Eine wirkliche Rechtschreibreform liegt in weiter Ferne
(SZ 7.10.1995)
Zu dem Leserbrief 'Unfug der Rechtschreibung begünstigt Schreibfaulheit' in der SZ vom 27. 9.:
Professor Dr. Lutz Götze hält es für angebracht, Kritiker der geplanten Rechtschreibreform für politische Reaktionäre, Heuchler und sadistische Kinderquäler zu erklären. Da ich mich von solchen Anwürfen nicht getroffen fühle, möchte ich nicht darauf eingehen, sondern schlage vor, die Diskussion oberhalb der Gürtellinie fortzusetzen. Rechtschreibreform ist ja heute offensichtlich nicht mehr automatisch 'progressiv' und Kritik daran nicht 'konservativ', wie es ein Schema will, von dem man eigentlich annehmen möchte, daß es sich schon in den siebziger Jahren zu Tode geklappert hat.
Es trifft nicht zu, daß die Kritik seit der Wiener Konferenz vom November 1994 geschwiegen hätte. Vielmehr erschienen sogleich ausführliche Kritiken in überregionalen Zeitungen (in der SZ leider fast nur der, allerdings vorzügliche, Leserbrief von A. Siegner am 31. 12. 1994). Man muß natürlich das Handicap bedenken, unter dem die Kritiker litten: Es waren ja nur vorläufige Regelformulierungen nebst ausgewählten Beispielen zugänglich; eine überarbeitete Fassung und vor allem das unentbehrliche Wörterverzeichnis waren in Aussicht gestellt. Erschienen sind sie im Juli 1995, mitten in den Sommerferien und wenige Wochen vor den avisierten Beschlüssen der Kultusminister! Das in einem linguistischen Fachverlag veröffentlichte Regelwerk mit Wörterverzeichnis ist, wie ich bei Stichproben feststellen mußte, auch heute noch selbst in Universitätsbuchhandlungen unbekannt, die Buchhändler müssen in ihren Computern danach fahnden. (Übrigens haben meine Studenten und ich im Laufe dieses Jahres durch Befragungen in der Bevölkerung festgestellt, daß fast jeder zu wissen glaubt, die Reform sei beschlossene Sache, daß aber fast niemand die geringste Vorstellung vom Inhalt der Wiener Beschlüsse hat. Man interessiert sich einfach nicht dafür. Soviel noch zum 'Handlungsbedarf'.
Dann muß man noch die überaus geschickte Sympathiewerbung unter dem Stichwort der 'Behutsamkeit' in Rechnung stellen, deren Charme ja auch Hermann Unterstöger seinerzeit erlegen ist (SZ vom 25. 11. 1994: 'Keine Wüteriche am Werk'). Nur, daß man eben aus der offensichtlichen Geringfügigkeit der Eingriffe zwei verschiedene Schlüsse ziehen konnte: 'Wenn's weiter nichts ist, können wir es ja machen.' Oder aber: 'Wenn nicht mehr dabei herauskommt, sollten wir es bleibenlassen!'
Was die Reform selbst betrifft, so hat sie neben unbestreitbaren Verbesserungen (zum Beispiel der Trennung von s-t) auch schwere Mängel, und zwar im Grundsätzlichen. Die vielgerühmte, scheinbar angenehm liberale 'gezielte Variantenführung' widerspricht dem Ziel jeder Rechtschreibreform (zu dem auch der vorliegende Entwurf sich bekennt), nämlich zur Vereinheitlichung zu führen, also Varianten gerade abzubauen. Konkret gesprochen: Bisher mußten die Schüler lernen, daß Rhythmus richtig und alles andere falsch ist. In Zukunft müssen sie lernen, daß Rhythmus und Rytmus richtig und alle anderen Schreibweisen falsch sind. Und so in vielen weiteren Fällen. Das ist objektiv eine Erschwernis.
Weiter: Nachdem die Kleinschreibung schon vor Jahren aufgegeben werden mußte (obwohl sie paradoxerweise ein vergleichsweise harmloser Eingriff gewesen wäre, da sie im Gegensatz zum jetzigen Entwurf die alphabetische Reihenfolge in Lexika usw. nicht antastet!), wurde die Verwechselbarkeit von daß und das zum Paradepferd der Reformer. Die neue Regelung, nämlich die bloße Ersetzung von daß durch dass, bringt keine Erleichterung, da sie genau dieselben grammatischen Kenntnisse voraussetzt wie die alte Regelung. Es werden also auch die bisherigen Fehler weiterhin unterlaufen, nur in leicht veränderter Gestalt.
Andererseits bringt aber die Reform eine Fülle neuer Probleme gerade bei der s-Schreibung. Nach kurzem Vokal soll nur noch ss stehen. Ausnahme: die 'kleinen Wörtchen' es, bis, das, des usw. Gut, Ausnahmen wird es immer geben. Aber auch Erlebnis usw. und natürlich der besagte Rytmus, also eine sehr beträchtliche Zahl weiterer Wörter werden mit s geschrieben, und doch war es erklärtes Ziel der Reform, Ausnahmen von Ausnahmen zu vermeiden.
Auch bei der Neueinführung etymologischer (Stängel, behände) und sogar volksetymologischer Schreibungen (belemmert, einbläuen) ist vieles schiefgelaufen. Nun, man könnte seitenlang fortfahren, solche Mängel darzustellen, die mich eben zu der durchaus nicht politisch, sondern linguistisch und didaktisch begründeten Ansicht geführt haben, daß diese Reform besser nicht durchgeführt werden sollte. Bei ihrer Vorbereitung sind hervorragende Forschungsarbeiten geleistet worden, so daß man sagen kann, es war der Mühe wert.
Herausgekommen ist unter anderem die Einsicht in manche subtile Rationalität des vermeintlichen 'Unfugs der Rechtschreibung'. Man muß sogar anerkennen, daß sich die Duden-Leute selbst bei den berüchtigten Quisquilien wie Auto fahren/radfahren (oder ist es umgekehrt? Ich weiß es nicht und will es nicht wissen; es interessiert mich einfach nicht und sollte auch keinen Lehrer interessieren, der noch alle Tassen im Schrank hat!), daß sie sich also etwas dabei gedacht haben. Nur ist es leider oft so fein gesponnen, daß kein normaler Mensch es nachvollziehen kann. Die Forschungen haben auch gezeigt, daß es viel leichter ist, auf die Mängel der geltenden Norm hinzuweisen, als eine grundlegende Verbesserung vorzuschlagen, die nicht an anderer Stelle zur 'Verschlimmbesserung' führt. Übrigens hat die SZ mit ihrem dankenswerten Abdruck eines ganzen SZ-Magazins in neuer Rechtschreibung bewiesen, daß die Reform nicht lohnt. Was ist denn gewonnen, wenn man Zigarrette mit zwei r schreibt (wegen Zigarre), wo doch jedes Kind ständig Cigarette liest, wie die 'Cigaretten-Industrie' (sic!) in ihrer Werbung zu schreiben vorzieht. Was soll uns Triumpf, wo doch bei regulärer Ersetzung von ph durch f Triumf die eigentlich gebotene Nebenform zu Triumph wäre! Das ist Schnickschnack, mit dem wir uns vor aller Welt lächerlich machen würden.
Herr Götze malt das Elend heutiger Schüler in den schwärzesten Farben. Daß aber nach der Reform ein rosiges Zeitalter anbreche, wo den Schülern 'die Angst vor dem Fehler zumindest ein wenig genommen wird und sie wieder Lust haben, Briefe, Tagebücher oder Gedichte zu schreiben' zu dieser Hoffnung gibt der Reformentwurf bei genauerer Betrachtung keinen Anlaß.
Eine wirkliche Rechtschreibreform, die vor der Welt bestehen kann, scheint noch in weiter Ferne zu liegen. Einstweilen sollte man, wie ich es seit vielen Jahren in Rede und Schrift vertrete, hauptsächlich darauf hinwirken, daß Schulbehörden, Handwerkskammern usw. die Rechtschreibung zwar ernst, aber nicht allzu ernst nehmen. Denn das ist doch wohl klar: Selbst mit einer wünschenswerten gut reformierten Orthographie kann man einen Schüler oder Lehrling jederzeit über die Klinge springen lassen, wenn man dazu entschlossen ist.
Prof. Dr. Theodor Ickler Ringstraße 46 91080 Spardorf
– geändert durch Theodor Ickler am 22.12.2003, 05.56 –
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Th. Ickler
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