Kommentar zu Nerius
(Der folgende Text wurde seinerzeit dem Landtag von Mecklenburg-Vorpommern zugesandt.)
Kommentar
zur Stellungnahme von Prof. Nerius zum Antrag der Volksinitiative Wir stoppen die Rechtschreibreform (11.10.1999)
von Theodor Ickler
Es wäre gewiß unzweckmäßig, eine Orthographiereform gegen die Auffassung breiter Teile des Volkes durchführen zu wollen. (Dieter Nerius 1980)
In seiner nachträglich vorgelegten Stellungnahme versucht Prof. Nerius zunächst, den Widerstand gegen die sogenannte Rechtschreibreform als eine Art Wiederholung der Diskussion vom Beginn des Jahrhunderts und als normale Begleiterscheinung solcher Reformversuche darzustellen. Mit seiner Formulierung, die Reform von 1901 sei "ähnlich umstritten gewesen, verwischt er jedoch entscheidende Unterschiede:
1. Es ist unbestrittener Konsens aller Kundigen, gerade auch der Reformer selbst, daß die II. Orthographische Konferenz 1901 keinerlei substantielle Neuerungen einführte, sondern lediglich ein paar noch verbliebene Schreibvarianten zurückdrängte, so das th in einer Handvoll deutscher Wörter. Demgegenüber führt die Reform von 1996 unerhörte Neuschreibungen ein, distanziert sich also und das ist der fundamentale Unterschied ganz bewußt vom Schreibgebrauch und der (zum Teil auch gegen den Duden eingetretenen) Entwicklung. All dies kann bis in die Einzelheiten in den Schriften von Prof. Nerius selbst nachgelesen werden, ebenso in meinen Schriften (s. Literaturverzeichnis). Übrigens war Deutschland 1901 eine Monarchie und die Bildungsschicht wesentlich dünner als heute, zwei Tatsachen, die die Vergleichbarkeit öffentlicher Diskussionen über solche Fragen auch ein wenig mindern.
2. Obwohl es für die gegenwärtige Diskussion irrelevant ist, möchte ich daran erinnern, daß die Regelung vom Anfang des Jahrhunderts ebenso wie frühere Rechtschreibwörterbücher sehr wohl Auskunft über die Getrennt- und Zusammenschreibung gab, und zwar im Wörterverzeichnis. Die doppelte Kodifizierung auch im Regelwerk ist dazu nicht unbedingt erforderlich, doch kam der Duden mit der Entwicklung einer solchen einem offenkundigen Bedürfnis der Schulen wie des Druckgewerbes entgegen. Die Neuregelung von 1996 hat zwar eine umfangreiche Regelung der Getrennt- und Zusammenschreibung versucht, dabei aber so schwere Fehler begangen, daß die Rechtschreibkommission, der Prof. Nerius angehört, in ihrem ersten Bericht vom Dezember 1997 zu dem Schluß kam, eine Änderung dieses Teils sei unumgänglich notwendig. Der für dieses Kapitel hauptverantwortliche Reformer Prof. Schaeder hat inzwischen zahlreiche Arbeiten vorgelegt, in denen er die Richtung der unumgänglich notwendigen Änderungen skizziert. In den nichtöffentlichen Beratungsgesprächen mit ausgewählten Wörterbuchredaktionen hat die Kommission bereits Hinweise zur künftigen, von der amtlichen Regelung kraß abweichenden Darstellung der Getrennt- und Zusammenschreibung gegeben. Die zweite Auflage des Bertelsmannwörterbuchs (Frühjahr 1999) löst sich bereits deutlich vom amtlichen Regelwerk, und der zu erwartende neue Duden wird dies noch deutlicher als bisher schon zeigen. (Schon jetzt sind übrigens alle bisher verkauften umgestellten Rechtschreibwörterbücher ungültig, da sie entweder gegen die amtliche Regelung verstoßen oder nicht die zu erwartende Reform der Reform berücksichtigen.)
3. Die Neuregelung bringt keine Erleichterung des Rechtschreibens, sondern im Gegenteil eine Erschwerung. Es treten völlig neue Fehlerquellen auf. Nachweise in meinen Schriften (s. Verzeichnis). Eine wirkliche Fehlerstatistik ist übrigens weder zur Vorbereitung noch zur nachträglichen Evaluierung von den Reformern oder ihren Auftraggebern erstellt worden. Die vom bayerischen Schulministerium verbreiteten Hinweise auf eine vom Münchner Institut für Schulpädagogik und Bildungsforschung vorgelegte Untersuchung sind so haltlos, ja lächerlich, daß sie in letzter Zeit gar nicht mehr zu hören waren. Übrigens genügt es, einen Blick in die umgestellten Zeitungen zu werfen, um sich ein Urteil über Wert und Unwert der Reform zu bilden. Ich erwähne am Rande die unglaublich schwierige Bestimmung über das neue obligatorische Komma nach hinweisendem es vor Infinitiven (§ 77 [5]). Prof. Nerius hat das stets falsch dargestellt und läßt daher auch in seiner Stellungnahme (S. 3) dieses Komma zu Unrecht weg eine Kleinigkeit, gewiß, aber doch sehr bezeichnend.
4. Die Kosten der Reform sind nie ernsthaft geprüft worden. Der Verband der Schulbuchverleger spricht realistisch von Milliarden. Die Steuerausfälle durch Absetzbarkeit von Umstellungs- und Nachschulungskosten sind ebenfalls beträchtlich. Die Kosten einer Rückkehr zur bisherigen Rechtschreibung (die ja noch fast die gesamte Herbstproduktion der Verlage beherrscht, ebenso in Betrieben, Anzeigen usw. ganz überwiegend gebräuchlich, darüber hinaus in ungeheuren Bibliotheksbeständen, in fast allen Schulbüchern usw. dokumentiert ist) wäre auf keinen Fall teurer, als es die bevorstehende, tatsächlich unumgängliche Reform der Reform sein wird.
5. Mit der Rechtschreibinsel (ein sehr geschickt gewähltes Schlagwort, das seine Täuschungsfunktion bereits in Schleswig-Hostein vortrefflich erfüllte) verhält es sich in Wirklichkeit so: Alle Schüler in Deutschland befinden sich zur Zeit auf einer solchen Insel, denn die Schulorthographie wird außerhalb der Schule nirgendwo befolgt. Die Nachrichtenagenturen und Zeitungen haben sich in wesentlichen Punkten (Kommasetzung, Groß- und Kleinschreibung) gegen die amtliche Regelung entschieden. Anderes ist so fehlerträchtig oder wird so inkonsequent gehandhabt, daß die amtliche Regelung sich dem nicht entziehen wird.
Es ist erstaunlich, daß Prof. Nerius als Kommissionsmitglied mit keinem Wort erwähnt, wie weit die Kommission mit ihrer Arbeit an der Reform der Reform schon fortgeschritten ist.
Bei ihrer künftigen Arbeit (die entgegen den ursprünglich gehegten Erwartungen der Kultusminister noch auf lange Zeit in Reparaturen am mißglückten Reformwerk bestehen wird), soll die Kommission von einem Beirat beraten oder wohl besser beaufsichtigt werden. Ein Konzept für Besetzung und Funktion dieses Beirates haben die Kultusminister ausgearbeitet. Es liegt zur Zeit beim Bundesminister für Kultur.
Fazit: Die deutschen Schüler insgesamt müssen und werden ihren erzwungenen Aufenthalt auf der Rechtschreibinsel Schulorthographie bald beenden. Je früher man diese nicht sehr erfreuliche Tatsache zur Kenntnis nimmt, desto besser.
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Th. Ickler
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