Stellungnahme zu Wolfgang Löwers
Revisionsbegründung in der Verwaltungsstreitsache Holstein / Land Berlin

von Theodor Ickler
Universität Erlangen-Nürnberg
(eingereicht beim Bundesverfassungsgericht am 30.4.1998)

 

Zu den sprachphilosophischen Fragen, die Löwer eingangs erörtert, werden die verschiedensten Meinungen vertreten; ich möchte darauf nicht eingehen. Auch bedarf es keiner Klassikerzitate, um sich ein zutreffendes Bild von der Bedeutung der Schriftsprache für den heutigen Menschen zu machen. Die Schriftsprache ist eine zwar nicht gleichursprüngliche, heute aber gleichrangige Erscheinungsform der Sprache neben der gesprochenen.1* Die starke, auch gefühlsmäßige Bindung an das herkömmliche Schriftbild beruht einerseits natürlich auf Gewöhnung, andererseits aber auch auf einer intuitiven Kenntnis systematischer Zusammenhänge. Dies wird gerade von den reformorientierten Orthographieforschern immer wieder hervorgehoben. Die Rechtschreibung ist ungeachtet historischer Relikte in hohem Maße systematisch, und die individuelle Rechtschreibkompetenz ist ebenfalls wohlorganisiert und keineswegs chaotisch (Augst/Stock in Augst et al. [Hg.] 1997).

Dazu ein Beispiel: Die sogenannte „Substantivgroßschreibung“2* ist an sich nur eine Konvention, aber nachdem sie einmal Geltung gewonnen hat, ist die Großschreibung einzelner Substantive ebensowenig konventionell wie die Kleinschreibung von leid tun und recht haben (so leid es mir tut, du hast sehr recht). Dies „weiß“ der Sprachteilhaber, auch wenn er es vielleicht nicht formulieren kann. Die Reform verstößt mit ihrer willkürlich erfundenen und auf falsche Argumente gestützten Großschreibung Leid tun, Recht haben gegen einen systematischen Zusammenhang und wird daher sogar schon von Kindern mit „Sprachgefühl“ abgelehnt.3*

Die Geschichte der Einheitsorthographie bis 1901/2 ist vor allem die Geschichte ihrer Vereinheitlichung. Das heißt, es wird in keinem Falle eine neuartige Schreibweise erfunden und verordnet (kein  novum et inauditum, wie Wilmanns 4* 1880 von der bayerischen Schulorthographie sagte, an die sich die preußische anschloß), sondern lediglich zwischen den schon vorhandenen, im vorstaatlichen Raum aufgekommenen und weithin bekannten Schreibvarianten ausgewählt. Besonders nach der Reichsgründung konvergierten die regionalen Schreibweisen in erstaunlichem Maße und mit großer Schnelligkeit. Man könnte dies am Verschwinden des th in deutschen Wörtern zeigen. Schon in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts war das th in zahllosen Büchern sogar im Anlaut (That > Tat) nicht mehr zu finden. Ich besitze Bücher aus dieser Zeit vom Max Niemeyer Verlag, Halle, die überhaupt kein th mehr haben, und Konrad Duden weist in seiner Schrift „Zukunftsorthographie“ (1876, S. 41) darauf hin, daß die endgültige Tilgung des h „hinreichend vorbereitet“ sei. Dieselben Schulbücher durften lange vor der „Reform“ von 1901/2 in allen Bundesstaaten nebeneinander benutzt werden (Mentrup 1985). Die Schreibweisen der einzelnen Bundesstaaten, Verlagshäuser usw. waren zumindest den Lesern im ganzen deutschen Sprachgebiet bekannt. Diese Konvergenz wurde selbstverständlich dadurch unterstützt und beschleunigt, daß die auf Ausgleich zielenden Schulorthographien durch die Erziehungsbehörden seit etwa 1855 amtlich reglementiert wurden. Der Staat stellte die allgemein üblichen Schreibweisen unter Schutz - gegen die Reformvorhaben der beiden theoretischen Richtungen: der historisierenden und der phonetischen (Löwer S. 9). Beide wurden als künstlich und einheitgefährdend wahrgenommen, durchaus mit Recht. Man kann auch sagen: Die große Einheitlichkeit der vorhandenen Schulorthographien beruhte darauf, daß sie sich im Geiste des pragmatischen Erlanger Germanisten Rudolf v. Raumer getroffen hatten. Die Zusammenführung der preußischen mit der bayerischen (um nur die wichtigsten zu nennen) machte daher keine Schwierigkeiten.

Löwer bemüht sich, die unzweifelhaft stabilisierende Wirkung der Schulorthographien als staatliche Eingriffe darzustellen, die man gewissermaßen als Präzedenzfälle der heutigen Reform ansehen könnte. Er übersieht also, daß die staatlichen Erlasse nur die Varianz beschnitten und keinerlei ungewohnte Neuerungen aufbrachten, also nichts „initiierten“, nie kreativ tätig waren. Folglich wurden auch die Kinder nie angehalten, anders zu schreiben als ihre Eltern. Übrigens sperrt sich eine moderne Sprache auch ohne staatliche Stützung des Gewohnten gegen Veränderungen, und zwar durch die bereits genannte Dichte der Kommunikation, die zwar einen raschen Wandel des Wortschatzes fördert, im Lautlichen jedoch wegen der Ausgleichswirkung des Rundfunks und der modernen Mobilität veränderungsfeindlich wirkt.

Der Staat wählte also aus und vereinheitlichte, das ist alles, und die suggestive Rede von „neuen preußischen Regeln“, von „neuer Orthographie“, „neuen Regeln“ (alles auf S. 9), von „Neuschreibung“ (S. 10) muß in diesem Sinne relativiert werden. Das „Neue“, gegen das sich Bismarck wehrte, war nicht neu, sondern anderswo (Bayern) längst üblich und im ganzen Reich bekannt. Hermann Scheuringer, den Löwer gern zitiert, sagt völlig zutreffend:

„Daß sie (die Orthographie von 1902) so schnell und ohne irgendwelche Übergangszeiten eingeführt werden konnte, liegt natürlich daran, daß sie durchgehend bei den Schulen, mehrheitlich bei den Behörden und ganz überwiegend auch im übrigen Schreibgebrauch de facto schon eingeführt war - dies doch ein bedeutender Unterschied zur neuen Orthographie ab 1998.“ (Scheuringer 1996, S. 87)

Schulorthographien waren es, die zum Beispiel von den beiden möglichen und bereits beschrittenen Wegen der Substantivgroßschreibung schließlich den einen bevorzugten und ihm zu einem - allerdings noch lange unentschiedenen - Sieg verhalfen. Es gibt nämlich seit je den grammatischen, wortartbezogenen Weg, der seit Jahrhunderten zur Artikelprobe führt und daher beispielsweise der Einzelne, der Andere, im Übrigen, des Öfteren, nicht im Geringsten, aufs Schönste usw. schreibt. Er ist im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durch Heyses Grammatik gefördert worden. Es gibt ferner den textbezogenen Standpunkt, der nur das groß schreiben möchte, wovon in einem Text wirklich die Rede ist, also nicht das pronominale (textverweisende) Flechtwerk und auch nicht die adverbialen Phraseologismen. Daher die Kleinschreibung in allen genannten Fällen: der einzelne5*, nicht im geringsten, aufs schönste usw. In einem komplizierten Entscheidungsprozeß hat sich der zweite Standpunkt durchgesetzt. Er ist, wie sich zeigen ließe, der fortschrittlichere (im Sinne jener zunehmenden Leserfreundlichkeit, die zum Beispiel Horst Haider Munske als Entwicklungskonstante der deutschen Orthographie nachgewiesen hat). Er ist allerdings auch der etwas kompliziertere, weil er sich nicht auf mechanische Proben stützen kann.6*

Als zweites Beispiel kann die in der Revisionsbegründung gleich zu Beginn angeführte Kommasetzung erwähnt werden. Hier wird Goethe gegen die Frankfurter Erklärung ausgespielt (S. 6). Dem liegt ein grundsätzliches Mißverständnis zugrunde. Das Komma ist erst im 19. und 20. Jahrhundert nahezu vollständig „syntaktifiziert“ worden.7* Die geplante Rechtschreibreform rühmt sich, das „stilistische“ Komma (wieder) zu stärken. Sie dreht also ebenso wie bei der Groß- und Kleinschreibung das Rad der Entwicklung vorsätzlich zurück. Löwer findet dafür den hübschen Euphemismus: „Das Komma wird in seiner voluntativ-textgestaltenden Funktion gestärkt.“ (S. 30) Die fatalen Folgen sind andernorts dargestellt8*, an dieser Stelle kommt es nur darauf an, die grundsätzliche Unvergleichbarkeit der sprachgeschichtlichen Umstände aufzudecken, unter denen Goethe vielleicht die Frankfurter Erklärung tatsächlich nicht unterschrieben haben würde (S. 7) - das Reformvorhaben allerdings auch nicht. Das Gedankenspiel ist für die gegenwärtige Diskussion ohne Belang.

Alles in allem ist anzunehmen, daß in einer großen Sprachgemeinschaft mit so dichten kommunikativen Beziehungen, wie sie im Deutschen Reich bestanden, nach Einführung der allgemeinen Schulpflicht und nach vollzogener staatlicher Einheit die Schreibweisen „von selbst“ zu ebenso großer Einheitlichkeit gefunden hätten, wie es in England aufgrund anderer Bedingungen schon viel früher der Fall gewesen war. Das entspricht jedenfalls den Erfahrungen mit der Sprachentwicklung unter den Bedingungen zunehmender kommunikativer Dichte, etwa mit den Sprachausgleichsbewegungen im Mittelalter, aber auch später. Dabei wirkt die bloße Existenz orthographischer Regelwerke und weit mehr noch orthographischer Wörterbücher ungemein einheitsfördernd. Das gilt zum Beispiel von Adelungs Wörterbuch, an das sich, bloß weil es da war, auch jene hielten, die sonst darüber spotteten (wie manche unserer Klassiker). Es gilt ebenso für Dudens Wörterbuch von 1880 und seinen phänomenalen Erfolg im ganzen deutschen Sprachraum.

So ist selbstverständlich richtig, was Michael Schlaefer in seinem oft zitierten Überblick abschließend feststellt:

„Die Herstellung einer einheitlichen deutschen Schul- und Amtsorthographie ist als Resultat von Verwaltungsakten, nicht als Resultat sprachgeschichtlichen Ausgleichs zu betrachten.“9*

Ebenso richtig ist aber die Fortsetzung:

„Es sollte jedoch bei allen Vorbehalten gegen die Setzung sprachlicher Normen auf diese Weise nicht übersehen werden, daß diese Einheitsorthographie kein beliebiges Regelsystem, kein Minimalkonsens und auch kein Produkt ministerieller Willkür ist. Diese Orthographie repräsentiert im wesentlichen den historisch gewachsenen Schreibgebrauch des frühen 19. Jahrhunderts. Insofern stellt sich die gesamte Entwicklung der amtlichen Schulorthographien in die Tradition der deutschen Orthographiegeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts. Als eigenständige Periode innerhalb dieser Kontinuität erscheint das 19. Jahrhundert dadurch, daß der Schreibgebrauch auf dem Verwaltungsweg für den Schulbereich gegen Reformbestrebungen unterschiedlicher Art gesichert wird.“ 10*

Der Staat hat also gerade nicht reformiert, sondern Reformen abgewehrt, um den in vollem Gang befindlichen Ausgleichsprozessen11* zum endgültigen Erfolg zu verhelfen. Die Schulorthographien befanden sich niemals in einem Gegensatz zur allgemein gebräuchlichen außerschulischen Schreibpraxis, und als die Gefahr eines solchen Auseinanderklaffens sich von ferne abzeichnete (nämlich 1876), war dies der Hauptgrund für den Verzicht der Behörden auf die Einführung der Reformorthographie. - Auch später und insbesondere 1955 war es offenbar die Absicht der Schulbehörden, bis zu einer wirklichen Reform den jeweils allgemein üblichen Sprachgebrauch zur Grundlage des Unterrichts zu machen - eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die sich auch in jenem von Kopke ans Licht gezogenen Satz des Abgeordneten Stephani aus der Reichstagsdebatte vom 7. April 1880 ausdrückt:

„Die Schule soll den Schülern das, was in den gebildeten Kreisen des Volkes zur festen Gewohnheit in Bezug auf Rechtschreibung geworden ist, als Regel beibringen; nicht aber soll die Schule selbst vorangehen, indem die Schulen das Volk zwingen wollen, eine neue Gewohnheit der Rechtschreibung anzunehmen.“

Wie anders demgegenüber die heutige Reform:

Die Schule macht den Vorreiter.“ (Der Vorsitzende der Rechtschreibkommission bei einer Pressekonferenz in Mannheim am 12.9.1997)

Daß die genannten Ausgleichsprozesse „von selbst“ geschehen, als Ergebnisse der „unsichtbaren Hand“, daß sie „vom Volk“ ausgehen usw. - das sind an sich unverfängliche Redeweisen, die etwa in der Sozialphilosophie und Nationalökonomie (schottische Schule, F. A. v. Hayek) einen präzisen Sinn haben und keinerlei Mystifikation darstellen. Es versteht sich von selbst, daß mit dem „Volk“, das die Schreibweisen entwickelt, nicht das schreibunkundige Volk gemeint ist, sondern die Intelligenz einschließlich Lehrer und Drucker. „Volk“ (oder „Gesellschaft“, wenn man so will) ist hier als Gegenpol zum Staat zu verstehen. Es ist daher nur Wortklauberei, wenn dem „Volk“ die Fachwelt der Buchdrucker gegenübergestellt wird. Die „Fachorthographie eines Berufsstandes“, also der Buchdrucker, ist nichts Esoterisches, sondern die von den Lesern, auch wenn sie selbst keine Schreibvirtuosen sind, erwartete, gewünschte und dankbar genossene Orthographie. Maßstab der Schreibkunst ist, wie anderswo auch, nicht der Stümper, sondern der Könner. Anders gesagt: Es gibt nicht nur eine Standardsprache, sondern auch eine Standardschreibe. Ausländern zum Beispiel bringen wir ohne Zögern die Grammatik der Standardsprache bei: Genitiv bei wegen, Komparativpartikel als (nicht wie) usw. So auch die Standardrechtschreibung. Der Begriff „Fachorthographie“ ist irreführend. Daß nicht von jedem Schulpflichtigen die aktive Beherrschung dieser Orthographie, auf die er als Leser gleichwohl Anspruch hat und auch Anspruch erhebt, verlangt werden kann, steht auf einem ganz anderen Blatt, dem genuin pädagogischen nämlich.

Die auf S. 14 zitierten starken Worte Scheuringers über Elitarismus und Arroganz Gottscheds, des beliebten Watschenmanns oberflächlicher Sprach- und Literaturhistoriker, sind irrelevant. Nachholende Empörung über die Klassengesellschaft vor 250 Jahren fördert die gegenwärtige Diskussion nicht.

Die Ausführungen über die „Beschränkung“ der Reform auf die Schule (vgl. besonders auch S. 65f.) sind erstaunlich weltfremd. Ausgrenzung von „Altschreibern“ ist schon jetzt belegbar und wird nach dem Inkrafttreten der Neuregelung der Normalfall werden. Die „Blamage“ ist nur eines von mehreren Druckmitteln, und sie ist real genug. Als der bayerische Kultusminister sich unfähig zeigte, die selbstgewählte neue Rechtschreibung korrekt zu praktizieren, brachte die „Welt am Sonntag“ (26.4.1998; vgl. auch „Abendzeitung“ vom 27.4.1998) den Fall nebst Textprobe auf die erste Seite, selbstverständlich um den Minister bloßzustellen. Der von Löwer erwähnte Fall eines konsequenten Kleinschreibers (S. 74) ist nicht vergleichbar, da eine bewußt gewählte und konsequent durchgehaltene Normabweichung vernünftigerweise nicht als fehlerhaft angesehen wird, sondern als Bekenntnis zu einer anderen „orthographischen Weltanschauung“, und folglich kein Grund zur Blamage ist, sondern allenfalls zur Mißbilligung durch Andersgesinnte. Wenn alle Schulen und alle Behörden umgestellt haben, wenn die deutsche Amtssprache, die nach einem Wort des Grünen-Abgeordneten Beck (im Bundestag am 26.3.1998), dem sich das Bundesinnenministerium anschloß, der Schulsprache folgen muß (!), zur Neuregelung übergegangen sein wird, dann gibt es für den normalen Sterblichen keine Möglichkeit mehr, sich der Reform zu entziehen. Mögen Bundespräsident und Bundeskanzler auch beteuern, sie würden weiterhin schreiben, wie sie es gelernt haben - es ist schlechterdings nicht vorstellbar, daß diese Männer Tag für Tag hundert Schriftstücke in neuer Orthographie unterzeichnen, um dann „privat“ einen Brief in herkömmlicher Schreibweise zu verfassen. Auch ist von der Vorbildwirkung der Neuregelung nicht nur „in mancher Erklärung der beteiligten Stellen“ die Rede, wie Löwer (S. 36) meint, sondern im amtlichen Regeltext selbst („Vorbildcharakter“, Vorwort Abs.1).

Löwer erwähnt auch mehrfach die in der Tat interessante Neuregelung der Anredeform in Privatbriefen und mokiert sich in einer nicht recht nachvollziehbaren Weise (S. 63) über die Kritik daran. Zur Sache selbst vgl. meinen Gesamtkommentar. Bedauerlicherweise äußert sich Löwer nicht zu der entscheidenden Frage, was den Staat die Schreibweise in Privatbriefen überhaupt angeht. Seine rhetorische Frage „Wer weiß, in wie vielen Briefen das ‚du‘ schon bislang kleingeschrieben wurde?“ (S. 64) ist schlicht irrelevant. Überhaupt interessiert bei der Feststellung des allgemein üblichen Schreibbrauchs weder der Anfänger noch der Wenigschreiber, also auch nicht jener Lehrling, der ein Ladenschild mit der Inschrift etber (= „Erdbeeren“) bepinselte (wie ich es einmal gesehen habe). Der „allgemein übliche Schreibbrauch“ im orthographisch relevanten Sinne ist selbstverständlich wie eh und je der Schreibbrauch der - horribile dictu - „Gebildeten“, an deren Existenz zu glauben mir der gutgemeinte Egalitarismus nicht ausreden wird.

Das englische Beispiel einer staatsfreien Einheitsorthographie mag „eher die Ausnahme“ sein (vergleichende Untersuchungen sind mir nicht bekannt). Es ist immerhin bemerkenswert, daß die wichtigste Weltsprache ohne direkten Staatseingriff (Löwer S. 19) orthographisch außerordentlich gleichförmig geworden ist und daß in angelsächsischen Schulen ein intensiver Rechtschreibunterricht ohne große Zweifel an der jeweils gültigen Schreibweise stattfindet. Warum das in Deutschland nach der Herstellung einer Einheitsorthographie nicht auch möglich sein soll, wird nicht erörtert. Aus der unbestrittenen Tatsache, daß die Vereinheitlichung der deutschen Orthographie unter Mitwirkung der staatlichen Schulorthographien zustande kam, darf nicht einmal gefolgert werden, daß es ohne diese staatlichen Maßnahmen überhaupt nicht gegangen oder auch nur wesentlich anders abgelaufen wäre, so daß wir heute entweder ein orthographisches Durcheinander oder eine gänzlich andere Rechtschreibung hätten. Allerdings erfordert es einen beträchtlichen Aufwand, wenn man zeigen will, daß die Normierung durchaus den immanenten Gesetzmäßigkeiten der Sprachentwicklung folgte. Man wird dann oft sagen können, was Munske am Beispiel der Vokalquantitätsbezeichnung nachgewiesen hat:

„Die jahrhundertelange Systematisierungsarbeit von Druckern und Grammatikern ist den komplexen sprachlichen Gegebenheiten ziemlich angemessen gerecht geworden.“ (in Eroms/Munske [Hg.] 1997, S. 55, verfaßt 1985)

Die heutige Orthographie erweist sich bei genauerer Untersuchung als erstaunlich konsequente Anwendung von Grundsatzentscheidungen, die lange vor der Welle staatlicher Eingriffe getroffen worden sind.

Dem stellt Löwer die auffallend vage Behauptung entgegen:

„Allein die Tatsache der staatlichen Intervention für diesen Bereich hat die ‚Eigengesetzlichkeit‘ der Sprachentwicklung maßgeblich konditioniert, hat ihr neue Gesetzmäßigkeiten hinzugefügt. Selbst eine rein aus dem Schreibbrauch entlehnte Norm (die so mangels natürlicher Einheitlichkeit ohnehin eine Fiktion ist), hat immer eine präskriptive Dimension, indem sie den Entwicklungsprozess der Sprache hemmt.“ (S. 11; vgl. S. 63: „Die Schulorthographien des 19. Jahrhunderts haben die ‚Eigengesetzlichkeit‘ der deutschen Orthographie-Entwicklung begründet.“)

Worin sollen die „neuen Gesetzmäßigkeiten“ (auch noch im Plural!) bestehen? Etwa in der Hemmung selbst? Warum soll die Uneinheitlichkeit des Schreibbrauchs eine Normableitung zur Fiktion machen? Was bedeutet der hervorgehobene Ausdruck „natürlich“ hier? Etwas mehr Deutlichkeit wäre an dieser entscheidenden Stelle wünschenswert gewesen. Das gilt auch für die „staatlich beförderte Zurückdrängung abweichender gesellschaftlicher Vorstellungen“ (S. 12). Sollten mit den „gesellschaftlichen Vorstellungen“ die Konstruktionen Weinholds oder der Radikalphonetiker gemeint sein? Oder hat der Staat via Schulorthographie auch nur in einem einzigen Fall die von Löwer ja zugestandene Eigengesetzlichkeit der Sprachenentwicklung vergewaltigt? Der „genaue Blick“, dessen sich Löwer rühmt (a.a.O.), sollte sich auch in entsprechend genauen Formulierungen niederschlagen.

Im übrigen wird hier wie an vielen anderen Stellen zwar ganz plausibel behauptet, daß die Schulorthographie sich der „Entwicklung“, der „Veränderbarkeit“ usw. entgegenstelle, aber auch das muß realistischerweise relativiert werden. Ungeachtet aller Fixierung in staatlichen Regelwerken und Wörterverzeichnissen entwickelt sich die Sprache weiter. Der führende, als besonders staatsgläubig bekannte Rostocker Reformer Nerius hat zwar seit 1975 unzählige Male die These wiederholt, Schreibwandel sei nach der expliziten Fixierung nur noch durch explizite Reform möglich, nach der staatlichen Fixierung also durch ebenfalls staatliche Reform, weil sonst schon der kleinste Ansatz einer Veränderung als falsch bewertet und bestraft werde. Das ist jedoch unrealistisch und bei Nerius vielleicht nur vor dem Hintergrund des wenig kreativen Sprach- und Schriftgebrauchs unter der SED-Herrschaft verständlich.12* Es gibt jedoch einen Sprachgebrauch außerhalb des staatlichen Zugriffsbereichs - gerade die Reformer betonen dies ja unentwegt, um den staatlichen Zugriff zu verharmlosen (so auch Löwer S. 6, S. 65f. u.ö.). In diesem Bereich werden Fremdwörter integriert und manchmal auch wieder desintegriert, und hier kamen zum Beispiel auch die Binnengroßbuchstaben auf, deren sich feministische Reformer bedienen, ohne sich um ihr eigenes Regelwerk zu kümmern. Eine Zeitlang wurde viel in gemäßigter Kleinschreibung publiziert (vgl. den Kongreß „vernünftiger schreiben“ 1973) - alles an der staatlichen Norm vorbei. Die Kleinschreibung hat nicht der Staat verhindert, sondern der Unwille der übrigen Gesellschaft, die an kleinschriftlichen Texten das Stigma einer emanzipatorischen Pädagogik wahrnahm und mehrheitlich mißbilligte, vielleicht auch aus intuitiver Einsicht in den Wert der Großschreibung. Andernfalls wäre die Kleinschreibung durchgedrungen. Den Sprachwandel in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf - und auch nicht der Rotstift beamteter Lehrer.

Löwers Resümee der Entwicklung bis 1901 ist zutreffend:

„Die Leitlinie liegt in der vorsichtigen Vereinfachung, aufbauend auf dem bestehenden Sprachgebrauch.“ (S. 13, Tippfehler korrigiert)

- wobei nur anzumerken ist, daß auch die Vereinfachung bereits im Schreibgebrauch stattgefunden hatte und nicht von der staatlichen Schulorthographie geschaffen wurde. (Gedacht ist wohl vor allem an th > t in deutschen Wörtern.)

Nicht richtig ist der nächste Satz:

„Das entspricht dem heutigen Ansatz der Reform.“ (ebd.)

Das Gegenteil trifft zu: Der heutige Reformansatz sieht sowohl bei Einzelwortschreibungen als auch - und viel bedeutsamer - bei Grundsatzentscheidungen völlig unübliche, zum Teil (pseudo)historisierende, zum Teil ganz künstlich ersonnene Umorientierungen vor, die sich denn auch ausdrücklich gegen die anerkannten Entwicklungstendenzen der deutschen Schriftsprache wenden und ihnen „entgegenwirken“ sollen. Das ist bereits ausführlich gezeigt worden und wird unten noch einmal zusammenfassend nachgewiesen.

Die Kritik hat es hier allerdings nicht eben leicht, weil Löwer - wie es gerade paßt - einerseits erklärt, linguistische Detailfragen seien für sein Unternehmen irrelevant, dann aber wieder seitenweise in naturgemäß nicht sehr fachkundiger Weise über ebensolche linguistischen Details spricht und sich auch nicht vollständig jenes Tons angemaßter Überlegenheit enthalten kann, der die Lektüre von Jörg Menzels weitgehend gleichlautendem Aufsatz „Von Richtern und anderen Sprachexperten“ (NJW 17/1998) so unangenehm macht.

Ein Mißgriff besonderer Art, der auf eine gewisse Unvertrautheit mit den Tatsachen hindeutet, ist die Anführung des Aufsatzes von Wolfgang Menzel (S. 13), über dessen abenteuerliche Verfehltheit ich anderswo das Nötige gesagt habe.13* Man kann nur mutmaßen, welch eigentümliches Bild sich Löwer aufgrund solcher Irrtümer von der „Reform“ der Jahre 1901/02 machen mag.

Über die Machenschaften, die zur neuerlichen Privilegierung des Duden führten, möchte ich mich nicht äußern, weil ich über keine anderen Quellen verfüge als die von Löwer benutzten und weil mir auch gar nicht daran gelegen ist, das Dudenprivileg zu verteidigen. Ich plädiere für eine freie Konkurrenz der Wörterbücher unter der Prämisse, daß an den Schulen die allgemein übliche Rechtschreibung gelehrt wird - die es entgegen der Behauptung mancher Reformbefürworter tatsächlich gibt und die in fast allen Zeitungen, Fachbüchern usw. ganz unauffällig existiert, weshalb wir über die meisten Verstöße augenblicklich stolpern. Es gibt ja auch ungeachtet aller Flegeleien das gute Benehmen, und ähnlich wie dieses ist die korrekte Schreibweise ein typisches Hintergrundphänomen, das sich erst bei Abweichungen in Erinnerung bringt.

Wie angedeutet, war der Unterricht in der ohne weiteres vorausgesetzten allgemein üblichen Rechtschreibung auch seit je das selbstverständliche Ziel der Schulbehörden. Löwer bemüht sich jedoch nach Kräften, den „allgemein üblichen Schreibbrauch“ als Fiktion hinzustellen. Wenn die Reformkritiker vom allgemein üblichen Schreibbrauch redeten - so Löwer - , dann meinten sie eigentlich die Dudenvorschriften. Daß es einen solchen Schreibbrauch überhaupt nicht gebe, wird für Löwer im Laufe seines Textes immer mehr zur unumstößlichen Gewißheit. Abgesehen von gewissen Selbstwidersprüchen begibt er sich damit auch in einen Gegensatz zu den Betreibern der Reform. Als zum Beispiel die zwischenstaatliche Rechtschreibkommission mit ihren ersten Korrekturvorschlägen zum Regelwerk aufwartete, wurde dies von mehreren Kultusministern sowie vom Deutschen Philologenverband und anderen Reformbefürwortern zunächst als „Annäherung an den tatsächlichen Schreibgebrauch“ begrüßt, dessen Existenz auch sie mithin als selbstverständlich voraussetzten. (Die Kritiker haben seinerzeit sofort gekontert, daß die optimale Annäherung an den Schreibgebrauch die vollständige Rücknahme der Reform wäre ...)

Der Duden hat im großen und ganzen einen „deskriptiven Ansatz“ befolgt (so die Formulierung der Dudenredaktion in ihrer Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht vom 11.11.1997). Das war schon aus Gründen der Legitimierung des Dudenprivilegs notwendig, denn die Kultusminister gingen ja offenbar davon aus, daß der allgemein übliche Schreibgebrauch am besten im Duden repräsentiert sei. (Die Redaktionsleitung sprach mir gegenüber einmal von einem „goldenen Käfig“, in dem sie sich jahrzehntelang befunden habe.) Dabei hat der Duden allerdings aus vorkommenden Varianten ausgewählt - genau wie die früheren Schulorthographien. Das kann nicht anders sein, denn sonst brauchte man kein Orthographikon. Innovativ oder kreativ hat die Dudenredaktion nicht gewirkt. Wenn Löwer unter ausführlicher Zitierung von Äußerungen der Dudenleitung (S. 18) die „regulierende“ Tätigkeit des Dudens hervorhebt, übertreibt er oder fällt auf die Werbesprüche einer Duden-Jubiläumsschrift herein. Die kurzlebigen Neuerungen der 14. Auflage von 1954 (Kautsch usw.) bedürfen noch der Aufklärung; es ist neuerdings darauf hingewiesen worden, daß der DDR-Duden damit vorangeschritten war, so daß der West-Duden vielleicht dem Vorwurf der Rückständigkeit entgehen wollte. Auch mag der Schreibgebrauch damals solche gelegentlichen Eindeutschungen gezeigt haben, und man könnte ihre Zukunftsträchtigkeit überschätzt haben. Übrigens entspricht Kautsch der Rustschen Reform; ob auch dies eine Rolle spielte, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls kann die Episode14* nicht entkräften, daß der Duden den Schreibgebrauch deskriptiv festhielt und aufgrund der bekannten rechtlichen Konstruktion damit zugleich zur amtlichen Norm machte. Das bedeutet aber nicht, daß die Norm und die normierende Wirkung ohne das staatliche Privileg anders ausgesehen hätte und sich anders entwickelt haben würde. Das Jahr 1955 bedeutet daher - ungeachtet seiner geschäftspolitischen Bedeutung für das Haus Duden - für die Geschichte der deutschen Orthographie keineswegs den Einschnitt, den manche einschlägig interessierten Reformer darin sehen wollen. Die Funktion als Leitwörterbuch beruht nicht zur Gänze auf der Amtlichkeit, sondern auf Tradition und Qualität, reicht daher auch viel weiter zurück als die Privilegierung und überdauert, wie man heute sieht, auch dessen faktische Außerkraftsetzung; denn alle konkurrierenden Rechtschreibwörterbücher sind nach kurzer Blüte praktisch vom Markt verschwunden, während der wesentlich teurere Duden immer noch auf der Bestsellerliste steht. Leitwörterbücher (Webster, Oxford) kennt auch die staatsfreie englische Orthogaphie.

Daß die amtlichen Regeln von 1902 kaum je wieder abgedruckt worden sind, ist richtig, aber wenn man sie kennt, muß man sagen, daß ihre Aufnahme in den Duden (der sich gleichwohl immer auf sie berufen mußte) wenig sinnvoll gewesen wäre. Nach der Integration des Buchdruckerdudens und nach der durchaus sinnvollen, von den Sprachbenutzern offensichtlich verlangte15* Ausdifferenzierung der eher skizzenhaften Originalregeln verlieren letztere ihre Funktion. Die Legitimationsrhetorik des Duden kann man auf sich beruhen lassen. Angesichts der erreichten und offenbar gewünschten Regelungsdichte wäre ein Beharren auf den amtlichen Regeln von 1902 weltfremd. Jeder von uns würde sich wundern, wenn er Texte zu lesen bekäme, die von den 1902 noch gegebenen Möglichkeiten freien Gebrauch machten! Der Schritt zum Buchdruckerduden war unausweichlich.

Hierzu eine grundsätzliche Bemerkung: Die vielgeschmähte Ausdifferenzierung der Dudenregeln (die übrigens im Alltag eine sehr geringe Rolle spielen, weil die meisten Benutzer einfach im Wörterverzeichnis nachschlagen und viele nicht einmal wissen, daß es auch ein Regelwerk gibt16*) beruht auch darauf, daß immer mehr orthographische Materie, die zunächst ganz anspruchslos im Wörterverzeichnis festgehalten war, (auch) in das Regelwerk überführt worden ist. So gab es seit langem einen Usus der Getrennt- und Zusammenschreibung, doch die Teilnehmer der II. Orthographischen Konferenz trauten sich nicht zu, diesen Usus auf Regeln zu bringen. Das hat der Duden inzwischen nachgeholt - schlecht und recht, muß man sagen, aber doch wohl eher recht als schlecht. Die Neuregelung hat es anders machen wollen, und zwar ganz anders und nicht bloß deskriptiv, sondern indem sie der Tendenz der Sprachgemeinschaft zur Zusammenschreibung „entgegenzuwirken“, also das zu Regelnde zugleich durchgreifend zu verändern versuchte - und ist damit katastrophal gescheitert.

Was der damalige Dudenchef Drosdowski über die sprachpflegerische Funktion des Duden schrieb, zeugt von erheblicher Selbstüberschätzung, zumal es sich weit über die Rechtschreibung hinaus auf Wortbestand und Grammatik bezieht. Wann wäre aber je ein Wort in den Sprachgebrauch aufgenommen oder aus ihm ausgeschieden worden, weil es im Duden stand oder nicht stand? Welche grammatische Norm ist durch die Dudengrammatik beeinflußt worden? (Zu S. 18f.) Solche Gedankenspiele finden doch nur in schulmeisterlichen Leserbriefen bornierter Sprachrichter statt, die den Duden mit der deutschen Sprache gleichsetzen: Was nicht im Duden steht, existiert nicht.

Gänzlich verfehlt ist Löwers Argument, die Schreibregeln des Duden

„dürften in ihrer Gesamtheit schon deshalb nicht mehr im Volk gewachsen sein können, weil sie nach soweit ersichtlich allgemeiner sachverständiger Meinung auch von ‚Fachleuten‘ nicht mehr beherrscht werden.“ (S. 19)

Von vergleichbarer Qualität wäre die Behauptung, das „Große Wörterbuch der deutschen Sprache“ könne nicht den Wortschatz der deutschen Sprache dokumentieren, weil niemand alle diese Wörter kenne, das Fremdwörterbuch aus den nämlichen Gründen nicht die tatsächlich vorgefundenen Fremdwörter usw.

Zunächst einmal: Die ausdrücklich in allgemeiner Form dargestellten orthographischen Regeln sind im Duden von 1991 unter 171 „Richtlinien“ gebracht, die allerdings größtenteils eine ganze Reihe von Unterregeln abdecken. Dieses eigentliche Regelwerk ist gewiß nicht optimal gelungen, aber das hängt mit seinem Doppelcharakter zusammen: Es soll einerseits allgemeinverständlich und von jeder Sekretärin benutzbar sein, andererseits aber eine vollständige und wissenschaftlich akzeptable Beschreibung alles dessen, was sich überhaupt auf allgemeine Regeln bringen läßt. Vieles ist durchaus gelungen; insgesamt läßt sich dieselbe Regelungsmaterie m. E. wissenschaftlich befriedigender darstellen.17* Nun zerfällt aber die deutsche Gesamtsprache18* in zahlreiche Teilsprachen (im Sinne der „linguistischen Arbeitsteilung“), und niemand „beherrscht“ sie alle. Eine solche Forderung wäre von vornherein unrealistisch, denn die Gesamtsprache stellt schon rein begrifflich niemandes Kompetenz dar, sondern eine abstrakte Größe, die nur in Wörterbüchern usw. aufgehoben ist. So muß man nun auch das Gesamtregelwerk der deutschen Orthographie verstehen. Dabei ist es durchaus denkbar, noch weit über das Dudenregelwerk mit seinen 171 Adressen hinauszugehen. Beispielsweise ist allein die Zeichensetzung von Renate Baudusch19* noch viel detaillierter dargestellt worden als im Duden; sie kommt auf 227 Regeln, Dieter Berger gar auf 338. Auch diese vielen Regeln sind nicht erfunden, sondern dem tatsächlichen Schreibusus entnommen und mit Originaltexten belegt. Ähnlich verhält es sich mit der Getrennt- und Zusammenschreibung20* usw. Kurz gesagt: Die orthographischen Tatsachen der Gesamtsprache sind zu komplex, als daß der einzelne sie „beherrschen“ könnte; das muß er aber auch gar nicht, und es wäre ein Grundirrtum (und ein pädagogischer Kunstfehler), das Dudenregelwerk in diesem Sinne auszulegen.

Noch deutlicher wird die Fehlerhaftigkeit des Löwerschen Gedankengangs, wenn man das Wörterverzeichnis ins Auge faßt. Allerdings käme eben deshalb auch niemand auf die Idee, die Authentizität der vom Duden vorgelegten Beschreibung anzuzweifeln, nur weil nicht jedermann auf Anhieb weiß, wie man Khedive oder Rallye schreibt. Diese und Zehntausende von anderen Wörtern sind typischerweise etwas zum Nachschlagen, jedenfalls in einer grundsätzlich nicht rein phonographischen Schrift. Das spricht aber nicht gegen den Duden und seinen Anspruch, den Usus deskriptiv zuverlässig zu erfassen.

Das Löwersche Argument ist aber noch aus einem anderen Grund hinfällig. Die inhärenten Regularitäten der Sprache sind stets unvergleichlich komplexer als die detaillierteste Beschreibung, also die sogenannten „Regeln“, die wir ausformulieren können. Für die Grammatik ist das ganz offensichtlich. Die soeben erschienene „Deutsche Grammatik“ des IDS (die übrigens in „alter“ Rechtschreibung abgefaßt ist; man möchte eben auch in einigen Jahren noch gelesen werden ...) hat 2.500 Seiten und beschreibt ausdrücklich nur einen Teil der Sprachkompetenz eines normalen Deutschen. Die Wortbildung z. B. ist ganz ausgeklammert; man könnte darüber weitere zweitausend Seiten verfassen und wäre von Vollständigkeit immer noch weit entfernt. Auch das feine, von zahllosen Analogien durchzogene Gespinst der rechtschreiblichen Kompetenz (zum Beispiel die Gründe, aus denen manche Schreiber an manchen Stellen ein Semikolon setzen) ist über alle Vorstellung komplex. Wir ziehen nur aus praktischen Gründen irgendwo einen Strich und überantworten den „Rest“ an die Stilistik.

Als Beleg für eigenmächtiges Abweichen des Duden von der amtlichen Regelung führt Löwer in Anlehnung an Glinz an, daß „das klare ‚Dienstags‘ der amtlichen Regeln in der Auflage 1934 (ohne Begründung) zu ‚dienstags‘ geworden“ ist. Nun ist es von vornherein abwegig, vom Rechtschreibwörterbuch eine „Begründung“ einzelner Wortschreibungen zu verlangen, die ja nur darin bestehen könnte, zu jedem Eintrag eine Fülle von Belegstellen anzuführen. Man muß vielmehr bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgehen, daß das Rechtschreibwörterbuch den vorfindlichen Usus registriert. Glinz weist übrigens mit Recht darauf hin, daß der Duden schon 1905 angab, in Bayern werde entgegen den amtlichen Regeln dienstags geschrieben. Ich nehme an, daß diese Entscheidung des bayerischen Regelbuchs (von Ammon) auch nicht willkürlich getroffen war, sondern auf Beobachtung des Sprachgebrauchs beruhte. Dann wären es also die Bayern selbst gewesen, die sich im schwankenden Schreibgebrauch für diese Lösung entschieden haben. Übrigens liegt sie ganz auf der Linie der allgemeinen Entwicklung des adverbialen Genitivs, weshalb ja auch die jetzige Reform eine letzte Ausnahme zu beseitigen unternimmt: Hungers > hungers.21*

Löwer hätte auch noch den abschließenden Satz von Papa Glinz zitieren sollen, worin dieser bedauert, daß man nicht mehr Abends soll schreiben können, sondern nur noch abends, wie seit langem, aber nicht seit je üblich!

Ein willkürlicher Eingriff des Duden war dies also in keinem Fall, sondern eine - vermutlich sogar empirisch gerechtfertigte - Neubewertung des Usus.

Zur angeblich nicht beherrschbaren Kommaregelung und zur Dreibuchstabenregel ist in meinem Gesamtkommentar das Nötige gesagt, ich gehe daher nicht mehr darauf ein. Das Beispiel Ballettheater, auf das Löwer trotz offenkundiger Randständigkeit immer wieder zurückkommt, hat vermutlich mit humanistischem Bildungsdünkel „Graecum-bewehrter“ Duden-Mitarbeiter (S. 24) nichts zu tun, sondern beruht auf der einfachen Überlegung, daß auf das eigentlich geforderte dritte t tatsächlich kein weiterer Konsonant folgt, sondern nur ein konsonantischer Hilfsbuchstabe, so daß die heute gültige Ausfüllung dieser Regelnische ganz konsequent erscheint. Übrigens haben die Reformer auf die lesepsychologischen und sprachvergleichenden Einwände gegen die reformierte Dreibuchstabenregel nie wirklich geantwortet. In Duden Bd. 9 wird wieder und wieder gelehrt: „Zur besseren Lesbarkeit“ (!) „kann ein Bindestrich gesetzt werden: Nuss-Schokolade.“ Daß Nußschokolade perfekt lesbar war, bleibt bezeichnenderweise unerwähnt.

Dieter E. Zimmers Rechtschreibtest nach dem Muster des Kosogschen Diktats ist auch nach dem Urteil der Reformer wertlos. Auch nach der Neuregelung lassen sich entsprechende „Tests“ anfertigen, die die Unlernbarkeit der reformierten Rechtschreibung „beweisen“.22* Ein stärkerer Beweis ist die außerordentliche Fehlerhaftigkeit neuschreiblicher Texte, die von der KMK, von den Kultusministern und vom IDS herausgebracht werden.23* Die Stellungnahme des IDS für das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel enthält siebzehn (!) Verstöße gegen die selbstgewählte neue Rechtschreibung, die doch sozusagen im eigenen Hause ausgearbeitet worden ist und von dort mit allen Mitteln propagiert wird. - Die Beispiele sitzenbleiben, baden gehen, in bezug usw. sind allesamt untriftig, vgl. meinen „Kritischen Kommentar“. Zu kritisieren ist am Duden, wie ich anderswo gezeigt habe, vor allem die ultraorthodoxe Selbstinterpretation. Das ist aber kein unheilbarer Mangel.

Das Munske-Zitat S. 23 ist übrigens nicht „jüngst“ verfaßt, sondern stammt aus der Nerius-Festschrift 1995; es ist in der Sammlung 1997 nur wiederabgedruckt, ebenso wie die ausführlichen Zitate S. 33ff. - Munskes Beurteilung der Reform und auch des Duden hat sich seither weiter gewandelt. Seine Gesamtbeurteilung der Reform ist keineswegs „positiv“, sondern scharf ablehnend. Er dokumentiert jedoch ausdrücklich auch seine frühere Fehleinschätzung. Löwer hat das durchgehend nicht berücksichtigt.

Es war nach Löwer die Absicht der Reform, „die Grundregeln der deutschen Rechtschreibung von 1901/02 wieder zu stärken“ und die Ausnahmen zurückzuschneiden. Das mag zutreffen, aber dieses Ziel ist nach dem Urteil der sprachwissenschaftlichen Kritik nicht erreicht worden. Wenn man sich an das Originalwerk hält und nicht an die gefällig vereinfachten, in hoher Stückzahl verbreiteten Propagandaschriften, wird man unweigerlich zu der Erkenntnis kommen: Die Neuregelung ist evident ungeeignet, die Erlernung der Rechtschreibung zu erleichtern. Schon das Ausmaß der Veränderungen ist viel zu gering, um einen nennenswerten Effekt zu erzielen. Viele Eingriffe beziehen sich auf völlig marginale Einzelwortschreibungen (Frigidär, Bonboniere, Nessessär, Gämse, Ständelwurz), die in Schülerarbeiten nicht vorkommen. Außerdem ist die Menge der Regeln und Ausnahmen nicht kleiner geworden. Noch wichtiger ist der Hang, gegen die tatsächliche Sprachentwicklung anzukämpfen und die intuitiv sehr wohl erfaßbare Systematik an zahlreichen Stellen willkürlich zu zerreißen. Als wohl krassestes Beispiel kann die Getrennt- und Zusammenschreibung gelten. Hier wird bei grundsätzlicher (aber nie ausgesprochener und begrifflich offenbar überhaupt nicht bewältigter) Anerkennung der Zusammenschreibung eine Menge vollkommen willkürlicher Einschränkungen verordnet, so daß es jetzt zum Beispiel heißen soll: auseinander setzen (aber zusammensetzen), heilig sprechen (aber freisprechen) usw.

Sowohl für Löwers Text als auch für die gleichsinnigen Stellungnahmen der anderen Reformbefürworter (Deutscher Philologenverband, GEW usw.) sei hier festgestellt: Weder das beliebte Gerede vom „Regelwust“ des bisherigen Duden noch der Lobpreis der „Vereinfachungen“ durch die gegenwärtige Neuregelung können auf Autopsie beruhen. Was den Duden betrifft, so zeigt eine Sichtung des Regelteils, daß zwar manches aus systematischer Sicht gestrichen werden könnte, was offensichtlich nur auf Wunsch der zahllosen ratsuchenden Benutzer hineingenommen worden ist, und daß auch manche andere pragmatisch motivierte Eigenheit aus wissenschaftlich-systematischer Sicht geändert werden könnte (vgl. meinen Duden-Kommentar), daß aber die 1991 vorgelegte Beschreibung des allgemein üblichen Schreibgebrauchs insgesamt nicht schlecht und auch recht gut verständlich ist. Demgegenüber ist festzuhalten, daß das neue Regelwerk auch nach Aussage einiger Verfasser (Sitta, Gallmann, Zabel) extrem schwerverständlich und der didaktischen Aufbereitung bedürftig ist. Die Erfahrung hat gezeigt, daß nicht einmal die Verfasser imstande sind, den Text vollständig zu verstehen. Schaeder kennt sich, wie ich nachgewiesen habe, in seinem ureigensten Teilbereich, der Getrennt- und Zusammenschreibung, nicht hinreichend aus (vgl. „Regelungsgewalt“; Kap. II, sowie meine Besprechung von Augst et al. [1997] in der „Muttersprache“ 107, 1997). Die neue Kommaregelung, besonders § 77(5), ist so schwer zu verstehen, daß Gallmann und Sitta sie im „Handbuch Rechtschreiben“ (Zürich 1996) und im Duden-Taschenbuch (1996) nachweislich falsch interpretieren, ebenso die Dudenredaktion in Duden Bd. 9 und im Taschenbuch „Punkt, Komma und alle anderen Satzzeichen“ (1997), von der falschen Anwendung in den eigenen Texten der Reformer ganz zu schweigen. Die neue Getrennt- und Zusammenschreibung ist wegen Unverständlichkeit nicht anwendbar. Ob es weitgehend oder weit gehend, gleichbleibend oder gleich bleibend heißen muß, ist offenbar auch bei größter Anstrengung nicht herauszufinden (s.u.). Die Anwendung der entsprechenden Beliebigkeitsklausel ist in diesen Fällen nur durch das Versagen der Reformer gerechtfertigt und nicht, wie es eigentlich sein sollte, durch eine objektiv vorhandene Übergangszone im sich wandelnden Sprachsystem.

Das neue Regelwerk ist um ein Drittel umfangreicher als das bisherige, und selbst wenn man die vermehrten Beispiele abzieht, bleibt es mindestens gleich umfangreich. Die Kommaregeln sind nicht von 52 auf 9 reduziert, wie immer wieder zu lesen ist, sondern umfassen nach wie vor 10 DIN-A4-Seiten.

Löwer spricht gelegentlich von den „inzwischen ausnahme-gesättigten Regeln von 1901/02“ (S. 83). Man kann ihm nur empfehlen, einmal das neue Regelwerk zur Hand zu nehmen und beispielsweise die §§ 34 und 36 nachzulesen, die ich in einem eigenen Aufsatz (Muttersprache 107 [1997], S. 257-279) gewürdigt habe, oder die Groß- und Kleinschreibung (vgl. „Regelungsgewalt“, Anhang 2). Daß die Reformer selbst nicht glauben, die Zahl der Ausnahmen sei geringer geworden, ist schon in meinem „Schildbürger“-Buch nachgewiesen.

Die außerordentliche Kompliziertheit der Neuregelung zusammen mit ihrer Inkonsistenz in zentralen Bereichen hat schon jetzt die praktische Folge, daß der Rechtschreibunterricht an den Schulen in bisher unbekannter Weise intensiviert und damit auf- statt abgewertet wird. (Diese Intensivierung hat gelegentlich sogar zu unspezifischen Verbesserungen der Rechtschreibleistung geführt; auch dazu, daß mancher Lehrer sich zum erstenmal mit den Grundlagen der Orthographie beschäftigte. Leider werden ja unsere Lehramtsstudenten nie systematisch in Rechtschreiblehre ausgebildet, sondern schlagen von Fall zu Fall im Duden nach wie jeder Laie.) Das Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung in München wendet selbst diese Entwicklung noch ins Positive, wenn es in seinen (übrigens äußerst fehlerhaften) „Handreichungen“ schreibt:

„Zweifellos wird die Neuregelung dem Rechtschreibunterricht insgesamt einen gewaltigen Impuls geben.“24*

und

„Zweifellos wird die Neuregelung dem Rechtschreibunterricht insgesamt einen gewaltigen Impuls geben.“25*

Dies trifft zu. Auch nach zwei Jahren muß der Neuschreiber fortwährend nachschlagen, um die korrekte Schreibweise von Allerweltswörtern wie z. B. weitgehend herauszufinden (und wird dennoch - wie gerade dieses Beispiel zeigt - in ein orthographisches Labyrinth geschickt, aus dem es oft keinen Ausweg gibt26*).

Die Entstehung der Neuregelung wird S. 26f. zutreffend dargestellt. Daß die Neuregelung im „Sprachreport“ „ausführlich“ vorgeführt worden sei, kann man allerdings nicht sagen. Vielmehr war gerade diese verkürzte Darstellung äußerst irreführend. Daß kein Wörterverzeichnis vorgelegt worden war, bevor die endgültigen Beschlüsse gefaßt wurden (die Verzögerung durch Minister Zehetmairs Intervention war ja nicht vorgesehen), bleibt unerwähnt. Sobald fundierte Kritik möglich war, kam sie auch schon „zu spät“. Näheres in „Regelungsgewalt“, auch über die enormen Unterschiede zwischen der Anhörungsvorlage von 1993 und der endgültigen Regelung (von „Feinabstimmung“ kann keine Rede sein!). Löwers Feststellung „Schon die Beschlüsse der Wiener Orthographiekonferenz von 1994 weisen kaum noch einen Bezug zu früheren Konzepten auf“ (S. 28) trifft zu und läßt sich teilweise schon auf den Vergleich der Vorlagen von 1995 und 1992/3 beziehen. Daher ist es unrichtig, wenn die Reformer immer wieder behaupten, es habe einen jahrzehntelangen Reifungsprozeß gegeben. Vielmehr gab es aufgrund der Entscheidungen der Kultusbürokratie vollständige Kehrtwendungen, so daß die gegenwärtig geplante Reform in allen zentralen Punkten das Gegenteil dessen ist, was die Reformer noch 1993 einstimmig für richtig hielten: gemäßigte Kleinschreibung, Tilgung der Vokallängenbezeichnung, Fremdwortintegration, Einheitsschreibung das auch für die Konjunktion.

Wie grobschlächtig die Reformer im Eifer des Zurücksteckens zu Werke gingen, läßt sich auf Schritt und Tritt beobachten. So sind von mehreren Dutzend h, die seit zweihundert Jahren zur Tilgung anstanden (und besonders 1876 ein Hauptprogrammpunkt der Reformer um Konrad Duden waren), schließlich nur zwei geopfert worden, in Känguru und rau. Was nun das letztere betrifft, so lassen wir die etymologische Berechtigung des h (die noch aus Rauchwerk = Pelzwerk ersichtlich ist und dem Namen Allerleirauh Sinn gibt) beiseite und erinnern nur an die feinsinnigen Untersuchungen Roemhelds zum „Blickfang-h“ bei sinntragenden Wörtern. Alle Analoga zu rau (schlau, blau, flau, genau) haben Ober- und/oder Unterlängen, nur rau nicht. Für solche Feinheiten haben die Reformer keinen Sinn. (Oder doch? Immerhin haben sie nicht erwogen, zäh und roh entsprechend zu vereinfachen: und ro sehen noch armseliger aus als rau und sind wohl deshalb vermieden worden.) Unvergeßlich und für den Geist der Reformer überaus bezeichnend bleibt jener Vorschlag von 1995, das h aus Lehde und Lohde (!) zu entfernen - Wörtern, die bis dato niemand kannte und die daher der Erleichterung nicht bedurften. (Wahrig-dtv 1997 führt sie auf S. 1107 noch an!)

Löwer behauptet, „Grundstrukturen der deutschen Orthographie“ seien nicht betroffen, und führt als Beweis den eigenen, offenbar mühelos lesbaren Text an. Dieser Text, der - bei konservativster Zeichensetzung und Silbentrennung - in der Tat nur wenige (kaum hundert) Verstöße gegen die Neuregelung enthält und zweifellos gut lesbar ist, beweist aber nur, daß die Neuerungen sich quantitativ in engen Grenzen bewegen (weshalb sie ja auch schon aus arithmetischen Gründen keine nennenswerte Erleichterung bringen können und die außerordentlichen materiellen und immateriellen Kosten gewiß nicht rechtfertigen). Die gute Lesbarkeit neuschreiblicher Texte beruht auf dem Überwiegen der traditionellen Schreibungen, nicht auf der besonderen Qualität der Neuschreibungen.27* Auch ein Druckfehler auf dreihundert Wörter macht einen Text nicht unlesbar; daraus würde wohl niemand irgendwelche Schlüsse hinsichtlich der Wertschätzung von Druckfehlern ziehen. Quantitative Argumente sind hier überhaupt fehl am Platz. (Daß Löwer wie fast alle Reformer die vollständig durch den Lautstand motivierte ss-Schreibung irrigerweise als Stärkung des Stammprinzips mißversteht [S. 29], sei nur nebenbei erwähnt. Die Heysesche s-Regelung ist gewiß nicht „evident unvernünftig“ [S. 65]; sie ist aber auch nicht besser als die bisherige, auf der Schlußbuchstabigkeit des ß beruhende und müßte daher unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit des Änderungsbegehrens beurteilt werden. Dazu bedarf es jedoch einer korrekten Begründung.)

Die Neuregelung greift sehr wohl in Grundstrukturen der deutschen Orthographie ein. Sie stellt in zentralen Bereichen die bisherige Motivation bestimmter Schreibgewohnheiten geradezu auf den Kopf.

Dies erfaßt auch durchaus sehr viele Wörter (mehrere tausend), die allerdings jedes für sich meistenteils nicht allzu häufig vorkommen - eine statistische Trivialität.

Aus dem Gesamtprojekt greife ich nur drei Bereiche heraus.

Die neue Getrennt- und Zusammenschreibung will erklärtermaßen einer Tendenz der Sprachgemeinschaft zur Zusammenschreibung „entgegenwirken“.28* Sie führt willkürliche neue Kriterien wie die ig/isch/lich-Regel ein (heilig sprechen, aber freisprechen, fertig stellen, aber bereitstellen), das Verbot der Zusammenschreibung mit -einander- (neu nur noch auseinander setzen). Sie löscht die Regel, wonach feste Begriffe wie eisenverarbeitend, blutsaugend, hilfesuchend (jeweils mit Objektinkorporation) zusammengeschrieben werden, sie tilgt echte Komposita wie besorgniserregend, alleinstehend, allgemeinbildend, schwerbehindert u.v.a. Das ergibt nach Munskes Berechnungen (die sich auf vertrauliche Unterlagen der Wörterbuchverlage stützen) rund 4000 vernichtete Wörter, bezogen auf die Dudenkartei. Selbst Allerweltswörter wie sogenannt oder zufriedenstellend werden beseitigt und sind daher in neuen Wörterbüchern nicht mehr zu finden! Von einer behutsamen Systematisierung der deutschen Orthographie kann man hier wohl nicht sprechen, sondern muß Eisenberg recht geben, der hierzu schrieb:

Aus der Geschichte des Deutschen ist kein vergleichbarer Angriff auf das Sprachsystem bekannt.“29*

Bezüglich der Groß- und Kleinschreibung habe ich bereits gesagt, welche Tendenz sich wirklich durchgesetzt hat. Sie ist von Munske mustergültig beschrieben worden, wobei er mit einer etwas anderen Begrifflichkeit arbeitet als ich. Die Neuregelung durchkreuzt die wirklich geltende Motivation der Groß- und Kleinschreibung und führt nicht etwa bis 1901, sondern in die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts zurück, als eine Entwicklung zu vermehrter Großschreibung einsetzte, die erst durch Duden, Wilmanns und andere, vor allem Schulorthographen, als systemfremd erkannt und zurückgedrängt wurde. Die Neuschreibungen des Öfteren, nicht im Geringsten, der Einzelne, Ersterer und Letzterer wirken daher archaisch. Es sind eindeutig Rückschritte auf dem Weg zur textbezogenen Lesefreundlichkeit, und zwar um der Erleichterung für Abc-Schützen willen, die mit der primitiven Artikelprobe eine Zeitlang ganz gut zurechtkommen mögen.

Die neue Kommasetzung streicht die ganze Entwicklung zum grammatischen Komma durch und führt zu einer unerträglichen Beliebigkeit, sofern sie nicht, wie von allen Reformern in ihren eigenen Texten, souverän ignoriert wird. Statt den Schülern zunächst viele Kommafehler der subtileren Art nachzusehen, zerstört die Neuregelung die Ratio der Kommasetzung selbst. Wie undurchdacht die neue Kommasetzung in Wirklichkeit ist, kann man am Komma zwischen Hauptsätzen sehen, das nach der neuen Grundregel entfällt, wenn eine Konjunktion vorhanden ist. Die Begründung lautet, eine Hauptsatzreihe sei eine „Aufzählung“30* (!) von Hauptsätzen, und zwischen den Gliedern einer Aufzählung stehe nun einmal entweder ein Komma oder eine Konjunktion. Das ist grundfalsch und textlinguistisch unbelehrt. Statt die ausführliche Begründung zu wiederholen, die ich andernorts gegeben habe, möchte ich nur die Frage aufwerfen, wieso das Komma zwischen Hauptsätzen gleichwohl noch zulässig sein soll. Zwischen den konjunktional verbundenen Gliedern einer Aufzählung ist es doch sonst gerade ausgeschlossen! Die pseudoliberale Neuregelung ist also offen widersprüchlich. (Auch die Reformer Gallmann und Sitta haben sie kritisiert und in Teilen praktisch widerrufen [Handbuch Rechtschreiben. Zürich 1996].)

Dies alles ist kein Streit um Kleinigkeiten, es betrifft die allerhäufigsten Rechtschreibentscheidungen der täglichen Praxis. Eine in sich widersprüchliche Regelung aber zerrüttet das Sprachgefühl. Bald wird niemand mehr wissen, welche Funktion das Komma eigentlich hat.

Ein großer Schulbuchverlag (Klett), der die Kommas in einem Diktatbuch unter genau identischen Umständen einmal herausgekratzt hatte (man sah noch die Lücken) und einmal nicht, antwortete auf Anfrage: Das habe man absichtlich so gemacht, damit auch das Buch die Tatsache widerspiegele, daß die Neuregelung das Komma ins Belieben des Schreibenden gestellt habe ...

Der Cornelsen-Verlag, dessen Chef den Verband der Schulbuchverlage vertritt, hat in seinem Oberstufen-Lesebuch „Texte, Themen und Strukturen“ sämtliche Texte von klassischen und modernen Autoren in derselben willkürlichen Weise verändert. Was hat eigentlich das Streichen von Kommas, die auch nach der Neuregelung stehenbleiben könnten, mit „Erleichterungen“ für den Schüler zu tun?

Wie Löwer angesichts dieser fundamentalen Abkehr von der bisherigen Entwicklungrichtung der deutschen Orthographie behaupten kann:

„Die vorliegende Reform bewegt sich im Rahmen der gewachsenen Strukturentscheidungen.“ (S. 63)

ja sogar:

„(...) da die Neuregelung, wie allgemein anerkannt ist, an den Grundstrukturen der deutschen Orthographie nichts ändert (...)“ (S. 68; Hervorhebung hinzugefügt)

ist mir unverständlich. Es dürfte schwer sein, außerhalb der unmittelbar Reformbeteiligten einen Sprachwissenschaftler zu finden, der hier zustimmen würde.

Löwers Versuch, die Dudenregelung in einen Gegensatz zum tatsächlichen Schreibbrauch zu bringen und daraus die Möglichkeit zu konstruieren, daß die Neuschreibungen einen schon etablierten, im Duden jedoch nicht berücksichtigten Usus verkörpern, ist verfehlt. Dabei lehnt er bemerkenswerterweise eine „Auswertung der Tagespresse“ ab, „denn hier wird geschrieben, wie der Duden schreibt“ (S. 63). Das ist falsch. Die Tagespresse (von der manche Laien ja irrigerweise annehmen, die Texte liefen durch eine dudenkonforme automatische Rechtschreibkorrektur und spiegelten daher nur die Dudenvorschrift tautologisch wider) schreibt durchaus nicht einfach nach Duden, sondern bringt die sprachliche Intuition auch gegen den Duden zur Geltung und treibt damit eine Entwicklung weiter, die der Duden dann im Normalfall mit einigem zeitlichen Abstand aufgreift. So schreiben zum Beispiel die Zeitungen ziemlich einheitlich Schneller Brüter, während der Duden und kurioserweise auch die Neuregelung, die eben überhaupt keine empirische Grundlage hat, die Kleinschreibung vorsehen. Umgekehrt schreibt der Duden (wie auch die Neuregelung) vor: das ist ihm (völlig) Wurst/Wurscht. Die Zeitungen schreiben es fast immer klein. Das Wort ernstnehmen wird in allen Formen sehr oft zusammengeschrieben, aber weder der Duden noch - überraschenderweise - die Neuregelung wollen es zulassen. Solcher Differenzen gibt es viele (ich selbst ermittele sie empirisch auf breiter Textgrundlage bei meiner eigenen Rekonstruktion des allgemein üblichen Schreibgebrauchs). Wieder und wieder behauptet Löwer jedoch, nicht der Duden beobachte den Schreibbrauch, sondern die Sprachgemeinschaft beobachte („seismographisch“), was die Dudenredaktion an Neuerungen einführe. Dafür hat er aber keinen Beleg und keine anderen Argumente als die werbenden Selbstdeklarationen der Dudenredaktion. Die Tatsachen sprechen eine andere Sprache.

Außerdem ist die Abwertung der Tagespresse als Quelle methodisch verfehlt, denn die Tagespresse ist aufgrund des gewaltigen „Textdurchsatzes“ der wichtigste Ort, an dem Orthographie für nahezu jedermann stattfindet. Kurz gesagt: Wir schreiben zuerst, wie wir es in der Schule lernen, später aber vor allem so, wie wir es in den Zeitungen lesen. Überhaupt prägt das Lesen die Rechtschreibgepflogenheiten einer Gesellschaft viel stärker als der Regeldrill im Unterricht. Das wußte z. B. Wilmanns (1880, a.a.O. S. 111), während unsere modernen Reformer fast nie vom Lesen sprechen.

Löwer geht geflissentlich über die anerkannt katastrophale neue Getrennt- und Zusammenschreibung hinweg, die im Dezember 1997 selbst von der Rechtschreibkommission zum Abschuß freigegeben wurde (wovon freilich die Kultusminister nichts wissen wollten). Statt dessen hebt er immer wieder auf gelegentlich vorgekommene falsche Beispiele ab, als seien sie typisch für die Reformkritik. Diese rhetorische Strategie wird in meiner Schrift „Regelungsgewalt“ ausführlich beschrieben und zurückgewiesen. Mit keinem Wort geht Löwer auf Horst H. Munskes fulminanten Beitrag in der ihm durchaus bekannten Textsammlung Eroms/Munske (Hg.) 1997 ein. Munske und Eisenberg eignen sich inzwischen sehr wohl als „Kronzeugen“ der Reformkritik. Löwer behauptet schlicht:

„Für die These von der vollständigen Verfehltheit der Reform stehen im öffentlichen Diskurs nur wenige Namen (Werner H. Veith, Theodor Ickler, Friedrich Denk).“ (S. 33)

Das ist wirklich zuviel der Ehre. Mit der Nennung unserer Namen ist es aber auch nicht getan. Die Argumente, die von den Genannten (und vielen anderen) vorgetragen worden sind, wollen beantwortet sein. Davon ist bisher fast nichts zu erkennen.

Was die Abweichungen zwischen den neuen Wörterbüchern betrifft, so sollte sich Löwer lieber nicht auf die vom IDS verbreitete Untersuchung von Güthert/Heller berufen, vgl. meine Entlarvung in „Regelungsgewalt“. Auch Peter Eisenberg hat sich inzwischen öffentlich von Augsts diesbezüglicher Erklärung distanziert („Sprachreport“ 1/98).31* Wie die Varianten einerseits, die Abweichungen bei der „Umsetzung“ der Reform andererseits zu beurteilen sind, habe ich in meinen Büchern und Aufsätzen dargelegt und brauche daher hier auf den vergeblichen Versuch einer Verharmlosung der Reformmängel nicht einzugehen. Sonderbar mutet die Erwägung Löwers an, ob es nicht besser gewesen wäre, nur ein Regelwerk ohne Wörterverzeichnis herauszugeben und die Umsetzung dem Wörterbuchmarkt zu überlassen. Wer sich mit der Materie besser auskennt und auch das grundsätzliche Verhältnis von Regelwerk und Wörterverzeichnis zu beurteilen vermag, wird diese Idee - vorsichtig gesagt - abenteuerlich finden. Das sehen übrigens auch die Wörterbuchmacher so, die zum Beispiel während der Mannheimer Anhörung am 23. Januar 1998 dringend eine umfangreicheres amtliches Wörterverzeichnis anmahnten. (So auch seit Jahren die „Studiengruppe Geschriebene Sprache“.)

Im übrigen trifft es nicht zu, daß die Reform die Regeln „liberalisiert“. Für eine große Zahl von neuen Regeln und Einzelwortschreibungen liegt das Gegenteil auf der Hand. Es ist keineswegs liberal, die herkömmliche Schreibung sogenannt, jedesmal, auseinandersetzen, leid tun, weh tun usw. für nunmehr falsch zu erklären und allein die Schreibung so genannt, jedes Mal, auseinander setzen, Leid tun und wehtun für richtig. Es ist weder liberal noch eine Erleichterung, Corned beef, von seiten usw. zu verbieten und dafür jeweils zwei neue Schreibungen (Cornedbeef oder Corned Beef, vonseiten oder von Seiten) als allein zulässig anzubieten. Warum in aller Welt soll die bisher übliche Platitüde plötzlich unzulässig und nur die Wahl zwischen Platitude und der makkaronisch integrierten Hauptvariante (!) Plattitüde erlaubt sein - während Attitüde, Etüde usw. unverändert gültig bleiben? Die etymologisierenden und volksetymologischen Neuschreibungen (ein Steckenpferd des Reformers Augst, seit 20 Jahren von allen übrigen Germanisten belächelt) Gämse, Stängel (Glimmstängel!), Zierrat, schnäuzen usw. hätten nicht die geringste Chance, wenn sie nicht variantenlos vorgeschrieben würden. Ja, die ganze Neuregelung wäre, wenn man sie lediglich als Angebot herausbrächte und der Bevölkerung eine wirklich freie Wahl ermöglichte, bis auf Kleinigkeiten wie die st-Trennung wahrscheinlich bald wieder vergessen. Zur freien Wahl würde natürlich gehören, daß die herkömmliche Schreibung weder durch den Rotstift noch - wie in Bayern verordnet - durch den Grünstift des Lehrers und durch ein ebenso unberechtigtes wie lächerliches „überholt“ diskriminiert würde und daß auch die Lehrer nicht per Erlaß gezwungen würden, nur noch die Neuschreibung zu verwenden. Die allgemein übliche Rechtschreibung wird zur Zeit Hunderttausenden von Schülern vorenthalten. So heißt es zum Beispiel in einem Runderlaß des schleswig-holsteinischen Kultusministeriums vom 5.11.1996: „Generell werden überholte Regeln und Schreibungen nicht mehr eingeführt und nicht mehr geübt.“ Diese „überholten“ Schreibungen waren und sind die amtlich gültigen! Von einem fairen Test der Neuregelung auf gesellschaftliche Akzeptanz, wie Löwer ihn zu erkennen meint, kann unter solchen Umständen keine Rede sein.

Die Neuregelung setzt Willkür und Beliebigkeit an die Stelle längst festgewordener Schreibgewohnheiten. Sie läßt zwar oft die Wahl, aber niemand kann vorhersehen, wo. Zwischen zulasten und zu Lasten, zugrunde und zu Grunde soll man wählen können, aber nicht zwischen zugute und zu Gute (wie die „Woche“ irrtümlich annimmt), zuliebe und zu Liebe. „Nachschlagen!“ heißt die Parole. Und für dieses mutwillig erzeugte Durcheinander findet Löwer die pathetischen Worte, die Reform trage „die gesellschaftliche Freiheit in der Schreibung ein Stück weit in die Schulen und den Amtsbetrieb“ (S. 33)!

Wahr ist vielmehr, daß die Reformer Beliebigkeitsklauseln einfügen, wo sie selbst keine Regel aufzustellen vermögen. Sie wissen nicht, was der strukturelle Unterschied zwischen kennenlernen und schwimmen lernen ist, und behaupten daher ungeniert, ein formales Kriterium zur Unterscheidung sei hier nicht auffindbar, weshalb beides gleichermaßen getrennt geschrieben werden müsse. Das ist, wie zuerst Peter Eisenberg32* gezeigt hat, grober Unfug und ein bedenkliches Zeugnis elementaren fachlichen Versagens. Von dieser Art sind Dutzende sinnloser und falscher Behauptungen und darauf gegründeter neuer Regeln. Der Geschäftsführer der Rechtschreibkommission weiß nicht, daß zwischen artig grüßen und übrigbleiben keine „Analogie“ möglich und die damit gerechtfertigte neue Getrenntschreibung des letzteren völlig willkürlich ist. Die Reformer wissen nicht, daß leid in leid tun kein Substantiv ist, ebenso wie feind in jemandem feind sein. Dieser schockierende Dilettantismus der Reform kommt bei Löwer gar nicht in den Blick.

Statt dessen lenkt er die Diskussion immer wieder auf Unwesentliches, ganz im Stil laienhafter Reformkritiker, die sich endlos über neue Einzelwortschreibungen wie die allerdings lächerlichen Spagetti mit Tunfisch erregen können und dabei die wirklich grundstürzenden Maßnahmen im Bereich der Regelveränderung übersehen. Ich habe andernorts nachgewiesen, daß Rad fahren, in Bezug auf usw. auch nach bisheriger Rechtschreibung durchaus nicht falsch waren, da es sich bei den scheinbar dudenkonformeren Schreibweisen lediglich um Lizenzen handelte. Löwer faßt leider nicht die Möglichkeit ins Auge, daß eine sinngemäße liberale Interpretation des Duden unter Berücksichtigung des tatsächlichen Sprachgebrauchs (und bei gleichzeitiger Aufhebung des Dudenprivilegs) unsere orthographischen Probleme auch ohne kostspielige und ärgerliche „Reform“ hätte lösen können, soweit sie ohne grundsätzliche Abkehr von der nichtphonographischen Schrift überhaupt lösbar sind.33*

Unverständlich ist Löwers Wort von der „im Zeitalter des Computers unendlich lästigen Verwandlung von „ck“ in „k-k“ im Trennungs-Fall“ (S. 64). Gerade dies bewältigen die Trennprogramme doch seit je ohne Mühe. (Die Nichttrennung von ck ist übrigens ein Verstoß gegen die Grundregel der Trennung nach Sprechsilben und widerspricht § 3 des Regelwerks! Näheres in meinem Gesamtkommentar.) Für den allmählichen Übergang von „humanistischen“ Trennungen (Heliko-pter) zu sprechsilbengesteuerten (Helikop-ter) hätte es keiner Reform bedurft. Er bleibt übrigens heikel (Obst-ruktion, Lust-ration usw.), die Neuregelung wird gerade hier wohl keinen Bestand haben. Übrigens ist sie wegen der unerwünschten Fülle von Trennmöglichkeiten gerade „im Zeitalter des Computers“ eine harte Nuß für den Programmierer. Löwers eigener Text macht keinen Gebrauch von den neuen Möglichkeiten; künftig müßte er eigens Vorsorge treffen, daß das Trennprogramm ihm nicht völlig unerwünschte Trennungen unterjubelt!

Löwer hebt an verschiedenen Stellen darauf ab, daß an der Ausarbeitung der Reform Fachleute beteiligt waren. Dazu ist bei aller kollegialen Rücksichtnahme zunächst zu sagen, daß es durchaus unterschiedliche Fachleute gibt. Ferner muß bedacht werden, daß die gegenwärtige Reform kaum Ähnlichkeit mit den eigentlichen Plänen der beteiligten Wissenschaftler hat, sondern weitgehend den Wünschen von Fachbeamten der Kultusministerien entstammt, denen sich die übriggebliebenen Wissenschaftler34* Schritt für Schritt unterwerfen mußten.

Wie es im Internationalen Arbeitskreis für Orthographie (den es als Institution mit definierter Mitgliedschaft übrigens nie gab) und in den nationalen Arbeitskreisen wirklich zuging, können nur Insider berichten. Immerhin ist über die Art, wie dort die auch von Löwer erwähnten „Kompromisse“ geschlossen wurden, einiges bekannt. Zabel hat folgendes hübsche Detail ausgeplaudert:

„Die Kommission für Rechtschreibfragen konnte sich diesen Vorschlägen“ (sc. Einheitsschreibung das) „(noch) nicht anschließen. Sie entschied sich einerseits, eine entsprechende Beschlußfassung zu einem späteren Zeitpunkt unter Berücksichtigung der Gesamtregelung vorzunehmen. Dies bedeutet, daß sie auf eine Neuregelung in diesem Bereich verzichten könnte, wenn dadurch andere Maßnahmen ermöglicht würden. Andererseits wäre es sinnvoll, zur Vereinfachung der Regeln diesen Vorschlag durchzusetzen, wenn sich die Realisierung anderer Vorschläge als utopisch erweisen sollte. Die Stellungnahme der Kommission geht von der durch das Protokoll der II. Orthographischen Konferenz von 1901 belegten Tatsache aus, daß Beschlüsse zur Orthographiereform ohne die Bereitschaft zum Kompromiß kaum möglich sind.“ (Die Rechtschreibung des Deutschen und ihre Neuregelung. Hg. v. d. Kommission für Rechtschreibfragen. Düsseldorf 1985, S.164)

Ein solcher Kuhhandel mit Rechtschreibänderungen, die anschließend Millionen Menschen zum Umlernen bringen sollten, stößt mit Recht auf Mißtrauen.

Daß die Neuregelung den Stand der deutschen Sprachwissenschaft widerspiegele, trifft glücklicherweise nicht zu. Im Gegenteil: Die Fachöffentlichkeit hat das Reformwerk wegen seiner offenkundigen Fehlerhaftkeit immer abgelehnt, und neuerdings artikuliert sich dieser Widerstand auch in organisierter Form. Fast sechshundert Professoren der Sprach- und Literaturwissenschaften haben im April und Mai 1998 folgende Erklärung unterschrieben:


Erklärung zur Rechtschreibreform

Die sogenannte Rechtschreibreform „entspricht nicht dem Stand sprachwissenschaftlicher Forschung“ (so die Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft am 3. März 1998); sogar die Rechtschreibkommission der Kultusminister hat in ihrem Bericht vom Dezember 1997 wesentliche Korrekturen als „unumgänglich“ bezeichnet.

Eine derart fehlerhafte Regelung, die von den bedeutendsten Autoren und der großen Mehrheit der Bevölkerung mit guten Gründen abgelehnt wird und die Einheit der Schriftsprache auf Jahrzehnte zerstören würde, darf keinesfalls für Schulen und Behörden verbindlich gemacht werden.


Man findet selbst unter den Betreibern der Reform kaum noch jemanden, der zu einer inhaltlichen Verteidigung bereit wäre. Die sogenannten Bildungsverbände (Lehrerverbände, GEW, Schulbuchverleger, Bundeselternrat usw.) haben einen beispiellosen Propagandafeldzug geführt und die Befürworter der Reform zu einer Unterschriftensammlung aufgerufen. Nach ihrer eigenen Auskunft35* liegen die gesammelten Unterschriften ungezählt in einem Archiv, Schätzungen reichen von 5.000 bis maximal 12.000. Unterdessen haben die Kritiker der Reform mindestens 800.000 Unterschriften gesammelt. Daran läßt sich ablesen, daß die Reform auf breiteste Ablehnung stößt und mit allgemeiner Akzeptanz gar nicht zu rechnen ist. Wenn frühere Umfragen ergeben haben, daß eine Mehrheit sich generell für eine Rechtschreibreform aussprach, so ist das nicht verwunderlich, verspricht doch allein der Begriff der „Reform“ eine Verbesserung und Erleichterung. Nachdem jedoch bekannt geworden ist, worum es wirklich geht, ist die Ablehnung allgemein, und zwar gerade nicht bei ungebildeten Menschen, die nicht wissen, was überhaupt zur Diskussion steht, sondern bei solchen Bürgern, denen die Sprache und die Schrift nicht gleichgültig sind. Die Frage der erwartbaren Akzeptanz spielt im Urteil des OVG Schleswig eine bedeutende Rolle. Löwer bemüht sich, Zweifel an dieser Akzeptanzprognose zu entkräften oder für irrelevant zu erklären (bes. S. 78ff.). Dazu gehört auch der Versuch, die Berücksichtigung des breiten Protests in der Bevölkerung auf „Einflüsterungen der Stimmungsdemokratie“ (S. 80) zu reduzieren oder sich über das Auslegen von Unterschriftenlisten „in Apotheken“ lustig zu machen. Hier steht Meinung gegen Meinung.36* Die weitere Entwicklung wird m. E. zeigen, daß die Rechtschreibreform keine neuen Freunde hinzugewinnt. In meinen analytischen Arbeiten habe ich nachgewiesen, daß sie wegen ihrer inneren Fehlerhaftigkeit auch praktisch nicht verwirklicht werden kann. Insofern ist mir ihre Nichtdurchführbarkeit so gewiß wie die Prognose, daß eine physikalisch unmögliche Maschine, etwa ein Perpetuum mobile, nicht funktionieren wird. Wenn Löwer schreibt:

„Wenn die Gerichte jetzt für ihre Entscheidungen auf die öffentliche Ablehnung abstellen, nimmt der diskursive Prozess zirkuläre Züge an.“ (S. 80)

- dann läßt sich das wortwörtlich auf die Entscheidung des OVG Schleswig anwenden, das den Unterricht in der Neuregelung als Anpassung an eine künftige Rechtschreibung betrachtet - eine Rechtschreibung, die aber gerade erst durch diesen Unterricht in Geltung gesetzt werden soll.

Löwer äußert sich auch über die zwischenstaatliche Rechtschreibkommission, deren Aufgaben übrigens nach dem Wortlaut der Wiener Absichtserklärung bei weitem nicht so „klar“ sind, wie er es darstellt. Auch unter den Mitgliedern besteht darüber keine einhellige Meinung, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob Korrekturen am Regelwerk unter dem Eindruck der inzwischen vorgenommenen kritischen Analysen dazugehören oder nicht, ferner darüber, ob die Kommission das Erbe der Dudenredaktion (als Wörterbuchredaktion) antreten oder die Wörterbuchredaktionen nur beraten soll usw. (vgl. den Beitrag von Sitta in Eroms/Munske [Hg.] 1997 sowie meine Schrift „Regelungsgewalt“). An dieser Stelle ist ein anderer Aspekt interessant: Löwer meint, daß die Neuregelung nicht zu einem höheren Grade von „Verstaatlichung“ der Orthographie führe, als er bisher schon herrschte (S. 65f.). Dies wird durch die bisherige Erfahrung widerlegt. Als nämlich die Kommission ihre ersten zaghaften Korrekturvorschläge zum neuen Regelwerk herausbrachte und auf einer Anhörung am 23. Januar 1998 diskutieren ließ, wurde sie - nach anfänglicher Zustimmung durch die KMK-Vorsitzende Brunn und andere Kultusminister - überraschend zurückgepfiffen. Zuerst eine kultusministerielle Fachkonferenz, dann die Amtschefskommission und schließlich die Kultusminister selbst waren es, die den fachlich zwar unzureichenden, aber wissenschaftlich immerhin begründeten und auch absolut notwendigen Eingriff in das Regelwerk zurückwiesen. (Der unerhörte Vorgang, der den Austritt Peter Eisenbergs aus der so brüskierten Kommission zur Folge hatte, ist in „Regelungsgewalt“ ausführlich dokumentiert und erörtert.) Hier zeigt sich der direkte Zugriff von Politikern und staatlichen Kultusbürokraten auf die deutsche Rechtschreibung. In Wirklichkeit entstammt eben - was für die Öffentlichkeit allerdings nicht erkennbar war - die Neuregelung in wesentlichen Teilen nicht den Köpfen der beteiligten Fachwissenschaftler, sondern denen der Kultusbürokraten. Da von entscheidenden Sitzungen der Arbeitskreise (insbesondere des Internationalen Arbeitskreises in Wien 1994) im Gegensatz zur I. und zur II. Orthographischen Konferenz 1876 bzw. 1901 keine Protokolle existieren, läßt sich hier leider nichts Genaues nachweisen; dennoch war es so. Der geschilderte Vorgang ist ein Präzedenzfall. Er zeigt, wie die Gestaltung der deutschen Orthographie künftig vor sich gehen wird: als unmittelbarer Eingriff von Beamten in die Norm. Löwer selbst betont ja, daß die Kommission nur Vorschlagsrecht hat (S. 70). Entscheiden wird also ein anderer, und zwar der Staat unmittelbar. Das ist etwas grundsätzlich anderes als die bisherige Tätigkeit des Duden, ob mit oder ohne staatliches Privileg.

Daß es um eine neue Qualität der Verstaatlichung der Orthographie gehe, ist im übrigen auch die Meinung der Reformer, die das bei vielen Gelegenheiten zum Ausdruck gebracht haben. Stellvertretend sei der Reformer Karl Blüml zitiert:

„Das Ziel der Reform waren aber gar nicht die Neuerungen. Das Ziel war, die Rechtschreibregelung aus der Kompetenz eines deutschen Privatverlages in die staatliche Kompetenz zurückzuholen.“ (Standard 31.1.1998)

So sieht es auch der Deutsche Philologenverband in seiner Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht. Er stellt mit Befriedigung fest, daß die Kultusminister

„die Entscheidungskompetenz in Fragen Rechtschreibung nicht länger in privater, sondern wieder in staatlicher Hand wissen wollen.“ (S. 4)

Regierungsschuldirektor Kammerer vom baden-württembergischen Kultusministerium stellt fest:

„Mit der Entscheidung, die Rechtschreibung nach über 90 Jahren zu reformieren und die hilfsweise seit 1956 zum Teil einem privatwirtschaftlichen Verlag überlassene Regelungskompetenz wieder an sich zu ziehen, ist staatliches Handeln wirksam geworden.“37*

Daß der ostdeutsche Reformer Nerius ebenso denkt, versteht sich von selbst. Auch der von Löwer gern zitierte Journalist Dieter E. Zimmer ist der Meinung, daß die Aufhebung des Dudenprivilegs und damit die Überführung der Rechtschreibnorm in die staatliche Kompetenz geboten sei. (Nachweise in meinem „Schildbürger“-Buch.)

Gerade den Deutschen fällt es offenkundig besonders schwer, sich ein stabiles gesellschaftliches Gebilde wie Sprache und Schrift ohne staatliche Regelungskompetenz vorzustellen. Die Hintergründe mag - wenn denn schon Klassiker zitiert werden sollen - ein bekanntes Wort aus Jacob Burckhardts „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ erhellen:

„Von den furchtbaren Krisen bei der Entstehung des Staates, von dem, was er urspünglich gekostet hat, klingt noch etwas nach in dem enormen, absoluten Vorrecht, das man ihm von jeher gewährt hat.“

Die Deutschen hatten es schwerer als andere, zu einer Einheitsorthographie zu gelangen; deshalb hängen sie so sehr daran, daß ausgerechnet das Rechtschreibwörterbuch ihnen zum Inbegriff des Wörterbuchs, ja der Sprache werden konnte.

Die Neuregelung setzt die „obrigkeitliche Lösung“ (Munske), die man in Deutschland für die Einheitsorthographie gefunden hat, nicht nur fort, sondern hebt sie auf ein höheres Niveau strikter Verstaatlichung, indem sie alle einzelnen Inhalte von behördlicher Billigung abhängig macht, ja den Kultusbehörden sogar die normschöpferische, vom Üblichen abweichende inhaltliche Ausgestaltung der an Schulen zu lehrenden und von Staatsdienern zu praktizierenden Schreibweisen überläßt. Die staatlichen Stellen haben denn auch jüngst zu erkennen gegeben, daß sie die Expertenkommission - die sich nach ihrer Düpierung wie eine Hofnarrentruppe vorkommen muß - im Grunde gar nicht mehr brauchen, weil sie sowieso alles besser wissen.38*

Löwers Bemühungen, die Neuregelung umstandslos an die bisherige Praxis anzuschließen, wird nicht zuletzt durch die schlichte Tatsache widerlegt, daß erstmals sämtliche Rechtschreibbücher neu angeschafft werden müssen und darüber hinaus weitere Umstellungen mehr oder weniger unumgänglich sind, deren Kosten ja nach Auffassung der Verleger nicht der geringste Streitpunkt in der anstehenden gerichtlichen Auseinandersetzung sind. Demgegenüber vollzog sich bisher das Erscheinen einer neuen Duden-Auflage weitgehend unbemerkt und jedenfalls ohne spürbare Auswirkungen auf die Schulen und Ämter. Der Unterschied zwischen den von Löwer mehrfach erwähnten jeweils neuen Duden-Auflagen und der Neuregelung ist daher kein gradueller, sondern ein grundsätzlicher, es ist der Unterschied zwischen Entwicklung und Reform.

Im Fazit seiner Ausarbeitung greift Löwer gar zum schlichtesten Gemeinplatz, dem man in der gegenwärtigen Diskussion begegnen konnte: „Es gibt wichtigere Fragen“. Freilich, zu jeder wichtigen Frage läßt sich eine noch wichtigere denken, und ein Projekt, das vielleicht fünf Milliarden kostet, wird durch ein zehnmal so teueres ohne weiteres in den Schatten gestellt. Soll man deshalb die weniger wichtigen Fragen ungelöst lassen? Die Rechtschreibreform ist nicht nur überflüssig, sondern schädlich wie ein Kropf. Dafür gibt es eine erdrückende Menge von Beweisen, und die Mehrheit der Bevölkerung hat es erkannt.

Zusammenfassung:

Löwer referiert viele Tatsachen zweifellos zutreffend, stellt aber zugleich die Rechtschreibreform und ihre Vorgeschichte bis zu den orthographischen Einheitsbestrebungen des vorigen Jahrhunderts in so eigenwilliger Auswahl und Beleuchtung dar, daß man sie kaum wiedererkennt. Dem war eine andere und, wie ich denke, sprachwissenschaftlich korrektere Perspektive entgegenzuhalten. Daraus ergibt sich eine abweichende Einschätzung der gegenwärtigen Ereignisse.

Die Einführung der Rechtschreibreform an den Schulen bedeutet, daß zum erstenmal die Schüler nicht mehr in der allgemein üblichen Rechtschreibung unterrichtet werden, sondern in einer anderen, die in wesentlichen Teilen weder der Entwicklungsrichtung der deutschen Orthographie entspricht noch wissenschaftlichen Erkenntnissen genügt.

Indem Löwer marginale Erscheinungen, über die zum Teil verschiedene Meinungen möglich sind, in den Vordergrund stellt und die fundamentale Kritik an zentralen Entscheidungen der Reform kaum oder gar nicht erwähnt, gerät die Tatsache aus dem Blick, daß das neue Regelwerk in zentralen Bereichen fehlerhaft und widersprüchlich, seine praktische Umsetzung daher a limine ausgeschlossen ist. Besonders ist hervorzuheben, daß die „haarsträubende Unsystematik“ (Werner H. Veith) der Neuregelung das sogenannte Sprachgefühl zerrüttet, d. h. die intuitive Kenntnis des zwar hochkomplexen, im Kern aber wohlorganisierten Gesamtgefüges, das die ernsthafte Orthographieforschung mit wachsendem Respekt erkannt hat und weiter untersucht. Mit ihren willkürlichen Eingriffen zerstört die Reform die Grundlage der schriftsprachlichen Bildung - und das in einer Zeit, da mit Recht das wachsende Unvermögen Heranwachsender zum differenzierten sprachlichen Ausdruck beklagt wird!

Löwer geht durchweg von der Voraussetzung aus, die Zielsetzung der Reform, also die Vereinfachung der deutschen Orthographie, sei - wenn nicht vollkommen und nicht in jedem Bereich - immerhin einigermaßen gelungen. Die unabhängige wissenschaftliche Kritik hat das Gegenteil nachgewiesen. Einer der besten Kenner der Materie urteilt abschließend: „Von besserer Lehrbarkeit der Neuregelung kann insgesamt keine Rede sein.“39* Damit hat sie ihr Ziel verfehlt.

Erlangen, 30. April 1998

1* Wirklich nur als Fußnote eignet sich der Hinweis, daß der von Löwer erwähnte Platon einer der größten Schriftsteller aller Zeiten war. Seine Schriftkritik ist nicht ohne ironische Brechung zu verstehen.Zurück zum Haupttext

2* Zur Problematik dieses Begriff vgl. meinen „Kritischen Kommentar zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“. Erlangen, Jena 1998.Zurück zum Haupttext

3* Die Reformer hätten sich an Konrad Duden halten sollen, den sie sonst so gern zitieren: „Bei Ausdrücken wie leid tun, not tun, weh tun, schuld sein, gram sein; mir ist angst, wol, wehe, not ist von selbst klar, daß das zum einfachen Verbum hinzugetretene Element nicht als Substantivum fungiert; (man erkennt) die nicht substantivische Natur jenes Zusatzes am besten durch Hinzufügung einer nähern Bestimmung. Man sagt er (...) hat ganz recht, hat vollständig unrecht u. dgl. Die Anwendung von Adverbien, nicht von Adjektiven, zeigt, daß man einen verbalen Ausdruck, nicht ein Verb mit einem substantivischen Objekt vor sich hat.“ (Die Zukunftsorthographie (usw.). Leipzig 1876, S. 70)Zurück zum Haupttext

4*„Über die preußische Schulorthographie“ (1880). In: Burckhard Garbe (Hg.): Die deutsche rechtschreibung und ihrer reform 1722-1974. Tübingen 1978, S. 114.Zurück zum Haupttext

5* Zur Hervorhebung der vollen Lexembedeutung (Munske 1997) bleibt die Großschreibung natürlich jederzeit möglich; der berühmte „Verstoß“ des Bundesverfassungsgerichts ist also gar keiner.Zurück zum Haupttext

6* Nähere Erläuterung in meinem „Kritischen Kommentar“, wo auch die Gallmannsche Auffassung von der „lexem“-bezogenen Wortartbestimmung zurückgewiesen wird, die zu heute Abend geführt hat und demnächst zu bei Weitem führen soll. - Instruktiv zur Systematisierung der Groß- und Kleinschreibung die von Prof. Munske betreute Staatsexamensarbeit von Karin Rädle: „Die Entwicklung der Groß- und Kleinschreibung im Deutschen vor dem Hintergrund der Orthographiereformdiskussion des 19. Jahrhunderts“. Erlangen 1998.Zurück zum Haupttext

7* Zum heutigen Zustand vgl. Ulrike Behrens: Wenn nicht alle Zeichen trügen. Interpunktion als Markierung syntaktischer Konstruktionen. Frankfurt u.a. 1989; Peter Gallmann: Graphische Elemente der geschriebenen Sprache. Tübingen 1985.Zurück zum Haupttext

8* Die Mannheimer Rechtschreibkommission hat sich noch nicht mit der Revision der Zeichensetzung beschäftigt, sondern will das erst im Mai 1998 bei einer Tagung in Vaduz tun. Es ist anzunehmen, daß sie, ebenso wie Ende 1997 bei der katastrophalen neuen Getrennt- und Zusammenschreibung, zur Rücknahme der vielkritisierten Neuerungen bei Infinitiv- und Partizipialsätzen gelangt. Was immer sie jedoch beschließt oder nicht beschließt - es ist ohne jede Bedeutung, denn die Kultusminister werden damit nach eigenem Belieben verfahren; s.u.Zurück zum Haupttext

9* Sprachwissenschaft 6 (1981), S. 438.Zurück zum Haupttext

10* Ebd. (Hervorhebung hinzugefügt). Auch Konrad Duden war der Meinung, daß sich ohne „Einmischung der Regierungen“ das Richtige von selbst Bahn bricht, jedoch erwartete er von einer solchen Einmischung, daß sie „gewisse, im Geiste der Entwicklung unsrer Schrift liegende Forderungen mit einemmale erfüllt und dadurch für lange Zeit hinaus wirklich dem leidigen Schwanken ein Ende macht.“ (Zukunftsorthographie S. VIII) - Nach unseren Erfahrungen mit der Weisheit der Regierungen (besonders der KMK) setzen wir lieber auf die andere Methode. Zurück zum Haupttext

11* Eine Einheitsorthographie konnte sich schwerlich ohne Einheitssprache ausbilden. Diese ist in Deutschland ein modernes Kunstprodukt.Zurück zum Haupttext

12* Theodor Ickler: „Sprache im geteilten Deutschland“. In: Deutsche Einheit. Acta Hohenschwangau 1985. München 1986, S. 87-112.Zurück zum Haupttext

13* „Die Rechtschreibreform - Propaganda und Wirklichkeit“, Anhang; jetzt als Teil I in: „Regelungsgewalt“, Ms. Erlangen 1998. (Menzel hat einen falschen Text zugrunde gelegt.) Dieselbe Unvertrautheit mit dem Stoff deutet sich auch in der Namensentstellung Wilhelm von Raumer bzw. Robert von Raumer an, die Löwer in der Revisionsbegründung bzw. seinem Assistenten J. Menzel in dem genannten Aufsatz in der NJW (17/1998) unterläuft.Zurück zum Haupttext

14* Löwer versucht, anhand dieser Kautsch-Episode die Fremdworteindeutschung als normierende Praxis des Duden darzustellen (S. 18). In Wirklichkeit hat der Duden von solchen Avantgardismen alsbald die Finger gelassen.Zurück zum Haupttext

15* Das bestätigen die unzähligen Anfragen an die Sprachberatung. Auf diese Weise ist auch die oft bespöttelte Dreibuchstabenregelung immer weiter ausgebaut worden, weil man offenbar wissen wollte, wie der einfache Grundansatz sich auf die Sonderfälle bis hin zu Ballettheater auswirkt. Für Schule und Alltag spielt das alles keine Rolle. Richtig ist natürlich, daß die Schreibweise von Ballettheater bei der Seltenheit solcher Wörter nicht aus dem Schreibbrauch abgelesen sein kann; sie beruht vielmehr auf einem Zu-Ende-Denken des durchaus empirisch gestützten Grundansatzes. An der deskriptiven Grundhaltung des Duden ändern solche marginalen Ausfüllungen zunächst unberücksichtigter und daher ungeregelter Nischen nichts. - Der Reformer Gallmann sagte 1985 mit Recht: „Die meisten Rechtschreibprobleme verschwinden nicht, wenn man die zugehörigen Regelwerke zusammenstreicht oder durch lauter ‚kann‘-Formeln ersetzt.“ (Graphische Elemente der geschriebenen Sprache. Tübingen 1985, S. VI).Zurück zum Haupttext

16* Vgl. Augst et al.: Rechtschreibwörterbücher im Test. Tübingen 1997.Zurück zum Haupttext

17* Vgl. meinen eigenen Rekonstruktionsversuch, der samt Wörterverzeichnis mit rund 60 000 Einträgen noch 1998 erscheinen soll. Dazu siehe ergänzend meinen „Kommentar zur gültigen Rechtschreibung nach Duden, 20. Auflage“ (eine kritische Sichtung des gesamten Duden-Regelwerks), Ms. Erlangen 1997. Beide Texte liegen dem Bundesverfassungsgericht vor.Zurück zum Haupttext

18* Zu diesem Begriff vgl. Theodor Ickler: Die Disziplinierung der Sprache. Tübingen 1997.Zurück zum Haupttext

19* Punkt, Punkt, Komma, Strich. Leipzig 1984.Zurück zum Haupttext

20* Herberg, Dieter/Baudusch, Renate: Getrennt oder zusammen? Ratgeber zu einem schwierigen Rechtschreibkapitel. Leipzig 1989.Zurück zum Haupttext

21* Die Reformer gehen noch ein Schrittchen weiter (und vielleicht zu weit), indem sie dem adverbialen rechtens (geschehen) ein ebenfalls klein geschriebenes prädikatives rechtens (sein) hinzufügen.Zurück zum Haupttext

22* Ich habe ein solches Diktat erfunden, ein befreundeter Lehrer hat es getestet - und selbstverständlich die gewünschten Ergebnisse erzielt.Zurück zum Haupttext

23* Beispiele in „Regelungsgewalt“, Anhang zum Kapitel I.Zurück zum Haupttext

24* Handreichungen „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“. ISB München 1996, S. 30.Zurück zum Haupttext

25* Ebd. S. 41.Zurück zum Haupttext

26* weitgehend wird zunächst nach § 36 getrennt geschrieben, weil der erste Teil steigerbar ist: weit gehend. Wird er jedoch gesteigert, dann schreibt man ihn nach § 34(1) in Verbindung mit § 36 E1 zusammen: weitergehend ... Der Blick ins amtliche Wörterverzeichnis bringt keine Auflösung dieses Paradoxons, sondern erhöht die Verwirrung. Wie sich die Wörterbücher (einschl. Duden Bd. 9) aus der Affäre ziehen, ist ein sehenswertes Schauspiel. Die vom IDS ausgearbeiteten Popularisierungen in Beilagen von „Woche“ und „Hörzu“ sparen den ganzen Komplex wohlweislich aus.Zurück zum Haupttext

27* Ein hübsches Eigentor schossen die Bildungsverbände, als sie unter ihr bekanntes Flugblatt, in dem sich gegenüber der herkömmlichen Schreibung gar nichts geändert hatte, die provokative Zeile setzten: „Dieser Text wurde in neuer Rechtschreibung geschrieben. Probleme?“ - Man glaubte die neue Schreibung zu verteidigen - und lobte doch nur die „alte“!Zurück zum Haupttext

28* Schaeder in Augst et al. (Hg.) 1997, S. 203. Vgl. Deutsche Rechtschreibung: Vorschläge zu ihrer Neuregelung. Hg. vom Internationalen Arbeitskreis für Orthographie. Tübingen 1992, S. 146; sinngemäß ebenso schon in den Wiesbadener Empfehlungen von 1958. Weiteres in Zabel 1996.Zurück zum Haupttext

29* Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4/1997, S. 129. - Systematisch richtig und in Übereinstimmung mit einer verbreiteten Praxis wäre es zum Beispiel gewesen, die Zusammenschreibung von zuhause nicht nur für die Schweiz und Österreich zuzulassen, ebenso die seit langem gebräuchliche Schreibweise garnicht - beides „Fehler“-Quellen ersten Ranges.Zurück zum Haupttext

30* So auch die Gesellschaft für deutsche Sprache in ihrer (ohne Wissen und Billigung der Mitglieder) beim Bundesverfassungsgericht eingereichten Stellungnahme.Zurück zum Haupttext

31* Vgl. auch Hans Krieger: Rechtschreib-Schwindel. Sankt Goar 1998.Zurück zum Haupttext

32* „Praxis Deutsch“ 1995.Zurück zum Haupttext

33* Ein solcher Lösungsvorschlag wurde im November 1997 der KMK durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung unterbreitet (s. Anhang zu „Regelungsgewalt“, Kap. IV). Soweit mir bekannt, hat die KMK sich auf kein Gespräch darüber eingelassen.Zurück zum Haupttext

34* Mehrere von ihnen sind ja ausgeschieden, als sich diese Entwicklung abzeichnete, bis in die jüngste Zeit hinein.Zurück zum Haupttext

35* Dies ergaben telefonische Nachfragen bei mehreren beteiligten Verbänden sowie beim Sekretariat der KMK.Zurück zum Haupttext

36* Zu einer positiveren Bewertung dessen, was man als „Stimmungsdemokratie“ zu diffamieren pflegt, gelange ich in dem Aufsatz „Zur Semantik des politischen Schlagworts (und anderer Wörter)“. Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 65, 1990, S. 11-26.Zurück zum Haupttext

37* Gisela Schmirber (Hg.): Sprache im Gespräch. Hanns-Seidel-Stiftung München 199, S. 201.Zurück zum Haupttext

38* Während die Rechtschreibkommission und damit die Reformer selbst, aus denen sie sich größtenteils zusammensetzt, umfassende Änderungen für „unumgänglich notwendig“ hielt, befanden die Amtschefs, daß die Neuregelung „einer kritischen Überprüfung standhält“ und daher vorerst keine Änderungen erforderlich seien.Zurück zum Haupttext

39* Peter Eisenberg in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4/1997, S. 129. (Eisenberg war damals noch Mitglied der Rechtschreibkommission. Der Grund seines Austritts wird unmittelbar verständlich, wenn man die Pressemitteilung der KMK vom 12.2.1998 liest. Vgl. „Regelungsgewalt“, Kap. III.)Zurück zum Haupttext