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Theodor Ickler
22.12.2003 05.21
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Jahrelange Verwirrung vorprogrammiert

(SZ 19.12.1995)


Zur 'Rechtschreibreform – eine demokratische Entscheidung?' in der SZ vom 3. 12.:
Wieder einmal wurde die (schreibende) Mehrheit zur Rechtschreibreform nicht gefragt. Nach jahrelangem Drängen aufsässig-hartnäckiger Sprachwissenschaftler, Lehrer und wohl auch Wörterbuchverlage haben in der vergangenen Woche die Kultusminister beschlossen, daß die seit 1901 genormte und schon vorher gut hundert Jahre lang kaum noch geänderte Schreibweise der deutschen Sprache, d. h. die Rechtschreibung, 'reformiert' wird. Zig Millionen Menschen haben sie erlernt, Vielleser und Vielschreiber besser als Wenigleser. Nun müssen sich zig Millionen Menschen umstellen und Geld ausgeben für die vorzeitige Ersatzbeschaffung von Büchern und Textverarbeitungsprogrammen, von der jahrelangen Verwirrung nicht zu reden. Mit Recht wurde die Rechtschreibänderung als verfassungswidrig bezeichnet, weil sie an den Parlamenten vorbeijongliert worden ist. Beim besten Willen kann ich nicht erkennen, daß es demokratisch ist, wenn eine kleine lautstarke Minderheit, nämlich eine Gruppe von Sprachwissenschaftlern und Lehrern, mit Hilfe der politischen Entscheidungsträger die schreibende Mehrheit, das sind zig Millionen Menschen, durch die Änderung der Rechtschreibung verwirren darf? Nur weil angeblich eine Minderheit von Schulanfängern nicht mehr diejenigen Regeln erlernen kann, die wir uns und Generationen vorher beim Lesen sozusagen nebenbei angeeignet haben. Jede Rechtschreibregelung muß man sich aneignen, auch die geänderte; denn eine ideale Rechtschreibung kann es bei nur 27 Buchstaben und den vielen Lauten einer Sprache nicht geben. Engländer und Franzosen ändern ihre noch schwierigere Rechtschreibung u. a. deshalb nicht, weil sie den Zugang zu älterer Literatur nicht erschweren wollen.
Die schwerwiegendste Änderung der 'Reform' ist die weitgehende Abschaffung des 'ß', das sich seit dem 15. Jahrhundert als sinnvoller deutscher Sonderbuchstabe bewährt hat. Gerade diese Änderung wurde in den Veröffentlichungen der letzten Monate praktisch nie erwähnt. Vielmehr hat man die bewahrenden Kräfte erfolgreich auf den Nebenkriegsschauplatz 'Fremdwortschreibung' abgelenkt. Damit kam ganz unbeanstandet die einzig wichtige Änderung durch, nämlich der Einstieg zur Abschaffung des 'ß'. Nur er wirkt sich auf die häufigsten Wörter der deutschen Sprache aus. Alle anderen Änderungen betreffen seltenere Fälle; denn unter den hundert häufigsten Wörtern der deutschen Sprache – fast 50 Prozent eines Durchschnittstextes bestehen aus ihnen – kommen zwei mit 'ß' vor: daß und muß. Sie sollen – welch ein Beitrag zur Rationalisierung – künftig nicht mehr mit drei, sondern mit vier Buchstaben geschrieben werden!
Die Schreibung von spitzfindigen Grenzfällen der Zusammen- oder Getrenntschreibung sowie der Groß- oder Kleinschreibung hätte man ohne weiteres freigeben können, ohne daß die Mehrheit der fehlenden eindeutigen Regelung nachgeweint hätte. Allenfalls wäre der Umsatz von Verlagen für Rechtschreib- und Wörterbücher etwas niedriger ausgefallen!
Dipl.-Ing. Wolfgang Hendlmeier Allescherstraße 32 81479 München

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Th. Ickler

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Theodor Ickler
22.12.2003 05.17
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Rechtschreibreform soll vom August 1998 an gelten

(SZ 2.12.1995)

Kultusminister verhindern das Eindeutschen von Fremdwörtern Zustimmung der Regierungschefs gilt als sicher
Bis 2005 sind neben den neuen auch die bisherigen Regeln richtig

Mainz (dpa/AP) – Die Kultusminister haben am Freitag auf ihrer Konferenz in Mainz der Rechtschreibreform zugestimmt. Die neuen Regeln sollen vom 1. August 1998 an gelten. Die Zustimmung der Ministerpräsidenten gilt jetzt als sicher, nachdem sich die Kultusminister auf einige Abstriche an der Reform verständigt haben. Einig wurden sich die Minister auch über das Abitur.

Die Rechtschreib- und die Kommaregeln werden wie geplant stark vereinfacht. Verzichtet wurde aber auf das umstrittene Eindeutschen von Fremdwörtern wie Katastrofe (für Katastrophe) oder Alfabet (für Alphabet). Erlaubt werden jedoch Delfin, Tunfisch und Panter. Das 'ß' nach kurzen Vokalen ist durch 'ss' zu ersetzen ('Fass'). Nach langem Vokal bleibt das Eszett ('Fuß'). Zusammengesetzte Wörter wie Radfahren werden grundsätzlich getrennt geschrieben ('Rad fahren'). Scheinhauptwörter werden groß geschrieben ('im Allgemeinen', 'das Weite suchen'), ebenso Tageszeiten (heute Morgen). Am Zeilenende werden Wörter nach Sprechsilben getrennt (Wes- te). Viele häufig falsch geschriebene Wörter werden dem gesprochenen Deutsch angepaßt, teilweise auch als Alternativ- Angebot. So ist künftig ein 'potenziell' und 'existenziell' vorgesehen (bisher 'potentiell', 'existentiell').
Auf Beschluß der Minister wird die ursprünglich für 1997 geplante Reform um ein Jahr verschoben. Bis zum Jahr 2005 sollen die bisherigen Schreibweisen in den Schulen nicht als falsch, sondern als 'überholt' gekennzeichnet und von den Lehrern bei Korrekturen mit den neuen Schreibweisen ergänzt werden. Als Folge der langen Übergangsfrist müssen wegen der Rechtschreibreform keine Schulbücher neu gedruckt werden.
Die 16 Ministerpräsidenten werden den Beschluß voraussichtlich am 14. Dezember nach ihrem Treffen mit dem Bundeskanzler billigen. Mit Österreich und der Schweiz sei er schon abgestimmt, berichtete in Mainz die Hamburger Kultussenatorin Rosemarie Raab. Der Jenaer Jura- Professor Rolf Gröschner kündigte an, er werde Verfassungsbeschwerde einlegen.

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Th. Ickler

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Theodor Ickler
22.12.2003 05.14
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Errettung vor der Katastrofe

Kultusminister beraten über Rechtschreibreform

Fremdwörter werden nur ausnahmsweise eingedeutscht

(SZ 1.12.1995)

(AP) Die Kultusminister der Länder sind am Donnerstag in Mainz für zwei Tage zusammengekommen, um die Rechtschreibreform möglichst in die endgültige Form bringen. Die 212 alten Regeln werden wohl auf die Hälfte zusammengekürzt; bis zuletzt strittig dürfte die Eindeutschung von Fremdwörtern wie Restorant bleiben. Wie die Sprecherin des rheinland-pfälzischen Kultusministeriums, Vera Reiß-Jung, sagte, ist bei der Konferenz 'eine abschließende Beratung zu erwarten'.
Vor einem Jahr hatten Fachleute aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in Wien die erste Rechtschreibreform seit 1901 besiegelt. Radikale Vorschläge wie die generelle Kleinschreibung und die Gleichschreibung gleicher Laute (rot – Bot) waren in der Endfassung nicht mehr enthalten. Von den Kompromissen, die übrig blieben, mißfiel Bayerns Kultusminister Hans Zehetmair, einem gelernten Gymnasiallehrer, vor allem die katastrofale Eindeutschung von Fremdwörtern. Er verhinderte daraufhin die für September vorgesehene Zustimmung der Kultusminister-Konferenz (KMK), die in dieser Frage einstimmig entscheiden muß.
Nach Angaben des Bonner KMK-Sekretariats schlug die Kommission der Amtschefs den Ministern vor, 'Fremdwörter grundsätzlich nicht einzudeutschen'. Bei einer Reihe umstrittener Wörter soll auf die zuerst vorgesehene zweite Variante (neben der bisherigen Form) verzichtet werden. Das Restorant und die Katastrofe, den Rytmus und die Filosofie, über die auch die Thüringer Regierung die Nase rümpfte, wird es mithin vermutlich nur bei Legasthenikern geben. Wie eine Mitarbeiterin der KMK berichtete, bleiben vom Wiener Reformvorschlag nur einige Ausnahmen bei Wörtern, deren deutsche Schreibweise sich im Sprachgebrauch verfestigt hat – zum Beispiel Telefon oder Fotograf.
Die anderen Teile der Reform sollen aber – wie von den Fachleuten in Wien vorgeschlagen – verwirklicht werden: Die Zahl der Rechtschreibregeln wird halbiert, statt 52 gibt es nur noch neun Kommaregeln, zahlreiche Ausnahmen entfallen. Die Großschreibung wird vereinfacht (heute Morgen, im Allgemeinen). Die Getrenntschreibung wird bevorzugt (Rad fahren statt radfahren). Am Zeilenende werden die Wörter stets nach Sprechsilben getrennt (Wes- te). Drei Konsonanten hintereinander müssen auch dann geschrieben werden, wenn ein Vokal folgt (Schifffahrt).

Start im August 1998

Vor allem ums Geld geht es bei der Verschiebung der Termine, die die Amtschefs ihren Ministern vorgeschlugen. Wie das Sekretariat der KMK mitteilte, soll die Neuregelung nicht 1996 oder 1997, sondern erst am 1. August 1998 in Kraft treten. Außerdem soll die Übergangszeit, in der die bisherige Schreibweise als überholt, aber nicht als falsch gilt, statt bis 2002 bis Juli 2005 dauern. Damit wollen die Minister erreichen, daß 'Schulbücher nur im Rahmen des normalen Bestandsaustauschs' erneuert werden müssen – ein Satz, der zwar verständlich, aber schlechter Stil ist.
Der Duden-Verlag will jetzt erst einmal abwarten. Der schon für den 29. September angekündigte neue Duden mit sämtlichen Änderungen wäre beim Erscheinen Makulatur gewesen, und eine Broschüre mit den neuen Rechtschreibregeln wurde inzwischen wieder vom Markt genommen. Mitte Dezember wollen die Ministerpräsidenten mit Bundeskanzler Helmut Kohl über die Rechtschreibreform reden, im Frühjahr will die Ministerpräsidenten- Konferenz dann entscheiden. Und nach Abschluß der politischen Beratungen in Deutschland ist noch eine zwischenstaatliche Erklärung mit Österreich und der Schweiz vorgesehen. Mit Blick auf die vielen Köche meinte Duden-Sprecherin Sibylle Appel: 'Man kann nicht sagen, was kommt.'

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Th. Ickler

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Theodor Ickler
22.12.2003 05.10
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Reformwerk aus dem Halbdunkel holen

Die Juristen sind der Ansicht, daß gravierende Neuerungen der Orthographie durch ein Gesetz geregelt werden müssen


Von Hermann Unterstöger

(SZ 2.11.1995)

Was die weitere Behandlung der Rechtschreibreform betrifft, so scheinen die Institutionen einander die heiße Kartoffel derart lange zuwerfen zu wollen, bis diese zerbröselt ist – und mit ihr der sonst so beliebte Handlungsbedarf. Zuerst sind die Kultusminister zu keiner Entscheidung gekommen, dann die Innenminister der Länder, und nun gewinnt ein Aspekt immer mehr an Raum und Gewicht, der geeignet sein könnte, das Reformwerk fürs erste (und das können bei diesem Gegenstand leicht hundert Jahre sein) zu paralysieren. Es ist das die Frage, ob die Orthographiereform nicht eigentlich eines Gesetzes bedarf.
Die Stimmen, die nach einer parlamentarischen Behandlung der Angelegenheit rufen, kommen aus diversen Lagern und diversen Ecken der Republik. Am grimmigsten hört sich die aus Passau an. Sie gehört dem Gründungsdekan der dortigen juristischen Fakultät, dem konservativen Querkopf Michael Kobler, der die Reform von der Sache her für einen 'Schmarrn' hält, ausgeheckt von einer 'Heurigenrunde'. Geht es um die rechtliche Seite, drückt er sich differenzierter aus. Eine auf dem Erlaßweg verfügte Rechtschreibreform sei verfassungswidrig, da die Bestimmung der Unterrichtsinhalte im Hinblick sowohl auf das Persönlichkeitsrecht der Schüler (Artikel 2 GG) als auch auf das Erziehungsrecht der Eltern (Artikel 6) grundrechtsrelevant sei.

Wesentlicher Eingriff

Ähnliches äußerte dieser Tage der Frankfurter Verfassungsrechtler Erhard Denninger in einem Interview. Auch er hält eine Rechtschreibreform ohne Absicherung durch die Legislative für verfassungswidrig, da ein 'wesentlicher Eingriff in unsere Handlungsfreiheit' vorliege. Im Gegensatz zu früher seien, wo 'grundrechtsberührende Änderungen' zur Debatte stünden, die Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit strenger geworden: Habe man sie einst für unwesentlich gehalten, so fordere das Verfassungsgericht heute dafür eine gesetzliche Grundlage.
Der Staatsrechtler und Rechtsphilosoph Rolf Gröschner (Jena) hat vor vier Jahren seinen Doktoranden und jetzigen wissenschaftlichen Assistenten Wolfgang Kopke auf das Thema 'Rechtschreibreform und Verfassungsrecht' gestoßen. Aus der Anregung wurde eine hoch gelobte Dissertation, die demnächst bei J. C. B. Mohr in Tübingen erscheinen wird. Die Grundzüge seiner Arbeit skizzierte Kopke unlängst in der Juristenzeitung (Heft 18/1995), wobei er einen Aspekt besonders herausstrich: die fehlende Kompetenz der Kultusminister, eine Rechtschreibreform ohne gesetzliche Ermächtigung anzuordnen.

Einheitlichkeit zerstört

Nach Kopkes Ansicht ist es schon ein Fehler, bei der Neuregelung der Orthographie auf die Einführung der amtlichen Orthographie zu Beginn dieses Jahrhundert zu rekurrieren. Zum einen sei damals keine inhaltliche Reform, sondern lediglich eine Vereinheitlichung divergierender Schulorthographien bewerkstelligt worden, wohingegen jetzt 'völlig ungebräuchliche Schreibweisen neu eingeführt und dadurch die Einheitlichkeit des Schreibgebrauchs zumindest vorübergehend zerstört' würden. Zum anderen aber hätten seinerzeit die Bedingungen der konstitutionellen Monarchie geherrscht, unter welcher der Schüler, also einer der Adressaten so einer Regelung, kein Grundrechtsträger gewesen sei, sondern ein (so der Staatsrechtler Fritz Fleiner) 'zu bearbeitendes Glied des staatlichen Verwaltungsapparates'.
Dem Bundesverfassungsgericht zufolge muß, so Kopke weiter, ein für die Gesellschaft so wichtiger Lebensbereich wie die Schule zumindest in den Grundzügen durch den 'demokratisch legitimierten Gesetzgeber . . . in einem öffentlichen Willensbildungsprozeß' gestaltet werden. Dies sei vor allem dann zu fordern, wenn eine schulrechtliche Maßnahme weitreichende Auswirkungen auf die Allgemeinheit habe. Da durch eine Rechtschreibreform 'die bisherige Einheitlichkeit des Schreibgebrauchs zerstört' werde, sei die Allgemeinheit wesentlich betroffen, weswegen eine entsprechende Entscheidung der gesetzlichen Regelung bedürfe und nicht, wie der Tübinger Staatsrechtler Thomas Oppermann beinahe dichterisch sagt, 'im Halbdunkel eines kultusexekutiven Arkanums getroffen werden' könne.
Notgedrungen stieß Wolfgang Kopke bei seiner Untersuchung auch auf das Problem Duden, dessen Redaktion sich laut ihrem früheren Leiter Günther Drosdowski 'als verlängerter Arm des Staates in Sachen Rechtschreibung' versteht. Dem Duden war ja, zur Erbitterung der Mitbewerber auf dem Markt, anno 1955 von den Kultusministern bestätigt worden, daß er 'in Zweifelsfällen . . . verbindlich' sei. Kopke sieht die 'Beleihung' in dieser Form für rechtswidrig an. So eine Empfehlung sei nämlich nicht grundrechtsneutral, vielmehr stelle sie einen 'Eingriff in die Berufsfreiheit konkurrierender Wörterbuchverleger' dar, wie er dem Staat aber durch das Grundgesetz untersagt sei.
Würden sich nun die Kultusminister auf dem Wege des Erlasses für eine Rechtschreibreform entscheiden, so sieht Kopke darin einen neuerlich Eingriff in die Berufsfreiheit der Duden-Konkurrenz. Immerhin sei Günther Drosdowski jahrelang unter den Reformern gesessen, und auch die vom Duden-Verlag breit gestreute Informationsschrift über die Reform erwecke graphisch den Eindruck, 'als sei diese Reform ein Vorhaben des Duden'. Nicht zuletzt dieser Aspekt spricht laut Kopke für eine Rechtschreibreform auf gesetzgeberischem Wege. Sie böte allen Verlagen gleiche Chancen, 'weil der Duden auf dieses Verfahren nicht denselben Einfluß nehmen könnte wie auf die Arbeit der Reformkommission.'
Die Kultusminister wissen von Kopkes Arbeit seit Ende August. Öffentlich dazu geäußert hat sich bereits Bayerns Kultusminister Hans Zehetmair (CSU), dem 'diese Auffassung doch etwas zu weit geht' und der 16 Ländergesetze sowie ein Bundesgesetz für entbehrlich hält. Das Erlernen einer bestimmten Schreibweise unterliege nicht dem Erziehungsrecht der Eltern, denn die Sprachentwicklung vollziehe sich unabhängig davon. 'Mit anderen Worten: Es geht um Schreibkonventionen, die angepaßt werden sollen, nicht um Erziehungs- und Bildungsziele.'
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Th. Ickler

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Theodor Ickler
22.12.2003 05.07
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Feden um das Alfabet


Regierungserklärung zur Rechtschreibreform

Zehetmair warnt vor 'Verhunzung der Sprache'


Von Alexander Gorkow

(SZ 28.10.1995)

München – Kultusminister Hans Zehetmair hat in einer Regierungserklärung zur Rechtschreibreform davor gewarnt, die 'Verhunzung unserer Sprache durch unreflektierte Übernahme von Neuheiten zuzulassen'. Die Erklärung fand just zu dem Zeitpunkt statt, als die Ministerpräsidenten der Länder in Lübeck angekündigt hatten, über die Reform bei der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz im Frühjahr des kommenden Jahres weiter zu beraten.
Zehetmair hält zwar eine Novellierung bei der Interpunktion und Getrennt- und Zusammenschreibung für sinnvoll, hält aber nichts von der Eindeutschung von Fremdwörtern wie Alphabet (neu: Alfabet), Apotheke (Apoteke) oder Restaurant (Restorant) oder die Veränderung im historisch überlieferten Schriftbild von Wörtern wie Thron (neu: Tron) oder Fehde (Fede). Vor allem bedauerte Zehetmair, daß Deutschland keine der 'Academie Francaise' vergleichbare Einrichtung hat, die für die 'Verhinderung des Sprachmülls' sorgt. Schmerzen bereiten dem CSU-Politiker vor allem Anglizismen wie 'stylen', 'designen' oder 'recyclen', die sich nicht einmal konjugieren ließen, da man sonst Formen wie 'gerecycelt' bilden müßte.
In einer eher munteren als heftigen Diskussion warfen Oppositionsabgeordnete wie die Grünen-Politikerin Petra Münzel und die SPD-Abgeordnete Karin Radermacher dem Kultusminister hingegen vor, seinen Reformunwillen auf Kosten von Schülern und Erwachsenen auszutragen. Münzel sagte: 'Die Rechtschreibung soll für die, die schreiben, leichter sein, ohne daß sich Nachteile für die Lesenden ergeben.' Radermacher hält es für typisch, daß die Staatsregierung 'hier automatisch gegen etwas Stimmung macht, was neu ist'.
Der CSU-Abgeordnete Karl Freller befürchtet, daß sich nach der Rechtschreibreform 'so manche germanistische Gänsehaut aufstellt'. Der mittelfränkische SPD-Abgeordnete Helmut Ritzer forderte zur großen Freude des Parlaments schließlich noch, bei der Novellierung der Rechtschreibregeln die Schulkinder Frankens zu berücksichtigen: 'Der Unterschied zwischen p und b ist endlich zu bereinigen!' In einer persönlichen Erklärung schloß sich auch Landtagspräsident Johann Böhm dieser Forderung an. Böhm kommt aus Unterfranken.
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Th. Ickler

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Theodor Ickler
22.12.2003 05.05
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Auch schon wach?

(SZ 28.10.1995)


Die Rechtschreibreform gleicht mittlerweile auf fatale Weise dem Suppenkaspar: Sie wiegt nur noch ein paar Lot, und ob sie überlebt, weiß kein Mensch. Die Gewichtsabnahme ist indessen nicht ihre eigene Schuld. Sie hätte weiß Gott essen und zunehmen wollen, aber man hat ihr den Suppentopf weggezogen.
Daß sich die fachlich und sachlich involvierten Institutionen mit der Reform beschäftigten und ihre Bedenken dagegen vorbrachten, war ihr Recht und ihre Pflicht; daß das Projekt dabei Federn ließ, hatte seine Ordnung. Was aber nun seit September einige Kultusminister und Ministerpräsidenten aufführen, ist nicht nur ein Schautanz, der um etliches zu spät kommt, sondern auch eine gewaltige Spiegelfechterei. Was haben die Herrschaften eigentlich getrieben all die Jahre, während derer die Rechtschreibreform mit einem öffentlichen Echo sondergleichen ins Werk gesetzt wurde? Geschlafen? Wenn ja, wer hat sie jetzt geweckt, nur damit sie die Reform für 'verzichtbar' erklären (Schröder), das 'humanistische Erbe' in Gefahr sehen (Zehetmair) oder um die 'Befindlichkeit der Menschen' Angst haben (Stoiber)? Vor sieben Jahren, im September 1988, wurde der Reformvorschlag präsentiert, 236 Seiten dick und 700 Gramm schwer – doch weit und breit kein Stoiber, der sich damals unserer Befindlichkeit angenommen hätte.
Eben haben die Ministerpräsidenten beschlossen, wegen der Reform zunächst Kanzler Kohl zu fragen. Schad't nix! Die 'umfassende Beteiligung der Öffentlichkeit' können sie sich schenken. Schon geschehen. Weiterschnarchen!
us (Hermann Unterstöger)


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Theodor Ickler
22.12.2003 05.04
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Reform der Rechtschreibung wird verschoben

Ministerpräsidenten stimmen Vorschlägen nicht zu

Bevölkerung soll an Änderungen beteiligt werden

(SZ 28.10.1995)

Neuregelung soll sich auf das Notwendigste beschränken
Aus Kostengründen längere Übergangsfrist geplant
Gemeinsames Institut mit Österreich und der Schweiz soll für künftige Sprachneugestaltungen zuständig werden

Lübeck/München (dpa/AFP) – Die umstrittene Reform der deutschenRechtschreibung wird verschoben. Nach Ansicht der Bundesländer bedarf eine Neuregelung, die sich auf das Notwendigste beschränken sollte, einer umfassenden Beteiligung der Öffentlichkeit, 'um die Akzeptanz der Änderungen sicherzustellen'. Die Fristen zur Umsetzung müßten 'auch aus Kostengründen so bemessen sein, daß Schulbücher nur im Rahmen des normalen Bestandsaustausches ersetzt werden'. Nun soll sich die Konferenz der Kultusminister am 30. November erneut mit der Neuregelung befassen. Die eigentlich noch in diesem Jahr vorgesehene Zwischenparaphierung mit Österreich und der Schweiz wird nun nicht stattfinden.

Die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) erklärte, man habe sich 'bis in die tiefsten Details' mit der Reform beschäftigt und sei zu dem Ergebnis gekommen, 'daß wir dem so nicht zustimmen können'. Einige Länder seien nicht überzeugt, 'daß es weise ist, nach 93 Jahren staatlicher Abstinenz eine Rechtschreibreform auf die Staatsebene zu heben', sagte Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau (SPD). Der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf warf die Frage auf: 'Muß es überhaupt eine hoheitliche Aufgabe sein, festzustellen, wie man Kuß schreibt?' Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) hatte bereits am Morgen berichtet, er habe auf dem Treffen eine 'große Zurückhaltung' gegenüber der geplanten Reform der deutschen Orthographie festgestellt.
Die Länderchefs beauftragten ihre Kultusminister, bis zum 14. Dezember einen Bericht über die Streitpunkte zu verfassen. Sie sollen auch prüfen, ob künftige Sprachneuregelungen nicht 'durch Übertragung auf eine gemeinsame Institution für den gesamten deutschsprachigen Raum durchgeführt werden sollen', wie es im Beschluß heißt. Die Ministerpräsidenten wollen sich nach einem Gespräch mit Bundeskanzler Helmut Kohl am 14. Dezember während ihrer nächsten planmäßigen Konferenz im März nächsten Jahres wieder mit der Rechtschreibreform befassen.
Grundsätzlich befürworten alle Länderchefs die Neuregelung. Sie soll garantieren, 'daß die Sicherheit der Sprachbeherrschung in Schule und Alltag gesteigert wird', heißt es in einem Beschlußentwurf der Regierungschefs. Die Regierungschefs seien der Auffassung, daß vor der Neuregelung der Rechtschreibung eine umfassende Beteiligung der Öffentlichkeit nötig sei, 'um die Akzeptanz der Änderungen sicherzustellen'. Besonders sei darauf zu achten, daß formalistische Änderungen bei Fremdwörtern vermieden werden. Als Negativ-Beispiele gelten Schreibweisen wie 'Obergine' (Aubergine) und 'Restorant' (Restaurant). Gleiches gelte für neue Schreibweisen etwa der Wörter 'Tron' (Thron) und 'Frefel' (Frevel).
Unter den Ministerpräsidenten der Länder bestehe aber Einigkeit, daß die Reform im Frühjahr 1996 verabschiedet werden soll, sagte Bayerns Kultusminister Hans Zehetmair (CSU) am Freitag in einer Regierungserklärung zur Rechtschreibreform im Münchner Landtag. Zehetmair sagte, eine Übergangszeit von fünf bis sieben Jahren sei unvermeidbar. Der Minister rechnet mit Kosten von 300 Millionen Mark allein für die Überarbeitung und Herstellung der Schulbücher in Deutschland. (Seite 4 und Bayern)


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Th. Ickler

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Theodor Ickler
22.12.2003 05.01
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Letzte Warnung vor dem 'Kauboi'

Vor der Entscheidung der Ministerpräsidenten

Politiker äußern Bedenken gegen geplante Rechtschreibreform
(SZ 26.10.1995)

Hamburg (dpa) – Kurz vor Beginn der abschließenden Beratungen der Ministerpräsidenten über die Rechtschreibreform haben Unionspolitiker die geplanten Änderungen kritisiert und Korrekturen gefordert. Bayerns Regierungschef Edmund Stoiber sagte der Bildwoche: 'Die Reform muß noch einmal in enger Abstimmung mit Österreich und der Schweiz, wo ja auch deutsch gesprochen wird, überarbeitet werden.' Die Neuregelungen könnten dann zum 1. August 1997 in Kraft treten. 'Verbindlich sollen sie erst am 1. Januar 2001 werden', betonte der CSU-Politiker. Solange müßten alte und neue Regeln nebeneinander gelten. Wo sie sinnvoll sei, unterstütze er eine Vereinfachung der Rechtschreibung, sagte Stoiber. 'Aber übertriebenen Perfektionismus darf es nicht geben.' Das gelte vor allem für die Eindeutschung von Fremdwörtern wie Cowboy in Kauboi. Auch die Schreib weise von Wörtern wie Tron, Frefel und Fede widerspreche dem Sprachgefühl.
Der Bildungsexperte der CDU/CSU- Bundestagsfraktion, Christian Lenzer, sagte der Bild-Zeitung: 'Ich stehe der Reform sehr skeptisch gegenüber. Wir sollten nicht mit Gewalt Dinge über Bord werfen, die sich über Generationen bewährt haben.' Der CSU-Abgeordnete Josef Hollerith forderte: 'Notfalls muß der Termin für die Reform verschoben werden.' Es mache keinen Sinn, 'Restaurant künftig Restorant' zu schreiben.
Die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis sprach sich wie auch die Duden-Redaktion gegen eine weitere Vertagung aus: 'Eine Rechtschreibreform wird nicht dadurch falsch oder richtig, daß wir sie breit oder lang diskutieren, sonst würden wir ja noch schreiben wie vor tausend Jahren.'
Die Rechtsschreibreform beschäftigt die Konferenz der 16 Ministerpräsidenten der Länder von Mittwoch bis Freitag in Lübeck. Am Mittwoch wollten die Chefs der Staatskanzleien die Entscheidungen vorbereiten. Die Minsterpräsidenten beraten und beschließen dann am heutigen Donnerstag und am Freitag. Die geplante Sprachreform kann scheitern, wenn nur ein Land nicht mitzieht.
Viele Länderchefs haben sich bisher nicht eindeutig geäußert. Falls sich die Ministerpräsidenten zu einer Änderung durchringen, müßten auch noch die Kultusminister zustimmen. Einige Lokalpolitiker fordern sogar, daß die neue Rechtschreibung in einzelnen Ländergesetzen festgelegt werden müsse. Die Neufassung der Schreibregeln ist Ländersache, weil das Grundgesetz den Ländern die Kulturhoheit zuweist.
Die Ministerpräsidenten beschäftigen auf ihrer Tagung auch noch weitere Themen: Die Vorbereitung der Weltausstellung Expo 2000 in Hannover, die Reform der Verwaltung, die Kontrolle von Tiertransporten, die Pflegeversicherung und vieles mehr.

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Th. Ickler

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Theodor Ickler
22.12.2003 04.59
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Rechtschreibung ohne kaiserlichen Befehl

(SZ 14.10.1995)

Zum Leserbrief 'Unfug der Rechtschreibung begünstigt Schreibfaulheit' von Prof. Lutz Götze in der SZ vom 27. 9.:
Herr Prof. Götze setzt sich in seinem Leserbrief für die (hoffentlich) gescheiterte Reform der deutschen Rechtschreibung ein. Auffallend ist, wie dünn die Argumente derer sind, die die ganze Bevölkerung mit ihren Änderungsideen beglücken wollen. 'Ohne Rechtschreibreform wird Laut und Schreibung so weit auseinanderdriften wie im Englischen und Französischen', das sagt ein Sprachwissenschaftler (der auf der anderen Seite Schreibungen wie 'Packet' und selbst/ ständig' einführen will). Ein anderer, eben Herr Götze, sagt, daß die 'Zahl der Analphabeten wachsen wird, wenn es nicht zur Reform kommt'. Dabei ist ihm ein logischer Fehler unterlaufen: Ein Analphabet hatte ja noch gar nichts mit der Rechtschreibung zu tun! Auch daß junge und alte Schreibende wieder 'gerne Briefe, Tagebücher und Gedichte schreiben', wenn plötzlich 'dass', 'behände' und 'Schneewechte' verordnet wird, erscheint unglaubwürdig.
Ganz dürftig ist schließlich noch, mit dem alten Ammenmärchen anzufangen, Kaiser Wilhelm habe die Schreibung 'Thron' zu verantworten. Das griechische Vorbildwort für 'Thron' (thrónos) wird mit 'theta' geschrieben. Konsequent, wie unsere Rechtschreibung bei solchen Fremdwörtern ist, enthält 'Thron' ein 'h', ganz ohne kaiserlichen Befehl. Solche Argumentationen erinnern an die siebziger Jahre, als die Rechtschreibreformer alle anderen als 'ewiggestrige mit analem zwangscharakter' sahen, 'die den rohrstockersatz der rechtschreibung benötigen' und dem 'bildungserbe der kaiserzeit' verhaftet sind. Solche markigen Sprüche sind inzwischen überholt.
Apropos 'Absonderlichkeiten der Kommasetzung': Hierzu kann man im Duden- Heftchen zur Reform lesen, daß die Herren Reformer zu dem Schluß gekommen sind, die alten Regeln seien bisher nur 'falsch präsentiert' worden – Vereinfachungen gibt es deshalb kaum.
Daß sich die Reformgegner, wie ihnen von Herrn Götze vorgeworfen wird, erst jetzt zu Wort melden, verwundert nicht. Haben die Reforminteressierten doch ihren Vorschlag kaum an die Öffentlichkeit gebracht (um keinen Widerspruch zu erregen), ihren eigenen Vorschlag nahezu unerträglich voller Ehrfurcht gelobt und gleichzeitig den Eindruck entstehen lassen, daß die Einführung der neuen Regeln unabwendbares Schicksal sei. Dr. med. Ulf Schelling Asamstraße 2, 82166 Gräfelfing

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Th. Ickler

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Theodor Ickler
21.12.2003 06.49
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Eine wirkliche Rechtschreibreform liegt in weiter Ferne

(SZ 7.10.1995)


Zu dem Leserbrief 'Unfug der Rechtschreibung begünstigt Schreibfaulheit' in der SZ vom 27. 9.:
Professor Dr. Lutz Götze hält es für angebracht, Kritiker der geplanten Rechtschreibreform für politische Reaktionäre, Heuchler und sadistische Kinderquäler zu erklären. Da ich mich von solchen Anwürfen nicht getroffen fühle, möchte ich nicht darauf eingehen, sondern schlage vor, die Diskussion oberhalb der Gürtellinie fortzusetzen. Rechtschreibreform ist ja heute offensichtlich nicht mehr automatisch 'progressiv' und Kritik daran nicht 'konservativ', wie es ein Schema will, von dem man eigentlich annehmen möchte, daß es sich schon in den siebziger Jahren zu Tode geklappert hat.
Es trifft nicht zu, daß die Kritik seit der Wiener Konferenz vom November 1994 geschwiegen hätte. Vielmehr erschienen sogleich ausführliche Kritiken in überregionalen Zeitungen (in der SZ leider fast nur der, allerdings vorzügliche, Leserbrief von A. Siegner am 31. 12. 1994). Man muß natürlich das Handicap bedenken, unter dem die Kritiker litten: Es waren ja nur vorläufige Regelformulierungen nebst ausgewählten Beispielen zugänglich; eine überarbeitete Fassung und vor allem das unentbehrliche Wörterverzeichnis waren in Aussicht gestellt. Erschienen sind sie im Juli 1995, mitten in den Sommerferien und wenige Wochen vor den avisierten Beschlüssen der Kultusminister! Das in einem linguistischen Fachverlag veröffentlichte Regelwerk mit Wörterverzeichnis ist, wie ich bei Stichproben feststellen mußte, auch heute noch selbst in Universitätsbuchhandlungen unbekannt, die Buchhändler müssen in ihren Computern danach fahnden. (Übrigens haben meine Studenten und ich im Laufe dieses Jahres durch Befragungen in der Bevölkerung festgestellt, daß fast jeder zu wissen glaubt, die Reform sei beschlossene Sache, daß aber fast niemand die geringste Vorstellung vom Inhalt der Wiener Beschlüsse hat. Man interessiert sich einfach nicht dafür. Soviel noch zum 'Handlungsbedarf'.
Dann muß man noch die überaus geschickte Sympathiewerbung unter dem Stichwort der 'Behutsamkeit' in Rechnung stellen, deren Charme ja auch Hermann Unterstöger seinerzeit erlegen ist (SZ vom 25. 11. 1994: 'Keine Wüteriche am Werk'). Nur, daß man eben aus der offensichtlichen Geringfügigkeit der Eingriffe zwei verschiedene Schlüsse ziehen konnte: 'Wenn's weiter nichts ist, können wir es ja machen.' Oder aber: 'Wenn nicht mehr dabei herauskommt, sollten wir es bleibenlassen!'
Was die Reform selbst betrifft, so hat sie neben unbestreitbaren Verbesserungen (zum Beispiel der Trennung von s-t) auch schwere Mängel, und zwar im Grundsätzlichen. Die vielgerühmte, scheinbar angenehm liberale 'gezielte Variantenführung' widerspricht dem Ziel jeder Rechtschreibreform (zu dem auch der vorliegende Entwurf sich bekennt), nämlich zur Vereinheitlichung zu führen, also Varianten gerade abzubauen. Konkret gesprochen: Bisher mußten die Schüler lernen, daß Rhythmus richtig und alles andere falsch ist. In Zukunft müssen sie lernen, daß Rhythmus und Rytmus richtig und alle anderen Schreibweisen falsch sind. Und so in vielen weiteren Fällen. Das ist objektiv eine Erschwernis.
Weiter: Nachdem die Kleinschreibung schon vor Jahren aufgegeben werden mußte (obwohl sie paradoxerweise ein vergleichsweise harmloser Eingriff gewesen wäre, da sie im Gegensatz zum jetzigen Entwurf die alphabetische Reihenfolge in Lexika usw. nicht antastet!), wurde die Verwechselbarkeit von daß und das zum Paradepferd der Reformer. Die neue Regelung, nämlich die bloße Ersetzung von daß durch dass, bringt keine Erleichterung, da sie genau dieselben grammatischen Kenntnisse voraussetzt wie die alte Regelung. Es werden also auch die bisherigen Fehler weiterhin unterlaufen, nur in leicht veränderter Gestalt.
Andererseits bringt aber die Reform eine Fülle neuer Probleme gerade bei der s-Schreibung. Nach kurzem Vokal soll nur noch ss stehen. Ausnahme: die 'kleinen Wörtchen' es, bis, das, des usw. Gut, Ausnahmen wird es immer geben. Aber auch Erlebnis usw. und natürlich der besagte Rytmus, also eine sehr beträchtliche Zahl weiterer Wörter werden mit s geschrieben, und doch war es erklärtes Ziel der Reform, Ausnahmen von Ausnahmen zu vermeiden.
Auch bei der Neueinführung etymologischer (Stängel, behände) und sogar volksetymologischer Schreibungen (belemmert, einbläuen) ist vieles schiefgelaufen. Nun, man könnte seitenlang fortfahren, solche Mängel darzustellen, die mich eben zu der durchaus nicht politisch, sondern linguistisch und didaktisch begründeten Ansicht geführt haben, daß diese Reform besser nicht durchgeführt werden sollte. Bei ihrer Vorbereitung sind hervorragende Forschungsarbeiten geleistet worden, so daß man sagen kann, es war der Mühe wert.
Herausgekommen ist unter anderem die Einsicht in manche subtile Rationalität des vermeintlichen 'Unfugs der Rechtschreibung'. Man muß sogar anerkennen, daß sich die Duden-Leute selbst bei den berüchtigten Quisquilien wie Auto fahren/radfahren (oder ist es umgekehrt? Ich weiß es nicht und will es nicht wissen; es interessiert mich einfach nicht und sollte auch keinen Lehrer interessieren, der noch alle Tassen im Schrank hat!), daß sie sich also etwas dabei gedacht haben. Nur ist es leider oft so fein gesponnen, daß kein normaler Mensch es nachvollziehen kann. Die Forschungen haben auch gezeigt, daß es viel leichter ist, auf die Mängel der geltenden Norm hinzuweisen, als eine grundlegende Verbesserung vorzuschlagen, die nicht an anderer Stelle zur 'Verschlimmbesserung' führt. Übrigens hat die SZ mit ihrem dankenswerten Abdruck eines ganzen SZ-Magazins in neuer Rechtschreibung bewiesen, daß die Reform nicht lohnt. Was ist denn gewonnen, wenn man Zigarrette mit zwei r schreibt (wegen Zigarre), wo doch jedes Kind ständig Cigarette liest, wie die 'Cigaretten-Industrie' (sic!) in ihrer Werbung zu schreiben vorzieht. Was soll uns Triumpf, wo doch bei regulärer Ersetzung von ph durch f Triumf die eigentlich gebotene Nebenform zu Triumph wäre! Das ist Schnickschnack, mit dem wir uns vor aller Welt lächerlich machen würden.
Herr Götze malt das Elend heutiger Schüler in den schwärzesten Farben. Daß aber nach der Reform ein rosiges Zeitalter anbreche, wo den Schülern 'die Angst vor dem Fehler zumindest ein wenig genommen wird und sie wieder Lust haben, Briefe, Tagebücher oder Gedichte zu schreiben' – zu dieser Hoffnung gibt der Reformentwurf bei genauerer Betrachtung keinen Anlaß.
Eine wirkliche Rechtschreibreform, die vor der Welt bestehen kann, scheint noch in weiter Ferne zu liegen. Einstweilen sollte man, wie ich es seit vielen Jahren in Rede und Schrift vertrete, hauptsächlich darauf hinwirken, daß Schulbehörden, Handwerkskammern usw. die Rechtschreibung zwar ernst, aber nicht allzu ernst nehmen. Denn das ist doch wohl klar: Selbst mit einer wünschenswerten gut reformierten Orthographie kann man einen Schüler oder Lehrling jederzeit über die Klinge springen lassen, wenn man dazu entschlossen ist.
Prof. Dr. Theodor Ickler Ringstraße 46 91080 Spardorf



– geändert durch Theodor Ickler am 22.12.2003, 05.56 –
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Th. Ickler

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Theodor Ickler
21.12.2003 06.46
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Als hätte es die Rechtschreibreform nicht gegeben

(SZ 6.10.1995)

Eine glänzende Idee der Süddeutschen, das komplette Magazin vom 15. 9. in der neuen deutschen Rechtschreibung zu präsentieren. Erkenntnis: In der großen Verdünnung der tatsächlich geschriebenen Texte sind die Änderungen kaum mehr wahrnehmbar; es ist fast so, als hätte es keine Reform gegeben.
Darf daraus der Schluß gezogen werden, daß die Reform gut und gelungen ist? Auf keinen Fall! Denn in einer so großen Verdünnung verliert sich nicht nur Gutes und Gelungenes, auch Schlechtes und Mißlungenes wird nicht mehr bewußt. Wenn die Qualität der Änderungen geprüft werden soll, bleibt nur ein einziger Weg: Man muß die einzelnen Änderungen für sich der Reihe nach prüfen und beurteilen.
Aber ein anderer Schluß ist erlaubt und drängt sich geradezu auf: Wenn die Reform kaum bemerkbar ist, ist sie dann nicht – überflüssig wie ein Kropf? Wäre es nicht aberwitzig, wegen dieses winzigen und lächerlichen Reformmäusleins, das sprachwissenschaftliche Berge nach vieljähriger Schwangerschaft schließlich geboren haben, Abermillionen Mark auszugeben für neue Schulbücher, neue Behördenformulare, neue Lexika usw.? Zumal das Reformmäuslein nicht eben schön und wohlgeformt ist – es weist erhebliche Mißbildungen auf, wenn man es genauer unter die Lupe nimmt.
Deshalb der folgende Rat: Man beseitige nach und nach, ganz stillschweigend und ohne Wichtigtuerei, die Unstimmigkeiten und Spitzfindigkeiten der jetzigen Rechtschreibung, nehme die verbesserten Regeln und Schreibungen in den jeweils neuesten Rechtschreibduden auf, lasse alle sonstigen Änderungen sein und vergesse die Rechtschreibreform.
Wolfgang Illauer Von-Richthofen-Straße 20 86356 Neusäß-Westheim

Mageres Ergebnis
Der Verfasser dieses Leserbriefs ist jetzt 35 Jahre alt und kann sich noch gut erinnern, als zum Ende seiner früheren Schulzeit eine rege Debatte über die Reform der deutschen Rechtschreibung in Gang gekommen war. Nun, man hat während all der Jahre, die inzwischen vergangen sind, nicht ständig in der Öffentlichkeit den aktuellen Sachstand der Debatte unter Gelehrten und Politikern erfahren. Dazu gibt das Thema einfach nicht genug her. Aber eine Unzahl von Ausschüssen und Gutachten haben für dieses vermeintliche Problem eine wohl nicht ganz unerhebliche Menge von Steuergeldern in Anspruch genommen.
Wofür? Es kann doch nicht mehr herauskommen als ein kurzer Einschnitt, ein Blitzschlag gewissermaßen, welcher in eine lebendige Sprache als Verordnung einzugreifen versucht. Im Ergebnis steht die vollkommene Verunsicherung beziehungsweise Teilung der deutsch schreibenden Bevölkerung, der Druckauftrag für eine Menge neuer Bücher, eine Unterrichtung der Schulkinder nach den neuen Regeln (besonders hilfreich in den Fällen, in welchen die Kinder erst nach den alten Regeln, später nach den neuen unterrichtet werden), die ihre Eltern höchstwahrscheinlich nicht nachvollziehen werden, sowie der zweifelhafte Ruhm einiger Kulturpolitiker, während ihrer Karriere wenigstens etwas Bleibendes geschafft zu haben.
Es gibt eine Reihe vorzüglicher deutscher Verlage, welche die Entwicklung der Sprache ständig beobachten und gegebenenfalls ihre Lexika den neuen Verhältnissen anpassen. Diese Werke haben längst einen Status der allgemeinen Gültigkeit erlangt, daß auf ein weiteres Machwerk der Legislative in unserem Gesetz- und Verordnungsdschungel verzichtet werden kann. Der Verfasser wollte hier noch schreiben, daß er die ganze Angelegenheit eigentlich besch . . . findet, aber die orthographische Unsicherheit war dann doch schon zu weit fortgeschritten.
Michael Mayer Alpenrosenstraße 19 85586 Poing

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Theodor Ickler
21.12.2003 06.43
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Unfug der Rechtschreibung begünstigt Schreibfaulheit

(SZ 27.9.1995)

Zu dem Leserbrief 'Ein fauler Kompromiß, der Verwirrung schafft' von Theoder Ickler in der SZ vom 18. 9.:
Die Aufgeregtheit derer, die jetzt gegen die geplante Reform der Rechtschreibung wettern, überrascht, liegen doch die Vorschläge seit dem November 1994 auf dem Tisch. Haben alle jene, die sich jetzt lautstark zu Wort melden, nahezu ein Jahr lang geschlafen? Man muß wohl bei den Bewahrern der jetzigen Rechtschreibnorm andere Gründe vermuten als jene, die sie nennen.
In Wahrheit sind die vorgesehenen Änderungen eher geringfügig als revolutionär. Unter dem Druck zahlreicher Interessengruppen sind die Reformer in den zurückliegenden Jahren Zug um Zug zurückgewichen: hier genau setzt die Kritik zahlreicher Sprachwissenschaftler ein, daß (dass) nämlich die Reform nicht weit genug gehe. Wenn sich Herr Ickler also auf Germanisten beruft, sollte er schon genau hinhören: Sie (sie) sind nicht gegen die Rechtschreibreform, im Gegenteil. Sie beklagen vielmehr die Halbherzigkeit und – Pardon – Heuchelei aller jener, die jahrelang dagegen waren und jetzt das Ergebnis als unzulänglich bezeichnen.
Erinnert sei daran, daß es bereits 1908 der große Konrad Duden war, der – wahrhaft radikal – Zal, Mel, Bole, Al und Bot sowie die Tilgung des h in Thron vorschlug. Damals bestand Kaiser Wilhelm auf dem -h-; heute haben wir zwar die Monarchie überwunden, aber die Normierer argumentieren noch immer so, als hätten wir den Kaiser über uns.
Es gibt Mängel in der vorgeschlagenen Reform; niemand bestreitet das. Wer freilich alles beim Alten (alten) belassen will, doziere hinfort nicht vom Katheder, sondern schaue sich um in den Schulen oder in Sekretariaten: Die Not ist groß! Kein Mensch in Deutschland beherrscht die derzeit gültige Norm, denn sie ist voller Absurditäten. Einige Kostproben: Man schreibt radfahren, aber Auto fahren, in bezug auf neben mit Bezug auf, alles mögliche neben etwas Ähnliches, er läuft Ski neben er läuft eis, überschwenglich neben Überschwang, numerieren neben Nummer, instand setzen neben in Frage stellen, man trennt -sp- (Ris-pe), aber nicht -st- (Ka-sten) und dergleichen Blödsinn mehr.
Die Absonderlichkeiten der Kommasetzung seien hier erst überhaupt nicht behandelt. Dieser jahrzehntelang betriebene Unfug der deutschen Rechtschreibung ist einer der Gründe dafür, daß immer weniger Menschen schreiben, dabei aber immer mehr Fehler begehen.
Wenn also Herr Zehetmair und, in seinem Gefolge, auch Sprachwissenschaftler die derzeitige Rechtschreibnorm bewahren wollen, sollten sie ehrlicherweise sagen, was sie in Wahrheit beabsichtigen: eine Regelung fortbestehen lassen, die niemand – auch sie selbst nicht – beherrscht, getreu dem schlechten Pädagogen-Wort: Warum sollen es meine Kinder leichter haben als ich? Ich habe es schließlich auch gelernt, korrekt Deutsch zu schreiben! (Was nicht stimmt!)
Im empfehle statt dessen (stattdessen): weniger Aufgeregtheit, erst einmal Luft holen und dann diese kleine Reform verabschieden, damit jungen und alten Schreibenden in Zukunft die Angst vor dem Fehler zumindest ein wenig genommen wird und sie wieder Lust haben, Briefe, Tagebücher oder Gedichte zu schreiben.
Machen wir freilich so weiter wie bisher, wird die Zahl der Analphabeten drastisch anwachsen – oder aber wir lassen uns vom Computer dirigieren, wie geschrieben und am Zeilenende getrennt werden soll. Beides wäre erbärmlich!
Prof. Dr. Lutz Götze Am Ländtbogen 14a 82211 Herrsching

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Theodor Ickler
21.12.2003 06.39
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Z[w]ischenzeit - Die starke Hand


Rainer Stephan

(SZ 19.9.1995)



Zum Beispiel die Photographie: Und wenn unsereiner sich die Fingerkuppen kaputthämmerte beim Versuch, die Photographie mit zwei f zu schreiben – es stünde am Ende doch wieder und immer wieder nur Photographie da. In der Süddeutschen Zeitung nämlich, so lautet von alters her die strenge Anweisung an Setzer (Gott hab' sie selig), Korrektoren und Computer, in der Süddeutschen Zeitung wird Photographie mit ph geschrieben, zweimal. Warum? Das weiß keiner so genau. Doch daß es irre gebildet klingt, also zeitgeistfeindlich: darin sind wir uns hier alle einig. Es heißt ja auch nicht Filosofie. Oder doch? Hat uns die filosofia der Italiener eigentlich jemals gestört. Oder . . . Halt! Schluß! Erbarmen! Bitte nicht schon wieder eine Glosse über die Rechtschreibreform!
Also gut, dann eben nicht. Was wir sagen wollten, war nur dies: Die ganze Reform – oder Nichtreform – kümmert uns ohnehin einen feuchtem Kehricht. In dem Punkt halten wir es durchaus mit dem bayerischen Kultusbeauftragten Hans Zehetmair, der da sprach: 'Die blutleeren Beschlüssse der Reformer sind das eine, der Alltag des Volkes, wie es spricht und schreibt, ist das andere.' Jawohl. Und was das Schönste dabei ist: Das Volk sind wir. Von wegen Tron und Asfalt, von wegen Gräuel und Stängel.
Es bleibt aber eine Frage übrig. Warum regt sich Hans Zehetmair denn so auf? Warum bestärkt ihn so ein vergleichsweise harmloser Anlaß wie ein Spiegel- Gespräch 'darin, mich noch intensiver mit dem Reformpaket (Paket? Pfui!) zu befassen'? Weil es hier nicht 'um irgendeine x-beliebige Vereinbarung geht', sondern 'um einen Beschluß, der für viele Jahre regelt, wie das deutsche Volk schreibt'. Sagt Zehetmair. Sagt er zehn Minuten, nachdem er gesagt hat: 'Die blutleeren Beschlüsse der Reformer sind das eine, der Alltag des Volkes . . .' (siehe oben).
Es ist indessen gerade die Zehetmairsche Zerrissenheit, die uns, jenseits aller kleinkarierten, schon ihrer Natur nach kleinkarierten Orthographiediskussionen endlich auf die richtige Spur bringt. Wer oder was, außer der Sprache, soll denn da bitteschön reformiert werden? Wer ist der Herr der Sprache? Das Volk? Der Duden? Die Kultusministerkonferenz? Im Normalfall, schön, da mag es so zugehen wie in Faustens Zauberbuch, wo alles sich zum Ganzen webt, eins in dem andern wirkt und lebt, und überhaupt. Ein schönes, ein hermeneutisches, vielleicht sogar ein demokratisches Modell. Doch auf einmal haben wir keinen Normalfall mehr, auf einmal sind die Sprachdemokratie und die Hermeneutik perdü, und eine starke Hand muß her.
Muß eben nicht. Alle Welt ist derzeit dabei, den Feuerwehrleuten gute Ratschläge für ihren Einsatz zu geben; doch keiner scheint gemerkt zu haben, daß es überhaupt nicht brennt. Es hat aber doch jemand 'Alarm!' geschrieen? Je nun, was würden wir machen, wenn wir die Feuerwehr wären oder die Sprachpolizei, aber kein Mensch außer uns das wüßte? Wenn am Ende gar keiner mehr nach uns riefe, so daß in unseren eigenen Busen der Verdacht aufkeimte, wir seien womöglich längst überflüssig geworden? O ja, dann würden wir eben selbst den Alarm auslösen.
Gewiß, daß zwischen Rad fahren und Auto fahren ein Unterschied sein soll, ist blödsinnig. Wieso vor manchem 'und' ein Komma stehen muß und vor anderen 'unds' keines stehen darf, ist auch Eingeweihten nicht mehr vermittelbar. Aber um Himmels willen – wieso schreiben wir dann Radfahren und Auto fahren nicht einfach gleich, und wieso setzen wir die 'und'-Kommata nicht einfach so, wie wir sie sinnvoll finden? Die Sprache reformiert sich, seit sie lebt, sogar die deutsche – mit oder ohne die Beihilfe der Sprachpolizei. Und die Diskussionen über das, was jetzt so großspurig als Die Rechtschreibreform daherkommt, zeigen vor allem eines: Die starke Hand zittert. Lassen wir sie doch einfach ganz verdorren!




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20.12.2003 15.26
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Vogel: Auch Rau lehnt Rechtschreibreform ab

(SZ 18.9.1995)

Hamburg (AP) – Neben Bayern und Thüringen fordert nach Angaben des Erfurter Regierungschefs Bernhard Vogel jetzt auch Nordrhein-Westfalen eine Verschiebung der Rechtschreibreform. Der Welt am Sonntag sagte der thüringische Ministerpräsident, ihm hätten seine Amtskollegen Johannes Rau und Edmund Stoiber 'ausdrückliche Zustimmung signalisiert, daß über die Rechtschreibreform neu verhandelt werden muß'. Vogel verwies vor allem auf die Kosten einer Umstellung von 1997 bis 2001. Es gelte auch zu verhindern, daß jetzt 'Abermillionen Mark ausgegeben werden, um alle Behördenformulare, alle Verordnungstexte und dergleichen in kürzester Frist' umzuschreiben. Vogel betonte aber, daß er nicht gegen eine Rechtschreibreform sei. Der nordrhein-westfälische CDU-Generalsekretär und Vorsitzende des CDU- Bundesfachausschusses für Bildung und Kultur, Herbert Reul, nannte die vorliegende Reform 'eine Katastrophe'. Reul forderte, die Landtage an der Entscheidung zu beteiligen.

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20.12.2003 15.24
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Das Instrumentarium der Rechtschreibung vergröbert

(SZ 15.9.1995)


Zum Bericht 'Bayern will Korrektur der Rechtschreibreform' in der SZ vom 9./10. 9.:
Kultusminister Zehetmair hält die Rechtschreibreform so, wie sie derzeit geplant ist, für 'nicht akzeptabel' und will Korrekturen. Gestatten Sie einem verärgerten Deutschlehrer eine natürlich unvollständige Auflistung von Kritikpunkten. Die Zahlen beziehen sich auf die Paragraphen der Duden-Informationen zur neuen deutschen Rechtschreibung.
1. Widersprüchliches: Wächte soll Wechte geschrieben werden, weil es nicht zu wach gehört. Umgekehrt und im Widerspruch zu diesem Prinzip soll aber statt Quentchen Quäntchen geschrieben werden, obwohl das Wort nicht zum Stamm quant gehört; statt belemmert soll belämmert geschrieben werden, obwohl das Wort nicht zu Lamm gehört.
2. Es ist unbegreiflich, warum sich die wissenschaftlichen Reformer bei der Schreibung einzelner Wörter an der Volksetymologie orientieren: Das Wort Mesner zum Beispiel (es kommt vom mittellateinischen mansionarius = Haushüter) wird zu Messe gestellt und soll fortan Messner geschrieben werden. Verbleuen, das mit dem Wort blau nichts zu tun hat, wird volksetymologisch zu blau gestellt und soll fortan verbläuen geschrieben werden. Sprachwissenschaftler führen also die Schreibenden und Lesenden in die Irre, tilgen die Spuren der richtigen Etymologie und suggerieren eine falsche Etymologie.
3. Die neue Schreibung scheint manchmal eine neue Aussprache zu fordern: Bisher hat man selb-ständig geschrieben und selb-ständig gesprochen (vgl. das Duden-Aussprachewörterbuch der deutschen Standardaussprache). Jetzt wird plötzlich selbst-ständig geschrieben. Soll man in Zukunft auch so aussprechen: selbst-ständig?
Bisher schrieb und sprach man im Wort Zierat ein langes i und ein r. Neuerdings soll Zierrat geschrieben werden, obwohl das Wort, nebenbei bemerkt, mit Rat nichts zu tun hat. Soll sich auch die Aussprache ändern? Soll nach dem Muster Vorrat oder Vierruderer (Aussprache laut Duden: Voarat/Viaruderer) künftig Ziarat gesprochen werden?
Wenn sich aber die Aussprache nicht ändern soll, warum dann die neue, mit der Aussprache nicht übereinstimmende Schreibung?
4. Die Reform vergröbert teilweise das Instrument Rechtschreibung, nimmt Differenzierungsmöglichkeiten. Wie schön war bis jetzt die Unterscheidungsmöglichkeit zwischen im allgemeinen und im Allgemeinen, zwischen alles mögliche und alles Mögliche.
Die Reform hätte die Aufgabe, Unstimmigkeiten und übertriebene Spitzfindigkeiten der bisherigen Schreibung auszuräumen. Statt dessen werden mit dem unbrauchbaren Argument 'Vereinfachung' sinnvolle Unterscheidungsmöglichkeiten genommen.
5. Lesehilfen verschwinden. Ich denke da zum Beispiel an die weitgehende Freigabe der Kommas vor und und vor Infinitivgruppen. Die Reform will 'den Schreibenden an dieser Stelle entgegenkommen' (68). Aber darum geht es doch nicht in erster Linie. Es geht darum, daß die Bücher und Zeitungen diese Kommas beibehalten. Vor lauter Rücksicht auf die Schreibenden vergißt man die Lesenden. Aus demselben Grund ist heute abend besser als heute Abend. Man vergleiche auch die Punkte 4 und 6!
6. Kann-Bestimmungen dort, wo eine klare und strenge Vorschrift sein müßte. Zum Beispiel Paragraph 70: Ein Komma 'kann' gesetzt werden, wenn Mißverständnisse möglich sind. Da muß man doch ein Komma setzen! Entweder: Ich rate, ihm zu helfen oder: Ich rate ihm, zu helfen.
Eine weitere Unstimmigkeit: In Paragraph 13 wird großspurig die folgende 'Grundfunktion' des Kommas verkündet: 'Das Komma dient zur Abgrenzung . . . von Einschüben oder Nachträgen . . .' In Paragraph 70 aber lese ich zu meinem allergrößten Erstaunen, daß diese Grundfunktion so wichtig gar nicht ist: Man 'kann' mit Komma anzeigen, 'ob eine Infinitivgruppe . . . als Zusatz oder Nachtrag zu verstehen ist'.
7. Die Reform orientiert sich (zum Beispiel bei der Worttrennung von griechischen und lateinischen Fremdwörtern: 72) nicht an denen, die Kenntnisse haben, sondern an denen, die keine Kenntnisse haben. Platon und Sokrates würden sich im Grab umdrehen, hörten sie von diesem Grundsatz einer wissenschaftlichen (!) Arbeitsgruppe: Weil viele etwas falsch machen, wird das Falsche zur Vorschrift erhoben! Soll also beispielsweise in einem pädagogischen Werk der Zukunft das Kind am Zeilenende durch die Trennung Pä-dagogik zerrissen werden dürfen?
Diejenigen, die keine Kenntnisse besitzen, mögen im Duden nachschlagen. Das ist zumutbar.
8. Die Reform läßt Ehrfurcht vor dem Fremden vermissen, Ehrfurcht vor den altgriechischen Ursprüngen unserer Kultur. Was die Engländer und Franzosen können (französische und englische Schreibung: alphabet, catastrophe, asphalte/asphalt, thermomètre/thermometer, rhinocéros/rhinoceros, strophe, athlétique/athletic usw.), sollte auch von den Deutschen verlangt werden. Und da fast alle Schüler Englisch und viele Schüler Französisch lernen, wäre dieselbe Schreibung im Deutschen doch wohl naheliegend. Trotzdem soll in Zukunft bei uns geschrieben werden: Alfabet, Katastrofe, Asfalt, Termometer, Rinozeros, Strofe, Atletik usw. Wenn man aber die ph, th, rh abschaffen bzw. nicht verpflichtend machen will, dann wäre mehr Konsequenz angebracht. Warum nicht auch Filosofie, wo doch die Italiener und Spanier filosofia schreiben?
Fazit: Es gibt noch so viel Unausgegorenes und wenig Überzeugendes in dieser Rechtschreibreform, daß eine Überarbeitung dringend erforderlich erscheint.
Deshalb drei Bitten an die Reformer:
- Die Änderungen sollten sauber erklärt und stichhaltig begründet werden! Wenn gute Begründungen nicht möglich sind, sollten Änderungen unterbleiben. Wer mir gleichzeitig ohne sinnvolles Argument autoritär vorschreibt, Wechte statt Wächte zu schreiben, aber Quäntchen statt Quentchen, wer Mesner zu Messe zieht und mir eine falsche, sekundäre Etymologie beibringen will, den nehme ich nicht ernst, und ich habe keine Lust, ihm zu gehorchen, wenn er mir vorschreibt, Frefel statt Frevel zu schreiben. Ich kündige als Deutschlehrer zivilen Ungehorsam an!
- Bitte beseitigen Sie Unstimmigkeiten in der bisherigen Rechtschreibung, aber schaffen Sie keine neuen Unstimmigkeiten!
- Beseitigen Sie nicht sinnvolle Differenzierungsmöglichkeiten mit dem falschen Argument 'Schreiberleichterung'! Sind denn die Deutschen so unendlich dümmer als die Engländer und Franzosen, deren Rechtschreibung sich von der gesprochenen Sprache grundlegend unterscheidet? Kann man deutschen Schülern überhaupt noch die englische oder französische Rechtschreibung zutrauen, wenn man ihnen schon die deutsche erleichtern muß? Außerdem geht es nicht um die schlechten Rechtschreiber in der Bevölkerung, es geht um die gedruckten Texte. Wenn diese Texte den Sinn von Wörtern und Sätzen grobkörniger und ungenauer wiedergäben als Folge der neuen Rechtschreibung und Zeichensetzung, dann wäre die Reform ein Schildbürgerstreich.
Wolfgang Illauer Von-Richthofen-Straße 20 86356 Neusäß-Westheim



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