind.“

Kompromiss nach jahrelangem Streit

Wer hätte das gedacht – nach dem erbitterten Kulturkampf, den sich Befürworter und Gegner der Reform einst geliefert hatten. Vor zehn Jahren beendeten die Kultusminister den Buchstabenkrieg mit einer Art Waffenstillstand: Sie stimmten einer überarbeiteten neuen Rechtschreibung zu. Reform ja, aber nicht so weitgehend, wie ursprünglich geplant. Es war ein Kompromiss nach jahrelangem Streit.

„Also in dem Bereich der Rechtschreibreform ist es immer hochemotional zugegangen.“

Gerhard Augst ist Sprachwissenschaftler, emeritierter Professor für Germanistik. Ohne ihn hätte es die Rechtschreibreform vielleicht nie gegeben: Denn er gehörte zu den Pionieren, die sich für eine grundlegende Vereinfachung der deutschen Orthografie engagierten.

„Ich habe mich immer dafür eingesetzt, dass das normale Wissen, das ein Mensch in acht oder neun oder zehn Schuljahren erwerben kann, dass das ausreicht, um die Rechtschreibung zu beherrschen.“

Er habe nicht geahnt, in welch ein Wespennest er mit seinen Vorschlägen stechen würde, welche Hasstiraden er sich würde anhören müssen. Augst holt einen verblassten Zettel aus seiner Jackentasche, auf dem er die schlimmsten Vorwürfe in gestochen scharfer Handschrift notiert hat.

„Das wäre ein menschenverachtendes Massenexperiment. Oder der Dichter Hans Magnus Enzensberger hat von der Mafia gesprochen. Oder die Rechtschreibreform sei eine staatlich verordnete Legasthenie. Also, Sie sehen, mit welchen Schleudervokabeln da gearbeitet wurde. Und da musste man schon ein ziemlich dickes Fell haben.“

Seit zwanzig Jahren trage er diesen Zettel immer bei sich, wie zur Mahnung, selbst sachlich zu bleiben. Es ist ihm anzumerken, dass die Kritiker ihn auch persönlich getroffen haben. Interviews wollte er eigentlich gar keine mehr geben.

Gerhard Augst, heute 76 Jahre alt und verwitwet, lebt in Biebertal, einem kleinen Ort in Hessen in der Nähe von Gießen.

Zum Gespräch in seinem Wohnzimmer mit antiken Möbeln und großen Fenstern in den Garten serviert er Kaffee und Gebäck, und die anfängliche Skepsis, sich noch einmal im Radio zur Rechtschreibreform zu äußern, ist verflogen. Im Gegenteil, in jedem seiner Sätze ist zu hören, dass Gerhard Augst noch immer überzeugt ist von der Rechtschreibreform. Einfacher wollte er das Schreiben machen, auch und insbesondere für Kinder aus Familien mit geringer Bildung. So wie er selbst eines war: Augst wuchs auf einem Bauernhof im Westerwald auf. Hochdeutsch habe er erst in der Volksschule gelernt, seine erste Fremdsprache, wie er sagt. Aus dieser Erfahrung wuchs seine politische und wissenschaftliche Motivation: Die Rechtschreibung sollte keine Barriere mehr sein, kein Hindernis beim sozialen Aufstieg, kein Distinktionsmerkmal der Eliten.

„Ich bin nun total dagegen, dass man die Rechtschreibung benutzt, um seine humanistische Bildung zu zeigen.“

In den 70er Jahren tat er sich mit Germanisten aus der Bundesrepublik, der DDR, der Schweiz und aus Österreich zusammen. 1980 gründeten sie den „Internationalen Arbeitskreis für Orthografie“. Die reformwilligen Wissenschaftler fanden Gehör in der Politik: 1987 formulierten das Bundesinnenministerium und die Kultusministerkonferenz den Auftrag, ein neues Regelwerk zu entwerfen. Augst leitete damals die Kommission für Rechtschreibfragen beim Institut für Deutsche Sprache in Mannheim und war damit eine Art Reform-Chef. Der erste Vorschlag der Wissenschaftler war radikal: Kaiser mit ei, Boot mit einfachem o; Augst wollte außerdem die gemäßigte Kleinschreibung, also Großbuchstaben nur am Satzanfang und bei Eigennamen. Die Reaktionen waren niederschmetternd.

„Ja, ganz furchtbar, sie sind also wirklich über uns hergefallen, es hat eine riesige Diskussion gegeben.“

Der Entwurf wurde also überarbeitet, entschärft und neu verhandelt – ohne dass die Öffentlichkeit größere Notiz davon nahm. Hier setzen die Kritiker an: Die Reform sei hinter verschlossenen Türen durchgedrückt worden, lautete ihr Argument.

Zumindest verpflichteten sich am 1. Juli 1996 unter anderem Deutschland, Österreich und die Schweiz in der Wiener Absichtserklärung, die reformierte Orthografie einzuführen. Zu den bekanntesten neuen Regeln gehörte etwa das Doppel-S nach kurzem Vokal: Kuss, Fluss und Schluss also nicht mehr wie bisher mit Eszett, sondern mit Doppel-S. Außerdem sollten mehr Wörter getrennt geschrieben werden: zum Beispiel „Rad fahren“ oder „kennen lernen“. Fremdwörter wurden eingedeutscht, deutsche Wörter vereinfacht – zumindest nach Ansicht der Reformer.

„Wir haben damals gesagt, Quäntchen: Da denkt doch jeder normale Deutsche und jedes Schulkind erst recht, das kommt von Quantum. Aber der Linguist oder Sprachhistoriker weiß natürlich, dass das nicht von Quantum kommt, sondern von Quintum, das Fünfte, also ist es gar kein ‚a‘ und Umlaut, und in der alten Rechtschreibung wurde es mit e geschrieben. Und wir haben dann gesagt, wir schreiben es mit ä, weil die Leute das eh so machen.“ [...aber kein Grund, „Quentchen“ zu verbieten]

Kurz vor dem Ziel ging der Protest erst richtig los

Die Reform schien unter Dach und Fach zu sein, neue Wörterbücher waren gedruckt, tausende Schulen unterrichteten die neuen Regeln schon nach den Sommerferien 1996. Gerhard Augst und seine Reform-Kollegen sahen sich am Ziel. Doch es kam anders, denn der Streit ging jetzt erst so richtig los.

„Die Rechtschreibreform ist überflüssig wie eine Warze am Fuß. Klein, aber schmerzhaft.“

Friedrich Denk, im Herbst 1996. Der damalige Deutsch-Lehrer an einem Gymnasium im oberbayrischen Weilheim wollte die neuen Orthografieregeln nicht akzeptieren und schon gar nicht unterrichten. In den folgenden Jahren sollte er zu einem der einflussreichsten Gegner der Reform werden. Und er genießt noch immer seinen Ruf als Rechtschreib-Rebell:

„Ja, das war ich wohl. Da kann ich nichts dagegen machen, aber ich finde das fast einen Ehrentitel!“

Kurz bevor die neue Rechtschreibung an seiner Schule in Weilheim eingeführt werden sollte, ging Denk auf die Barrikaden – seinen ersten großen Erfolg als Rechtschreib-Rebell feierte er auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 1996:

„Und dann habe ein Flugblatt entworfen, das heißt „Stoppt die überflüssige, aber milliardenteure Rechtschreibreform“ und bin auf die Buchmesse, habe dieses Flugblatt verteilt, zwei Pressekonferenzen gemacht und am letzten Tag der Buchmesse hieß es dann im Radio, dass Vargas Llosa den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen habe und dass mehr als einhundert deutschsprachige Schriftsteller und Professoren gegen die Rechtschreibreform protestieren.“

Denk ist heute ein agiler Studiendirektor im Ruhestand mit Wohnsitz Zürich. Die Kritik an der Rechtschreibreform ist ihm noch immer ein Herzensanliegen. Auf die Interviewanfrage reagierte er enthusiastisch – und statt sich von der Schweiz aus zum Gespräch zuschalten zu lassen, setzte er sich prompt in den Zug und erschien persönlich im Kölner Funkhaus. Wörterbücher hat er mitgebracht, Flugblätter von damals, Zeitungen, und einen schon etwas vergilbten Spiegel-Titel:

„Damals im Spiegel, „Schwachsinn Rechtschreibreform, der Aufstand der Dichter“, das habe ich damals ein bisschen mit organisiert. Das waren Günter Grass, Siegfried Lenz, Martin Walser, Kempowski, alle waren dagegen.“

Weshalb sie auch alle Denks Frankfurter Erklärung gegen die Rechtschreibreform unterschrieben hatten. So auch der mittlerweile verstorbene Schriftsteller Siegfried Lenz, der sich im Oktober 1996 im Deutschlandfunk zu Wort meldete:

Kritiker monierten ein Verflachen der Sprache

„Wir alle wissen, dass jedes Wort seine Herkunft hat, dass jedes Wort seine Geschichte hat, und ich sehe nicht ein, dass wir dem Ziel, das wir alle haben – nämlich Sprache zu bewahren und zu erhalten – hier ein Opfer erbringen sollen, das praktisch nur darauf hinaus läuft, die Sprache zu verflachen.“

„Da wurden verschiedene Wörter regelrecht abgeschafft, zum Beispiel das Wort wohlbekannt. 'Dieser Herr ist mir wohlbekannt', das heißt: Ich kenne ihn gut. Wenn ich sage 'Dieser Herr ist mir wohl bekannt', dann heißt das, ich kenne ihn vermutlich. Das sollte in Zukunft nur noch getrennt geschrieben werden, das heißt, da ging ein Teil der Bedeutungsmöglichkeiten verloren.“

Die Reform verhunze die deutsche Sprache, sei überflüssig und viel zu teuer – ein gutes Geschäft höchstens für Schul- und Wörterbuchverlage, so Friedrich Denks Argumente. Mit dem Reformer Gerhard Augst geriet er damals so manches Mal aneinander:

„Jeder der wollte, muss man sagen, konnte sich über diese Reform unterrichten. – In denen das Wesentliche nicht drin stand, in der Broschüre! – Ach das ist doch Unsinn! – Die Getrenntschreibung – Ach Du lieber Gott! – Das ist doch Unsinn. – Die Getrennt- und Zusammenschreibung steht in allen Entwürfen drin.“

Sogar das Bundesverfassungsgericht musste sich 1998 mit der Rechtschreibung befassen – es erklärte die Einführung der reformierten Regeln per Kultusministererlass für die Schulen allerdings für rechtmäßig [sein Versagen wird hier nachgewiesen]. Doch Denk und auch andere Reformgegner wie etwa der Germanistikprofessor Theodor Ickler oder der Verleger Matthias Dräger ließen nicht locker.

Sie versuchten, die Rechtschreibreform mit Volksbegehren zu kippen, sie publizierten, diskutierten, und gewannen immer mehr Anhänger.

Rettende Maßnahmen

150.000 Mark habe er allein in die Kampagnen gegen die Rechtschreibreform investiert, sagt Friedrich Denk. Nicht ohne Erfolg. Er scharte Intellektuelle, Schriftsteller und Journalisten hinter sich, aber auch viele Bürger, die in Umfragen immer wieder mehrheitlich angaben, die alte Rechtschreibung beibehalten zu wollen. Zeitungen und Verlage, die die neuen Schreibregeln zunächst eingeführt hatten, kehrten reihenweise zur traditionellen Orthografie zurück. Das Chaos war perfekt. Die Rechtschreibreform schon fast tot – da blieb nur eine verzweifelte Notoperation.

„Gut, manche bleiben nur am Leben, wenn sie notoperiert werden. Also die Politik und die Ministerpräsidenten der Länder haben dieses Gemurre und diesen Unmut vieler Bevölkerungskreise wohl aufgenommen und gesagt, das kann doch wohl so nicht bleiben, wir haben andere Sorgen.“

Erinnert sich Hans Zehetmair, ehemaliger Kultus- und Wissenschaftsminister in Bayern. Er war es, der die Rechtschreibreform retten sollte. Dazu gründeten die Kultusminister 2004 den Rat für deutsche Rechtschreibung, und Zehetmair übernahm den Vorsitz. Es war keine Aufgabe, um die sich jemand gerissen hätte.

„Wenn einen alle Länder bitten, das zu richten, dann ist es auch eine Ehrenpflicht, dass man sich dafür opfert.“

Zehetmair opferte sich – und ihm gelang tatsächlich ein diplomatisches Kunststück. Er verhandelte mit Gegnern und Befürwortern der Reform, schlichtete, versöhnte, suchte nach Lösungen, denen alle zustimmen konnten. Am Ende präsentierte der Rat einen Vorschlag, der manche Reformregel rückgängig machte, aber längst nicht jede. Prominentestes Beispiel für die erhaltenen Reformregeln ist wohl das Doppel-S nach kurzem Vokal. In einigen Fällen gab es eine ganz neue Lösung, wie beim „leidtun“. Es war der Kompromiss, dem die Kultusminister vor zehn Jahren zustimmten und den auch die Ministerpräsidenten kurze Zeit später billigten. Darauf ist Zehetmair stolz. Er hat aber auch eine Lehre gezogen: Der Staat soll die Sprache in Ruhe lassen.

Die Folgen der Rechtschreibreform

„Ich gebe nach wir vor zu, dass das kein Thema ist für die Politik und ich habe auch gesagt, man sollte niemals mehr den Fehler machen, dass die Politik die Orthografie mitbestimmen will.“

Ein Eingeständnis, das der Reformgegner Friedrich Denk sehr begrüßt. Es reicht ihm nur nicht. Wenn die Reform schon nicht mehr rückgängig zu machen sei, dann solle man in den Schulen doch wenigstens parallel auch die alte Schreibung wieder gelten lassen. Die Reform ist in seinen Augen ohnehin gescheitert:

„Das Versprechen, dass die Schüler weniger Fehler machen, hat sich nicht bewahrheitet. Es werden heute mehr Fehler gemacht.“

Die Studienlage zu dieser Frage ist allerdings nicht ganz eindeutig – sowohl Gegner als auch Befürworter der Reform werden in der Forschung Ergebnisse finden, durch die sie sich bestätigt fühlen.

So zeigen einige Erhebungen, dass Schüler heute tatsächlich mehr Rechtschreibfehler machen als vor der Reform. Das könnte aber auch daran liegen, dass die Orthografie in den Schulen weniger intensiv geübt wird als früher. Zugleich ist nachweisbar, dass Kinder heute origineller schreiben und insgesamt mehr Worte benutzen.

Dass die Rechtschreibreform für Verwirrung gesorgt hat, lässt sich kaum von der Hand weisen. Noch vor einigen Jahren sagten in einer Umfrage die meisten Bundesbürger, sie wüssten bei vielen Wörtern nicht mehr, wie sie geschrieben werden. Das könnte auch an den vielen zulässigen Varianten liegen. Oder an den Computern, die einem per Autokorrektur das Nachdenken über die richtige Schreibung abnehmen. Gerhard Augst, der Reform-Pionier, kann darin nichts Schlechtes erkennen:

„Ich denke, dass die Reform eines bewirkt hat, dass die Leute etwas lockerer mit dieser Rechtschreibung umgehen.“

Viele Linguisten sind ohnehin überzeugt: Die Sprache ist robust. Sie hält vieles aus.

Sprache im Internet und in den sozialen Medien

„Also die Rechtschreibreform kann man jetzt wirklich mal abhaken. Die digitale Revolution ist natürlich ein viel stärkerer Faktor und hat eine viel größere gesellschaftliche Relevanz als irgendeine Rechtschreibreform.“

Sagt Peter Schlobinski, Professor für Germanistik an der Universität Hannover und Vorsitzender der Gesellschaft für Deutsche Sprache. Zu Schlobinskis Forschungsgebieten gehört die Sprache im Netz – also die Frage, wie Leute bei Twitter, Facebook oder in E-Mails schreiben. Rechtschreibregeln werden dann oft vernachlässigt; wichtiger sind Smileys und Abkürzungen. Linguisten sprechen von Substandard-Orthografien. Da entstünden auch ganz neue Möglichkeiten des Schreibens, sagt Schlobinski:

„Also da zu experimentieren und auch abzuweichen vom Standard, auf unterschiedliche Zeichensystem zurückzuweichen, das Verbinden mit Fotos, mit einer Bildinformation, was wir nennen Multimodalität, das führt natürlich dazu, dass es einen kreativen Umgang mit den unterschiedlichen Formen gibt und das ist durchaus positiv.“

Zumal Schüler offenbar unterscheiden können, wo korrekte Rechtschreibung verlangt wird und wo sie die Regeln eher locker handhaben können:

„Es gibt zwei Untersuchungen, eine aus der Schweiz, eine aus den USA, die zeigen, dass Schülerinnen und Schüler durchaus in der Lage sind, normgerecht zu schreiben einerseits eben in der Schule und andererseits entsprechend abzuweichen, wenn sie einen Tweet schreiben, eine SMS oder bei Whatsapp.“

Schlobinski, der selbst in E-Mails grundsätzlich alles klein schreibt, kann sich über die Rechtschreibreform nicht mehr aufregen.

„Die Klage, dass früher alles besser war, auch was die Schreibung betrifft, die kennt man sehr lange. Ich will mal daran erinnern, als die Comics damals aufkamen und so Wörter wie 'Stöhn, Ächz', da war das auch schon der Niedergang des sprachlichen Abendlandes. Und wenn man sieht, wie das alles eingearbeitet wurde in das deutsche System, das hat auch nicht zum Niedergang der Rechtschreibung geführt.“

Die neue Rechtschreibung gilt seit dem ersten August 2006 in der ganzen Bundesrepublik. Wem das leidtut, der sei daran erinnert, dass die amtlichen Regeln nur in Schulen und Behörden gelten. Anderswo darf jeder schreiben, wie er will.

Deutschlandfunk.de 2.3.2016

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Sigmar Salzburg
04.02.2016 21.35
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„Sprachpflege“

Die Sprache is a-Changin’ – ischwör

Sprache verändert sich – ein wichtiges Thema für uns in der Nachrichtenredaktion. In Zeiten von Globalisierung und Migration ist der Wandel besonders schnell. „Mächtig ansteigen werden die Varianten des Migrantendeutschs, in denen die Grammatik zurückgefahren wird“, sagte der Linguistik-Professor Uwe Hinrichs dem Deutschlandfunk.

Von Kathrin Baumhöfer

Lassma anfangen. „Besonders schnellebig ist das Lexikon einer Sprache“, sagt Heike Wiese, Sprachwissenschaftlerin an der Universität Potsdam und Inhaberin des Lehrstuhls für Deutsche Sprache der Gegenwart dem DLF. „Hier können neue Elemente einfach aufgenommen werden.“ Die Beispiele reichen quer durch die Sprachen, von tablet aus dem Englischen über lan (türkisch für "Typ" oder "Kerl") bis wallah (arabisch, wörtlich „bei Gott“). Verwendet werden sie so, „dass sie in das sprachliche System des Deutschen passen“, schreibt Wiese auf der Internetseite kiezdeutsch.de, die sie in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium betreibt.

Das klingt dann in etwa so: Und da stand und hat mir seine Hand gegeben. Wallah. „Er!“, möchte man rufen, und auch das Schreibprogramm des Computers meldet sich mit Vorschlägen. Aber das Verschwinden von Pronomen ist Teil der Sprachveränderung, die wir gerade erleben, bestätigt auch Uwe Hinrichs, Professor für Linguistik an der Universität Leipzig. „Mächtig ansteigen werden die Varianten des Migrantendeutschs, in denen die Grammatik zurückgefahren wird und das dominiert, was man für die Kommunikation braucht.“ Also auch weniger Kasus, einfache Wortfolge: Kommst du hier. Machst du rote Ampel. (Komm her. Geh bei Rot über die Straße). Hinrichs fügt hinzu: „Ich erwarte, dass in 20 bis 30 Jahren die korrekten Kasus kaum noch große Bedeutung haben werden.“ Stattdessen werde es mehrere Varianten geben, etwas auszudrücken: nicht nur Philipps Auto, sondern auch das Auto von Philipp und sogar Philipp sein Auto.

Ischwör, Alter, war so

Eine weitere Besonderheit sind Ausdrücke oder Partikel, wie es korrekt heißt, wie ischwör – die, schreibt Wiese, auf eine typisch deutsche Entwicklung zurückgehen: Von glaube ich zu glaubich ist es ein ähnlicher Weg: Endung gekürzt, Pronomen ans Verb gehängt, fertig ist der Partikel, der sich im gesprochenen Standarddeutsch etabliert hat.

Auch die Struktur der Sätze fällt auf. „Das Verb wandert vom Satzende in Nebensätzen nach vorn“, sagt Hinrichs, „also: Er kommt nicht, weil er hat keine Zeit." Neue Steigerungsformen seien ebenfalls häufiger zu hören, etwa: Er ist mehr aufgeregt als sein Kollege – mittlerweile auch in den Medien, etwa in der Formulierung mehr zugänglich. Grundsätzlich aber, da sind sich die Linguisten einig, nehmen solche Veränderungen ihren Anfang in der Umgangssprache. [...]

Bis dieser Sprachwandel in den Nachrichtensendungen des Deutschlandfunks ankommt, wird es vermutlich noch eine Weile dauern. Aber auch wir haben schon täglich damit zu tun: bei Interviewpartnern oder auch in Mails von Hörerinnen oder bei Reaktionen und Fragen in den Sozialen Medien. Und dass sich die Welt generell verändert, das wissen wir Nachrichtenmenschen natürlich sowieso am besten. Ischwör.

... mehr in Deutschlandfunk.de 4.2.2016

Die Rechtschreib„reform“wird ebenso wie unser Kampf dagegen völlig sinnlos gewesen sein, weil uns nun nicht nur unsere Sprache verlorengeht, sondern auch unser Deutschland selbst – im Wechselspiel von Politikversagen und Volksverdummung. Demonstrativ volksverachtend fordert nun auch noch ein „Language-Programming-Ass“ aus Kanada, das Arabische als Zweitsprache zu installieren. Danach kommt dann Strothottentottisch. Es reicht langsam!

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Sigmar Salzburg
21.02.2015 10.26
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Die bewährten „ß“ sind nur mühsam zu unterdrücken!

Der italienische Jurist Andrea di Nicola, Spezialist für das organisierte Verbrechen, im Deutschlandfunk :

Di Nicola: „Hinter den Schleuser stecken die großen Fische. Jeder dieser Bosse macht – selbstverständlich schwarz – viele Millionen Euro. Wenn Frontex mit 90 Millionen Euro im Jahr ausgestattet an den europäischen Küsten patrouilliert, muss man wissen, dass allein ein bestimmter türkischer Händler etwa sieben Millionen Euro verdient. Tausende Asylbewerber, Flüchtlinge, Migranten aus wirtschaftlichen Gründen zahlen 5.000 – 15.000 Euro oder Dollar. Ganze Familien und Dörfer verschulden sich. Die Reisen dieser Menschen sind sehr lange Odysseen, von einem zum nächsten Händler, und jedes Mal müssen sie für ein Stück der Strecke zahlen“.

Heinemann: „Vor dem Hintergrund dieser Summen: werden die Kontrollen – etwa im Rahmen des Programms Triton – jemals dicht genug sein?“

Di Nicola: „Unmöglich. Wenn ich bereit bin zu sterben, um nach Italien oder Deutschland zu gelangen, und wenn, obwohl ich 10.000 Euro zahle, die Wahrscheinlichkeit zu sterben bei 50 Prozent liegt, dann zeigt das, wie verzweifelt ich bin. Aus dieser Verzweiflung schöpfen die Menschenhändler Gewinn. Sie sagen: 'wir verkaufen Träume'. Europa muß verstehen, und das haben uns diese kriminellen Händler gelehrt, dass allein repressive Maßnahmen nicht ausreichen – zumindest müßten die Strafverfolgungsbehörden international wesentlich besser zusammenarbeiten. Die Einwanderungspolitik muss sich vor allem ändern. Und man muß die geographischen oder gesetzlichen Schwachstellen beseitigen, die die Arbeit der Händler erst ermöglichen. Denn die suchen 24 Stunden am Tag nach kriminellen Möglichkeiten oder Lücken im System. Die merken das sofort und lachen über Europa. Sie haben uns das so gesagt: sie sehen das als Herausforderung an, wollen sich schadlos halten und lachen uns aus“.

deutschlandfunk.de 20.2.2015

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Detlef Lindenthal
27.10.2005 14.17
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Der Deutschlandfunk und die Schwerindustrie

Über die Geschichte des Londoner Stadtteils Southall heißt es im DLF am 27.10.2005 um 7:56 (deutlich vorgelesen):
>> „Erst waren es irische Stahlarbeiter, die hier schwer Industriearbeit fanden.“ <<

DLF am 27.10.2005 um 12:54 (deutlich vorgelesen):
>> Tony Blair ... muß mit Gerhard Schröder rechnen, der fest entschlossen ist, Klartext zu reden und der seinen Abschied von der internationalen Bühne nutzen will, um den wohl  begründeten Sinn seiner Reformen zu demonstrieren. <<
hören: DLF_wohl_begruendet.mp3 (15 Sekunden, 104 kB)

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Die Alltagsarbeit der DLF-Berufssprecher beweist, daß die vom DLF geförderten Wörterverbote zu einer nicht alltagstauglichen Leseschwäche führen.
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Detlef Lindenthal

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1
25.10.2005 16.37
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http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/laenderreport/430339/

Deutschlandfunk · 25.10.2005 · 13:07 Uhr

Nachgefragt: Bildung
Berichte aus Bayern und Nordrhein-Westfalen

Von Volker Wagener und Barbara Roth

In der Bildungspolitik sorgten Bayern und Nordrhein-Westfalen für Schlagzeilen. Beide Länder haben zum 1. August nicht uneingeschränkt die neue Rechtschreibung eingeführt. Und NRW versprach, schon zum Start des neuen Schuljahres tausend zusätzliche Lehrer einzustellen. 4000 sollen es in dieser Legislaturperiode werden.
Beispiel Nordrhein-Westfalen

Rüttgers kantiger Start in der Schulpolitik

Von Volker Wagener

Barbara Sommer ist derzeit die bekannteste Ministerin in Jürgen Rüttgers Kabinettsmannschaft. Die gelernte Lehrerin und jetzige Bildungsministerin bringt der schwarz-gelben Koalition in Düsseldorf endlich Schlagzeilen nach Wochen der Harmonie die Beobachter nicht selten als Langeweile ausmachten. Diese Schlagzeilen waren freilich ungewollt. Der Koalitionsvertrag sei ihr Gesetzgeber, hatte Frau Sommer gesagt und damit unter Journalisten und im Oppositionslager Diskussionen über ihre Qualifikation ausgelöst. Gemeinhin gilt sie schon jetzt als erste Kandidatin für ein vorzeitiges Scheitern im Amt.

Aber auch Jürgen Rüttgers selbst hatte seine eigene 100-Tage-Bilanz mit einem Fauxpas belastet. Im Landtag hatte der Regierungschef die so genannten Zwergschulen als gefährdet ausgemacht. Angeblich gebe es eine Lücke im Schulgesetz, demnach Grundschulen mindestens 192 Schüler haben müssten, um existenzberechtigt zu sein. Die Opposition winkte ab. Stimmt nicht, hieß es aus den SPD-Reihen, eine solche Vorschrift existiert nicht. Auffällig wenig konnte die Schulministerin zur Klärung beitragen. Seitdem ist Unruhe unter den Pädagogen im Westen auszumachen.

Hintergrund der Turbulenzen im Landtag ist die Demographie. Bis 2015 wird die Schülerzahl an den Grundschulen Nordrhein-Westfalens um rund 18 Prozent abnehmen auf dann nur noch 624.000 Schüler. Die Folge ist dann ein verschärfter Wettbewerb unter den Schulen. Die FDP hatte im Koalitionsvertrag die Auflösung der Schulbezirke durchgesetzt was zur Folge hätte, dass Eltern unabhängig vom Wohnort ihre Kinder auf Wunsch-Schulen schicken könnten. Auch wenn die Schule viele Kilometer entfernt ist. Eine schlimme Vorstellung, findet die Kölner Grundschullehrerin Dorothee Kammann.

Kammann: Aus pädagogischer Sicht halte ich diesen Schultourismus für schrecklich. Ein Kind muss da in die Schule gehen, wo es seine Schul- und Spielkameraden hat.

Auch Ministerialrat Wilhelm Knevels im Düsseldorfer Schulministerium kann sich die Konsequenzen der Auflösung der Schulbezirke in ihrer praktischen Bedeutung noch nicht vorstellen.

Knevels: Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Kinder mit sechs Jahren kreuz und quer, hin- und her transportiert, nur um eine Mindestschülerzahl an einigen Schulen zu garantieren.

Dabei empört so manchen Pädagogen ganz anderes. Der freie Wettbewerb der Schulen untereinander zerstöre die Integrationsarbeit der Schulen, die einen hohen Anteil an Ausländerkinder haben. Deutsche Kinder würden dann in so genannten besseren Schulen zusammen gezogen, die Migrationskinder blieben unter sich, argumentieren die Kritiker.

Und auch sonst stößt der schwarz-gelbe Schulfahrplan auf deutlich vernehmbare Kritik. Hildegard Merten von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Köln – kurz GEW genannt – reibt sich vor allem an der auffälligen Betonung des Fachunterrichts im Koalitionsvertrag.

Merten: Schule wird reduziert auf Fachunterricht … Schule hat zu tun mit sozialem Lernen, Persönlichkeitsentwicklung, Demokratie lernen, mit künstlerischem. Und: Eltern gehören in die Sprechstunden. Aber jetzt geht es nur noch um Mathe lernen, Englisch lernen … das kann nicht im Sinne von Pisa sein.

In der Tat ist die neue Landesregierung ganz auf die Erfüllung des Stundenplans konzentriert. Dafür sollen Konferenzen, Sprechstunden oder Fortbildungen grundsätzlich nur noch außerhalb der Unterrichtszeit anberaumt werden. Woran Ministerin Barbara Sommer in einem Rundschreiben zum Kabinettsstart noch einmal ausdrücklich erinnerte, was viele Lehrer erboste, denn das sei schon jetzt so, heißt es beispielsweise in der GEW-Zeitschrift „Forum“ Ende Juni.

Auch mit der Neueinstellungs-Offensive bei Lehrern kann das Ministerium Sommer noch nicht so richtig bei Pädagogen und Eltern punkten. 8000 Lehrer wollte die FDP einstellen, doch das war noch Wahlkampfgetöse. Auf 4000 hatten sich dann die Koalitionäre geeinigt und jetzt, kurz nach der 100-Tage-Bilanz, sind tatsächlich rund 1000 Lehrkräfte neu verpflichtet, berichtet Schul-Ministerialrat Wilhelm Knevels.

Knevels: Neben den 1000 Stellen wird es bis 3000 zusätzlich neue Stellen bis Ende der Legislaturperiode geben … Daneben gibt es „Geld statt Stellen“ für Vertretungsunterricht, dafür hat es noch einmal 20 Millionen Euro gegeben. Die 20 Millionen Euro machen von August bis Dezember 2005 noch einmal 1000 Lehrerstellen aus.

Die Verrechnung von Geld mit angekündigten Lehrerstellen überzeugt nicht alle. Doch das „Geld statt Stellen“ Programm ist auch Bestandteil der Autonomiestärkung der Schulen. Ziel ist dabei auch, dass die Schulen ihr Personal in Zukunft selbst auswählen dürfen, bestätigt Wilhelm Knevels.

Knevels: Ja, unbedingt. Das ist ein zwingender Baustein der Selbständigkeit, dass sich Schulen ihre Lehrer selbst aussuchen können und auch das Profil bestimmen.

So richtig emotional werden die Diskussionen, wenn es um die Wiedereinführung von Noten geht, zum Beispiel schon in Klasse 2. Hier prallen pädagogische Deutungswelten aufeinander. CDU und FDP schreiben in ihrem Koalitionspapier: „Schule und Unterricht werden stärker orientiert an der individuellen Förderung der Schülerinnen und Schüler.“ – „Ja, was anderes machen wir denn sonst seit Jahren in den Grundschulen?“, empört sich die GEW. Hildegard Merten.

Merten: Was bisher nach Klasse 4 geschah, die Selektion, ist nun auf die 1. Klasse vorverlegt. Das halte ich für einen unmöglichen Zustand und das widerspricht allen Lehren aus Pisa.

Und auch die fast vergessenen „Kopfnoten“ haben die neuen Bildungspolitiker zwischen Rhein und Ruhr wiederbelebt. „Ordnung, Fleiß, Aufmerksamkeit und Betragen“ werden ab sofort wieder mit einer Note zum Ausdruck gebracht. Grundschullehrerin Dorothee Kammann kann den Nutzwert der neuen Maßnahme nicht erkennen.

Kammann: Das weiß ich auch nicht. Also wir schreiben Berichtzeugnisse … wir schreiben über Lernverhalten … ich kann und möchte das nicht in Noten fassen.

Ob Kopfnoten oder nicht – die neue Schulpolitik in Nordrhein-Westfalen wird vor allem vom finanziellen Rahmen bestimmt, der bis jetzt noch nicht in Gänze überschaubar ist. Noch recht ratlos sind manche Schulleiter bei der Einschätzung des Begriffs „Lehrerstellen-Äquivalente“. 2400 Pädagogen-Platzhalter sollen den Schulen angeboten werden, d.h., der finanzielle Gegenwert von „richtigen Lehrern“ steht den Schulen in Form von Budgets zur Verfügung. Wie sie die Mittel einsetzen bleibt den Schulleitern und den Kollegien überlassen. Der Vorteil. Lehreräquivalente müssen weder kranken-, noch rentenversichert werden. Auch eine Verbeamtung droht nicht. So spart das Land Zukunftskosten. Doch der Kleinmut hat Grenzen. Noch in dieser Legislaturperiode will das Schulministerium eine nennenswerte Anzahl aus SPD-Zeiten geerbte, so genannte KW-Stellen wieder auf den Markt bringen, da ist sich Ministerialrat Wilhelm Knevels ganz sicher.

Knevels: Wir haben unter der alten Regierung 2000 KW-Stellen. Ich gehe davon aus, dass diese KW-Stellen gestrichen werden und nicht die Stellen.


Beispiel Bayern
Sprachföderalismus an Bayerns Schulen

Von Barbara Roth

Gemeinsam mit Nordrhein-Westfalen stoppte die bayerische Landesregierung die verbindliche Einführung der neuen Rechtschreibreform im Bundesland. Man wolle warten, bis der Rat für Rechtschreibung in den nächsten Monaten seinen Empfehlungen für Korrekturen vorgelegt habe. Der Erklärung von Ministerpräsident Stoiber, die nicht nur in Bayern viel Bürgerbeifall fand, folgte die Praxis, wonach alte und neue Rechtschreibung gleichermaßen erlaubt sind.
Wie sieht nun der Alltag an Bayerns Schulen aus? Barbara Roth hat sich auf die Schulbank gesetzt.


Deutschunterricht am Luisengymnasium in München. Die Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse sind 14 und 15 Jahre alt. Die Aufgabe: Sie sollen das Wort Außenpolitik buchstabieren:

Schülerin / Schüler: Warum mit ß? Weil ich es so schreiben würde. Bauchentscheidung.
Warum ss? Weil ich keine Lust habe es mit ß zu schreiben. Keine Ahnung.


Null Bock auf die korrekte Schreibweise – noch geht das an bayerischen Schulen durch. In Deutschland ist seit 1. August die Rechtschreibreform in Kraft – nur Bayern und Nordrhein-Westfalen scherten aus. Außenpolitik mit doppeltem s gilt an Schulen in Baden-Württemberg, Hessen oder Thüringen als Fehler. In Bayern und Nordrhein-Westfalen nicht. Entsprechend frei gehen bayerische Schüler mit den neuen Regeln um.

Zwei Schülerinnen: Betttuch? Man hat mir halt eben gesagt, dass Schwimmmeister mit drei m geschrieben wird. Und deswegen habe ich gedacht: Dann Betttuch auch mit drei. Es ist eine Gefühlsentscheidung. Ich schreibe Schiff hin und dann schreibe ich Fahrt dazu, und sind es halt drei f. Die neue ist ein völliger Schmarren, finde ich. Ich habe einfach kein Bock zum Beispiel Schifffahrt mit drei f zu schreiben. Das dauert viel zu lange oder es ist ein völliger Schmarren Tiger mit ie zu schreiben nach der neuen. Das bringt es nicht. Es wechselt sich bei mir so ab, entweder neue oder alte.

Die einen schreiben nach Gefühl. Die anderen nach Lust und Laune. Mal verwenden sie die alte, mal die neue Schreibweise. Mit welcher Rechtschreibung, der alten oder der neuen, sie gerade spielen, oft wissen es die Schüler gar nicht. Und es ist ihnen auch ziemlich egal:

Schüler: Eigentlich interessiert es mich nicht wirklich. Ich lerne, wie man die Wörter schreibt. Warum und keine Ahnung, wie das mal war, ist mir eigentlich ziemlich egal. Ich habe mehrere Artikel darüber gelesen, aber Rechtschreibfehler wirken im Aufsatz eh nicht so verheerend, wenn ich da vier mehr habe, ist es mir ziemlich egal, die ziehen die Note nicht so herunter. Rechtschreibefehler sind nicht so wesentlich, dass sie die Note beeinflussen. Es kommt doch eher auf den Schreibstil an.

Noch im Sommer war die Aufregung groß. Die politische Entscheidung in München und in Düsseldorf, die alte und die neue Schreibeweise vorerst weiter nebeneinander gelten zu lassen, hatte für heftige Diskussionen gesorgt. Es drohe eine gespaltene Republik, hieß es, wenn die bevölkerungsreichsten Bundesländer bei der Reform nicht mitziehen. Denn Fakt ist: die Hälfte der deutschen Schüler schreibt nun nach anderen Regeln. Der Vorsitzende des deutschen Rats für Rechtschreibung, Hans Zehetmair, räumte ein:

Zehetmair: Es wäre unredlich zu verleugnen, dass das kein Ruhmesblatt ist.

Als ehemaliger Wissenschaftsminister in Bayern hatte Zehetmair wie die meisten seiner Kollegen in der Kultusministerkonferenz immer auf eine schnelle Umsetzung der Rechtschreibreform gedrängt – nun aber begrüßte er ihren vorläufigen Stopp zuhause im Freistaat.

Zehetmair: Weil ich es für sinnvoll halte, dass man noch ein Mal in sich geht, und nicht Teilvollzug mit Fehlerbewertung in den Schulen macht. Sondern nachdem wir ja im Rat über die ganzen Dinge nochmals gehen, auch sagt, dann können wir pädagogisch das Jahr nochmals nutzen.

Denn die Rechtschreibreform – wie sie seit August in 14 Bundesländern, in Österreich und Teilen der Schweiz in Kraft trat – ist noch lange nicht perfekt. Der Rat für Deutsche Rechtschreibung wird am Freitag dieser Woche tagen. Und sich mit den besonders strittigen Fällen der neuen Schreibweise befassen. Korrekturen sind also nicht ausgeschlossen. Vor allem bei der Groß- und Kleinschreibung. Beliebtes Beispiel: Rad fahren. Schreibt man Rad fahren groß und getrennt oder klein und zusammen?

Schülerin: Äh nee. Nee, nein, nicht zusammen. Und was groß? Ja das Rad!

Die Neuntklässlerin zögert zwar, aber wohl instinktiv liegt sie völlig richtig. Laut der neuen Rechtschreibung wird Rad groß und von fahren getrennt geschrieben. Früher schrieb man Rad fahren klein und in einem Wort. Im Rat für deutsche Rechtschreibung jedoch entzünden sich an diesem Wort heftige Diskussionen. Zehetmair beispielsweise gefällt die neue Schreibweise von Rad fahren überhaupt nicht. Falls er sich durchsetzen sollte, wird die Rechtschreibreform wieder korrigiert. Das aber wollte Bayern seinen Schülern nicht zumuten. Erst wenn die Reform mit all ihren Korrekturen in trockenen Tüchern ist, wird sie an bayerischen Schulen Fakt. Albin Dannhäuser, der Präsident des bayerischen Lehrer und Lehrerinnen-Verbandes, begrüßt das. Das Hin und Herr aber nennt er ein ärgerliches Trauerspiel, die Kinder die Leidtragenden.

Dannhäuser: Denn jede Form von Beliebigkeit in der Orthografie führt bei Schülern zur Einprägung falscher Schriftbilder und damit zu Unsicherheit. Diese falschen Schriftbilder kann man später nur sehr schwer revidieren. Und insofern brauchen die Schüler, aber auch wir, die Lehrerinnen und Lehrer, Verlässlichkeit.

Doch Schüler und Lehrer am Luisengymnasium in München reagieren gelassen, schließlich werden die neuen Regeln nach dem Willen der Kultusministerkonferenz schon seit 1998 gelehrt. Im Unterricht, erzählt der Deutschlehrer Bernhard Sesselmann, spielt die Rechtschreibreform so gut wie keine Rolle mehr. Natürlich korrigiert er – wie vom bayerischen Kultusministerium vorgeschrieben – in die Aufsätze der Schüler nach wie vor die neuen Regeln hinein. Das heißt: Er markiert das vermeidlich falsche Wort mit dem Vermerk veraltet und fügt am Rand des Blattes die neue Schreibweise ein. Beispiel: Tollpatsch neu wird mit doppeltem l geschrieben.

Sesselmann: Ein ganz berühmtes Beispiel ist das Wort außen. Das schreiben die eisern mit zwei s. Nach den neuen Regeln der Rechtschreibung schreibt man das mit ß. Und da sind sie dann erstaunt, dass es korrigiert wird. Das muss man dann einüben. Wenn man es merkt beim Korrigieren, dass es Fehler sind, die oft kommen, dann übt man das ein und dann geht es schon über die Reflektion.

Seine Schüler pauken die neue Schreibeweise ohne Druck. Der Erfolg gibt Sesselmann Recht: Die alte findet er in den Texten seiner Schüler kaum noch, behauptet der Deutschlehrer. Wie selbstverständlich schreiben seine Schüler Stängel mit ä statt wie früher mit e. Auch gang und gäbe mit ä ist bei ihnen längst gängig.

Sesselmann: Ich glaube, dass es etwas ist, was sich einübt und einschleift. Da die Schulbücher mittlerweile in der neuen Rechtschreibung sind. Dass man in vielen anderen Büchern die neue Rechtschreibung hat. Man lernt sie eigentlich nicht über das Einüben von Regeln, sondern über das Sehen. Wenn sie sehen, ach das schreibt man so, und haben das schon öfters gesehen, dann schreiben sie es einfach auch so.

Ab dem kommenden Schuljahr, heißt es aus dem Kultusministerium, soll die neue Rechtschreibung auch an bayerischen Schulen verbindlich sein. Ob es für die Schüler dann leichter wird? Immerhin hat man neun Jahre an der Orthografie-Reform gebastelt und die Kultusminister hatten 1996 vollmundig eine Vereinfachung versprochen.

Sesselmann: Ich finde, dass die Schüler sich nicht leichter tun. Ich sehe wenige Vorteile, denn wie das ganze abgelaufen ist, wie man es wieder zurückgenommen hat und teilweise wieder korrigiert hat, die Reform ist so unsystematisch geworden, das sie keine Erleichterung ist. Durch die Vermischung der zwei Prinzipien, Lautprinzip und Wortstammprinzip, ist es so kompliziert geworden, dass es für die Schüler keine Erleichterung ist.

Die Bilanz ist niederschmetternd. Umfragen zufolge lehnt die Mehrheit der Deutschen die Reform ab. Kaum ein ernstzunehmender Schriftsteller denkt daran, auf die neue Schreibweise umzustellen. Nicht wenige Zeitungen und Zeitschriften folgen noch immer oder wieder den bewährten Regeln. Nur die Schüler müssen sich an die neue Schreibeweise gewöhnen. Unter ihnen ist die Reform schon lange kein Thema mehr. Sie geben zu, einiges sei gewöhnungsbedürftig. Sie räumen ein, noch nicht alle Regeln verinnerlicht zu haben. Aber, mit der Orthografie-Reform haben sie sich längst abgefunden.

Schüler: Es sind so wie vorher ein paar blöde Sachen dabei, aber damit muss man sich wohl abfinden. Zeichensetzung ist für mich einfacher als vorher und auch Trennungen etc. Rechtschreibung war für mich nie so das wirklich einfache, und daher ist es mir egal, ob es nun die neue Rechtschreibung ist oder die alte, und ich kann auch nicht spontan sagen, was sich genau geändert hat. Nur in manchen Situationen ist es logischer für mich. Weil beispielsweise Betttuch hätte ich immer mit drei t geschrieben. Und jetzt ist es erlaubt.

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Detlef Lindenthal
20.07.2005 21.21
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DLF, 19.07.2005, 19:05 Uhr

>>Kommentar: Rechtschreibreform nicht überall
Von Margarete Limberg

In der Sache macht es durchaus Sinn, abzuwarten, bis der Rat für Rechtschreibung seine Überarbeitung der Rechtschreibreform abgeschlossen hat, und die reformierte Reform dann in allen Teilen verbindlich in Kraft zu setzen. Es wäre ganz sicher keine Katastrophe, wenn dies erst im nächsten Jahr geschehen würde und nicht am 1.August.

Aber die Kultusministerkonferenz, kurz KMK, hat Anfang Juni einstimmig, das heißt mit den Stimmen der Bayerns und Nordrhein Westfalens, etwas anderes beschlossen und dafür den Segen der Ministerpräsidenten bekommen: die unstrittigen Regeln sind ab 1. August verbindlich, bei den strittigen Bestimmungen hingegen sind alte und neue Schreibweise nebeneinander erlaubt, bis der Rat für Rechtschreibung seine Vorschläge vorgelegt und die KMK sie für gut befunden hat. Zwei Wochen vor dem Stichtag auszuscheren und zu signalisieren, dass das Wort von gestern heute nichts mehr gilt, ist starker Tobak und der eigentliche Skandal. Es stellt nicht nur die Verlässlichkeit der Ministerpräsidenten Bayerns und Nordrhein Westfalens in Frage, sondern ist zugleich ein Armutszeugnis des Föderalismus. Nicht föderalistische Prinzipienfestigkeit wird uns vorgeführt, sondern eine absurde und selbstherrliche Kleinstaaterei, die dem Föderalismus langfristig jede Glaubwürdigkeit nimmt. Zugleich wird die Kultusministerkonferenz brüskiert. Ihre Beschlüsse sind davon abhängig, dass man sich auf das Wort der Mitglieder verlassen kann. Wenn das nicht mehr garantiert ist, steht die ganze Einrichtung in Frage. Dass die beiden Unionsministerpräsidenten bei dieser Gelegenheit ihre eigenen Kultusminister auf so rüde Art desavouieren, ist bemerkenswert.

Der Verdacht, dass es in erster Linie darum geht, im Wahlkampf Punkte zu machen, liegt auf der Hand. Dieser wird ohne Rücksicht auf Schüler und Lehrer geführt und ohne einen Blick auf Österreich und die Schweiz zu werfen, die sich gründlich düpiert vorkommen müssen.

Den Beschluss der Kultusminister hinterrücks zu kippen, das ist nicht das Ringen um die beste Lösung, sondern Populismus pur. Die gute Nachricht: Stoiber und Rüttgers bleiben allein, ihr Kalkül, andere Unions-Länderchefs auf ihre Seite zu ziehen, ist nicht aufgegangen.

Seit vielen Jahren wird über die Rechtschreibreform gestritten wie über kaum etwas sonst in diesem Land. Ohne Zweifel enthält diese Reform viele Absonderlichkeiten, und deshalb ist es gut, dass sie vom Rat für Rechtschreibung überarbeitet wird. Schon allein dies erlaubt die Rückkehr zu Gelassenheit. Die Entscheidung, die unstrittigen Teile jetzt in Kraft zu setzen, mag man kritisieren, sie ist aber keinesfalls ein ausreichender Grund, den mühsam gefundenen Konsens aufs Spiel zu setzen und einen orthographischen Flickenteppich zu knüpfen.

Deutschland mit seiner Massenarbeitslosigkeit und den maroden Sozialsystemen hat ganz gewiss größere Sorgen als die Rechtschreibreform. Wenn ihre endlose Geschichte das Muster deutscher Reformpolitik insgesamt ist, dann gute Nacht Deutschland.<<

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Den Namen Margarete Limberg sollte man sich schon seit langem gemerkt haben, was Kommentare betrifft. Ist Frau Limberg bewußtseinsgespalten? Fürchtet sie Deutschlands Untergang („gute Nacht“), wenn in der RS„R“ kein „Konsens“ gefunden wird und ein „orthographischer Flickenteppich“ geknüpft wird? Oder aber will sie „gelassen“ sein, weil Deutschland „ganz gewiss größere Sorgen als die Rechtschreibreform“ hat?

Wie kann das nur angehen, daß 200.000 Deutschlehrer, 14 Kultusminister und eine Rundfunkkommentatorin ganz geil und gierig darauf sind, daß den Schulkindern ab 1. August dick mit roter Tinte angebliche Fehler angestrichen werden, wenn sie so schreiben wie Welt und FAZ und Lenz und Grass?
Wem hilft denn diese mutwillige und gelogene Fehleranstreicherei? Ja, richtig, die taz hat offen das wirkliche Wesen und Ziel der Übung ausgesprochen: „Die Rechtschreibung ist abgeschafft.“ Und nicht nur die Rechtschreibung, sondern durch solche Limberg-Kommentare auch das redliche und folgerichtige Argumentieren.
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Detlef Lindenthal

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Detlef Lindenthal
13.08.2004 10.48
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Geistlicher Beistand für die RS„R“

Au wei, das kommt vom flüchtigen Lesen. Ich hatte nicht geschaltet, daß Pfarrer Machels Morgenandacht im DLF war. Hier ist sie als wohltönende, schlanke mp3-Datei:
http://rechtschreibreform.de/Ton/DLF_PfarrerMachel.mp3 (4:33 Minuten, 0,84 MB)
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Detlef Lindenthal

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Wolfgang Scheuermann
13.08.2004 08.54
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Mühsam

Lieber Herr Lindenthal!

Eine schöne Anregung, aber ich habe dem Pfarrer tatsächlich umständlich geschrieben. Ich kopiere die Antwort hierher; vielleicht kann man hier oder da etwas für (notwendiger denn je seiende) Leserbriefe übernehmen.

Sehr geehrter Herr Pfarrer!

Ganz schön überrascht war ich, als ich Sie heute morgen zum Thema Rechtschreibreform sprechen hörte.
Mein spontaner Eindruck war: Das hat er sich nicht richtig überlegt. Aber das kann ja kaum sein, wenn Sie ein Thema quasi zum Höhepunkt der Woche küren.
Vielleicht gelingt es mir aber mit ein paar Hinweisen, Sie zu dieser Sache zu etwas weitergehendem Nachdenken anzuregen. War Ihnen z.B. bekannt, daß die Rechtschreibreform Verstöße gegen die Grammatik verlangt? Er hat völlig Recht, heute Abend, ziemlich nichts sagend ... das DARF eine angebliche Rechtschreibreform einfach nicht! Denn dann ist es keine Rechtschreibreform, sondern eine Sprachreform.
Dazu kommt, daß die Rechtschreibreform objektiv schlecht ist. Das fängt bei der Streichung von Wörtern an – Herr Siebeck muß jetzt eine Hand voll Salbei im Mörser zerstoßen (wie ekelhaft!), wo er doch eine Handvoll meinte, ein jüngst verheiratetes Paar muß nun als „frisch gebacken“ firmieren (als käme es knusprig aus dem Backofen) usw., usw.; und es setzt sich fort bei völlig willkürlichen, unvorhersehbaren Festlegungen: hieß es vor der Reform achtgeben, preisgeben, anheimgeben, so soll es nun Acht geben, preisgeben und anheim geben heißen; hieß es vorher bewußtmachen, klarmachen, haltmachen, so soll nun bewusst machen, klarmachen und Halt machen geschrieben werden. Ich finde es, um Ihr Wort zu gebrauchen, wirklich gemein, Schülern so etwas zuzumuten. Und es beherrscht ja auch keiner!
Das gilt auch für das sogenannte Glanzstück der Reform, die Heysesche s-Schreibung von 1829. Nie wurden in diesem Bereich mehr Fehler gemacht als heute! Und das ist auch sehr verständlich, denn es werden mit dieser Schreibweise mehr Fehlermöglichkeiten in die Schreibung hineinkonstruiert. Ein s-Laut am Schluß eines Wortes konnte bislang nur mit ß oder mit s geschrieben werden, jetzt kommt mit Verständniss ein neues Ereigniss hinzu. „Viele Grüsse“ haben Sie bestimmt auch schon erhalten. (Oder Postkarten gesehen: „Mit Gruss und Kuss!“)
Und das in einem Bereich, der vorher so einfach geregelt war, daß praktisch keine Fehler vorkamen (außer der nachlässigen Verwechslung von daß und das; jetzt: dass und das). Sie kennen die bisherige Regel nicht? Man braucht sie auch kaum, weil sie sich fast automatisch ergibt: Eszett ist zu schreiben, wenn ss nicht getrennt werden kann. Dafür gibt es das Zeichen ß nämlich, um zwei miteinander „verbackene“ s zu ersetzen, also Faß, Fuß oder Fluß (daher NICHT Flusssenke oder Basssänger, aber eben auch nicht Fussball – wie es bei der EM ständig eingeblendet wurde).
Noch einmal abschließend zu Ihrer „Gemeinheit“: In der letzten Sendung von Frau Christiansen hat die derzeitige Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Frau Staatsministerin M.A. Doris Ahnen, angeführt, die Rechtschreibreform betreffe nur 2% der deutschen Wörter, und 95% davon entfielen auf die ss/ß-Regel. Nimmt man das einmal so an, so wären bei einem (hoch angesetzten) Schülerwortschatz von 25.000 Wörtern 500 Wörter betroffen, 475 davon mit einem Wechsel von ß zu ss. Dies lernt man mit obiger Regel in 30 Sekunden „zurück“ (Fass? Kann nicht getrennt werden >>> Faß), und für die übrigen 25 Wörter (ein Promille des Wortschatzes) sollte man eigentlich auch nicht mehr als einen Nachmittag brauchen, meinen Sie nicht?
Und nach diesem Umlernaufwand schrieben die Kinder wieder wie Siegfried Lenz, Elfriede Jelinek oder Robert Gernhardt (und fast alle anderen Schriftsteller und Dichter – warum tun diese sprachsensiblen Menschen das eigentlich? Weil sie einfach zu faul sind umzulernen?). Sie schrieben wieder so, wie es die Mehrzahl der Fachwissenschaftler und mit ihnen die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen für richtig halten. Und das wäre gemein?
Ein letzter Gedanke: Unsere Sprache ist auf uns als etwas Lebendiges gekommen, wir nutzen sie eine Zeitlang und geben sie (hoffentlich ebenso lebendig) an folgende Generationen weiter. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, der Sprache künstlich Regeln einzuziehen, die sich nicht aus ihr selbst oder aus ihrem Gebrauch entwickelt haben, Regeln, die vielmehr in abgeschirmten Expertenzirkeln erfunden und schließlich in einem Verwaltungsakt jenen aufoktroyiert wurden, die sich überhaupt nicht zur Wehr setzen konnten – den Schülern, die noch gar nicht schreiben konnten.
Weil diese künstlichen Regeln sich auch nach bald einem Jahrzehnt nicht in der Gesellschaft haben durchsetzen können, ist es nicht nur keine Gemeinheit, die Schüler davon wieder zu befreien; es wäre nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ganz im Gegenteil verfassungswidrig, würde man fortfahren, sie nach diesen Regeln zu unterrichten.
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Dr. Wolfgang Scheuermann

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Detlef Lindenthal
13.08.2004 08.32
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Dem Pastor kann geholfen werden.

Lieber Herr Dr. Scheuermann,

Sie können doch diesen Pfarrer auf die gestrige taz-Ausgabe und auf die Herren
Landolt und Anliker
(siehe http://kleinschreibung.ch) verweisen, da bekommt Herr Pfarrer Machel viel mehr „reform“ für sein Geld. Und wenn ihm das noch nicht genügt, könnte er das derzeit verwaiste Geschäft seiner Kollegen in St. Pölten übernehmen.

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Wolfgang Scheuermann
13.08.2004 06.19
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Pfarrer Jörg Machel leidet mit

Der Pfarrer der Kreuzberger Emmaus-Gemeinde, Herr Jörg Machel, war diese Woche für die Morgenandacht im Deutschlandfunk zuständig. Seine heutigen „Gedanken zur Woche“ widmete er dem Thema Rechtschreibreform. (Sie werden demnächst wohl unter
http://www.tv-ev.de/kirche_im_radio_bundesweit_2167.html
nachzulesen sein.)
Pfarrer Machel meinte sinngemäß (u.a.), die Sprache sei nicht zum ersten Mal reformiert worden, das müsse immer wieder einmal geschehen. Wenn die jetzige Reform zurückgenommen würde, weil die Älteren sich nicht umgewöhnen wollten, dann empfände er dies den Schülern gegenüber als gemein.

Recht so! Ein tapferes Pfarrerwort, das klare Orientierung bietet, während Spiegel und FAZ der Jugend die Zukunft stehlen. Das war leider bitter nötig!!!
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Dr. Wolfgang Scheuermann

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Wolfgang Scheuermann
04.03.2004 10.58
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Fadenverlorenes Denken

Heute morgen heißt es in einer Meldung des Deutschlandfunk:
„Union und FDP haben sich auf Horst Köhler als gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten verständigt. Der 61-Jährige ist CDU-Mitglied und steht eigentlich noch bis Mai nächsten Jahres an der Spitze des Internationalen Währungsfonds. Die Entscheidung soll heute Vormittag offiziell bekannt gegeben werden.“

Da ist der „Jährige“, da ist der falsche „Vormittag“ – alles harmlos.
Die Heidelberger Rhein-Neckar-Zeitung („Mens agitat molem“) hält seit mehreren Tagen für berichtenswert, daß einige ihrer Redakteure das Rauchen aufgegeben hätten. Diese schauten jetzt nicht mehr „Gedanken verloren“ aus dem Fenster.
Umberto Eco hatte vor längerem bekannt, er brauche eine Zigarette, um schreiben zu können. In der RNZ regiert dagegen (der die Folgen der Rechtschreibreform offenbar vorausahnende) Karl Kraus.
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Dr. Wolfgang Scheuermann

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Detlef Lindenthal
21.02.2004 18.14
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Champus und Kajehre

In der Tat, die Sendung war jämmerlich – laute Partymusik und schwach kommentierte, nach Hauptstromlinienzäpfchenform vorausgewählte Anruferbeiträge:
Im ersten Beitrag beklagte ein schon etwas ältlicher Berliner Informatiker, daß er doch mit dem Aufkommen der rechnergestützten Schreibsysteme [die in den 60er Jahren bekanntlich mit Lorenz-Fernschreibern und 32 Zeichen auskommen mußten] gehofft hatte, daß Großbuchstaben und Umlaute wegfallen würden*, worauf Herr Dr. Karl Blüml, Stadtschulrat von Wien und Vorsitzender der Zwischenstaatlichen Kommission für Rechtschreibreform, sich mitzuteilen beeilte: Ja, auch er sei sehr für die Kleinschreibung, die RS-Kommission habe sie auch ursprünglich gefordert, aber die Politiker wollten sie nicht.

(*Womit dieser „Informatiker“ zeigt, daß er sein Fach nicht kennt; denn ebenso wie Gutenberg 1453 ff. mit dem vollen Zeichensatz einschließlich aller Verbünde (Ligaturen) antrat, hatte auch der rechnergestützte Lichtsatz ab etwa 1970 den vollen Zeichensatz von etwa 200 Zeichen, einschließlich Großbuchstaben, Umlauten, richtigen Tütteln und Gedankenstrich. Erst durch das Wirken des Rechtsanwaltssohnes William “Bill” Gates sind die Kulturzeichensätze wieder in Bedrängnis geraten.)

Dr. Blüml verbringt „seit 30 Jahren seine Freizeit mit RSR“.

Seine Netzpost* schreibe er natürlich in Kleinbuchstaben.

(*Ich, D.L., schreibe immer Netzpost, weil ich mir keinen Reim darauf machen kann, wie Imehl nach deutscher RS zu schreiben wäre.)

Dr. Blüml: Seit 1947 habe es in Dänemark 30 Jahre gedauert, bis die dortige RSR sich durchgesetzt hat.

Unsere gute Frau Dr. Margret Popp rief an und redete sehr laut und heftig über die Unwichtigkeit der Schriftsprache.
Dr. Blüml: „Frau Kollegin Popp, Sie sprechen mir aus der Seele.“

Dr. Blüml: „Gott sei Dank ist RS kein Gesetz.“
[– Außer, für Schleswig-Holsteins Schulen, vom 27.8.1998 bis zum 14.8.1999.
– Wer mit Verordnungen regieren kann, braucht keine Gesetze.]
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Detlef Lindenthal

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Detlef Lindenthal
21.12.2002 21.24
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Rechtschreibreform (2. Teil) mit neuen Regeln:

§ 213:
„Wenn ein geographischer Eigenname nicht mehr als 4 Buchstaben hat, soll der letzte Buchstabe nach Beliebigkeit ausgewechselt werden, wenn damit eine Wortwiederholung vermieden werden kann.“

Zum Beipiel so:
„Bush: Freundschaft zwischen Irak und USA möglich
US-Präsident Bush hat dem Iran die Freundschaft der Vereinigten Staaten angeboten....“
(im weiteren Wortlaut der Meldung ist gar nicht mehr von Freundschaft mit dem Irak die Rede, eher vom Gegenteil.)
Quelle: http://www.dradio.de/extra/irak/index.html

Anmerkung (1.):
Natürlich wurde die nun kommende Zündung der zweiten Raketenstufe des „Reform“projektils nur dadurch möglich, daß die erste Stufe erfolgreich abgebrannt ist: Mit ihr wurden zig Milliarden Mark und Euro verfeuert, durch deren Fehlen nun überall und ganz gewiß beim DLF die Lektoren eingespart werden konnten. Sonst würden diese Pedanten, Besserwisser und Wichtigtuer doch noch überall in ihren Sesseln sitzen und mit Häme, Hohn und Rotstift sich in den Gedankenfluß der Redakteure einmischen.

Anmerkung (2.):
Ebenso natürlich ist, daß § 213 insbesondere in den Auswertungsberichten von Luftbildern und den anschließenden Bombereinsatzplanungen anzuwenden ist.

Anmerkung (3.):
Die Rechtschreib„reform“ insgesamt ist nämlich eine Geheimwaffe, die sich hinter Anthrax und Pocken nicht zu verstecken braucht.

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