Ablenkungsmanöver

Eine Replik auf
Gerhard Augst/Burkhard Schaeder: Rechtschreibreform - Eine Antwort an die Kritiker. Stuttgart 1997

von Theodor Ickler



I. Allgemeine Argumente für die Reform und Gegenargumente
1. Gründe für die Reform
2. Zum Verhältnis zwischen Schreibenden und Lesenden
3. Das Regelwerk als Kompromiss
4. Die neue „Kommission für Rechtschreibung“
5. Die Anwendung des Regelwerks in den Wörterbüchern
6. Die Dichter/Schriftsteller und die neue Rechtschreibung

II. Die einzelnen Gebiete der deutschen Rechtschreibung
1. Allgemeines
2. Das Stammprinzip
3. Getrennt- und Zusammenschreibung
4. Groß- und Kleinschreibung
5. Zeichensetzung
6. Worttrennung

III. Schlussbetrachtung

Abschließende Beurteilung



Die an den Schulen vieler Bundesländer vorzeitig eingeführte „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ konnte vor dem Urteil der Sprachwissenschaft nicht bestehen; sie gehört nach Ansicht eines berufenen Kritikers und Mitgliedes 1* der neuen Rechtschreibkommission „sprachwissenschaftlich auf den Müll“. Auch die meisten Schriftsteller und die Mehrheit der Bevölkerung lehnen die Reform ab. Dennoch beharren die deutschen Kultusminister auf der ohnehin überstürzten, darüber hinaus auch rechtlich fragwürdigen Durchführung der verfehlten Neuregelung. Um ihnen zu Hilfe zu kommen, veröffentlichte der Vorsitzende der neuen Reformkommission zusammen mit einem früheren Mitglied des für die Reform verantwortlichen Arbeitskreises im Sommer 1997 eine Verteidigungsschrift.

Obwohl ich diese Broschüre bereits Anfang September 1997 einer umfassenden Kritik unterzogen habe, die auch vielen verantwortlichen Politikern zur Kenntnis gebracht wurde, wurde sie von den Kultusministern noch Monate später als „Widerlegung“ der Reformgegner empfohlen und verbreitet. Das bayerische Kultusministerium beispielsweise erwarb 5500 Exemplare2* und verschickte sie am 6.10.1997 mit einem entsprechenden Begleitschreiben an alle bayerischen Schulen. In Hessen erhielt Ende November jede Schule zwei Exemplare.3* Auch das Institut für deutsche Sprache (IDS) bezeichnet sie in seiner Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht vom 10.11.1997 als eine überzeugende Widerlegung der „Hauptvorwürfe von Ickler und anderen Kritikern“.

Zur Beurteilung der Broschüre ist vorab interessant, was einer der besten Kenner der Orthographie und ihrer Reform, Horst H. Munske, dazu sagt:

„Während eine Arbeitsgruppe der Kommission an einer Revision arbeitet, wird an allen bayerischen Schulen eine Werbeschrift des Kommissionsvorsitzenden verteilt, in der sämtliche Groteskheiten (sc. der Getrennt- und Zusammenschreibung) wortreich verteidigt werden. Hier wird der verbiesterte Wille offenbar, nichts Wesentliches zu ändern, sondern allenfalls ein paar besonders anstößige Fehler wegzuinterpretieren.“4*

Es ist kein Geheimnis, daß diese Broschüre für Munske das Faß zum Überlaufen brachte: Er trat aus der Kommission aus, da er eine weitere Mitarbeit unter derart verzerrten Bedingungen nicht länger mit seiner wissenschaftlichen Ehre vereinbaren konnte.

Die „Bayerische Staatszeitung“ stellt zutreffend fest, die Schrift von Augst und Schaeder sei

„eines ganz gewiß nicht: eine ‚Antwort an die Kritiker‘. Denn auf keines der Kernargumente der Kritik läßt sie sich ernstlich ein (...). Das macht aber nicht viel, denn die Lehrer sind gescheit und werden sich schon ihren eigenen Reim machen. Aus der Tatsache, daß ihnen die ‚Antwort an die Kritiker‘ auf dem Dienstweg zugestellt wurde, wird man ja gewiß doch folgern dürfen, daß sie auf dem gleichen Weg auch mit den Argumenten der Reformkritiker bekannt gemacht worden sind.“ (31.10.1997)

Das ist natürlich nicht geschehen. Um so notwendiger scheint es, die Haltlosigkeit und Trickhaftigkeit der „Antwort“ aufzudecken.

Augst und Schaeder (im folgenden A&S) bedienen sich – um es zusammenfassend zu sagen – einer bewährten eristischen Technik:

• Man beweist umständlich etwas, was niemand bestritten hat.

• Man zitiert den Gegner so, daß er das Gegenteil von dem gesagt zu haben scheint, was er wirklich gesagt hat.

• Man redet wortreich über Nebensachen, bis der Leser vergessen hat, was eigentlich die Hauptsache war – die man tunlichst gar nicht erst erwähnt.

• Man übergeht die wesentlichen Gegenargumente mit Stillschweigen – in der Hoffnung, daß der unbefangene Leser sie nicht kennt.5*

• Man schiebt irgendwelche kleineren Versehen ohne näheren Nachweis pauschal „den Kritikern“ in die Schuhe und hat dann leichtes Spiel mit ihrer „Widerlegung“.

Die folgende Replik schließt sich der Gliederung und den Überschriften der Verteidigungsschrift an.

I. Allgemeine Argumente für die Reform und Gegenargumente

1. Gründe für die Reform

„Die heutige deutsche Rechtschreibung fußt auf einem Regelwerk, das 1901 erarbeitet wurde.“ (S. 4)

Diese Behauptung verschleiert die entscheidende Tatsache, daß 1901 keinerlei Neuerungen eingeführt, sondern lediglich einige wenige Varianten beseitigt und die leicht unterschiedlichen Schulorthographien (Preußens, Bayerns, Württembergs usw.) vereinheitlicht wurden.6*

Augst weiß dies selbstverständlich ganz genau, hat er doch selbst vor Jahren geschrieben:

„Es ist allgemein bekannt, daß diese Konferenz (von 1901) keine inhaltliche Reform zuwege bringt (bis auf die Auslassung des h, z.B. in Rath, That, theilen, Thon, Thor, Thür).“ (Muttersprache 1989, S. 231)

Inhaltlich ist die geltende Rechtschreibung also wesentlich älter und keineswegs das Produkt von Interventionen des Staates oder auch bestimmter Expertengruppen. Diese Feststellung ist darum von Bedeutung, weil aus Reformerkreisen oft argumentiert wird, was der Staat geschaffen habe, könne auch nur der Staat wieder ändern. Hieraus leitet man die „Regelungskompetenz“ des Staates ab, die von Kritikern der Reform jedoch unter Hinweis auf die Geschichte und auf die Praxis anderer Länder bestritten wird.

Mit dem Beschluß der Kultusminister von 1955, in Zweifelsfällen sei der Duden maßgeblich, „wurde die Spezialorthographie der Drucker, Setzer und Korrektoren zur verbindlichen Schreibung in den Schulen.“ (S. 4) – Diese suggestive Behauptung bezieht sich auf die Tatsache, daß der heutigen Duden auf die Vereinigung der Schulorthographie mit dem noch von Konrad Duden selbst entwickelten „Buchdruckerduden“ zurückgeht, sie läßt aber die Möglichkeit außer acht, daß eine solche Verfeinerung und Verdichtung des Regelwerks sowie die sehr weit gehende Beseitigung weiterer Varianten durchaus auf die Ansprüche der gesamten Sprachgemeinschaft geantwortet haben könnte. So „spezial“ ist die geltende Orthographie nämlich nicht. Der massenhafte Umgang mit dem geschriebenen und gedruckten Wort hat die Bedürfnisse des Druckgewerbes weithin zu allgemeinen Anforderungen an die Standardisierung der Schriftsprache werden lassen. Die gewiß ärgerliche Überbewertung der Rechtschreibleistung in der Schule steht auf einem anderen Blatt.7*

Die geltende Rechtschreibung ist ohne Zweifel kompliziert und läßt sich nicht im Handumdrehen erlernen. Das ist aber an sich noch kein Einwand; denn es könnte sich erweisen, daß die Regeln sowie Einzelwortschreibungen überwiegend ihren guten Sinn haben. Dann würde es sich um ein besonders fein ausgearbeitetes Instrument oder, anders ausgedrückt, um eine hochentwickelte Technik handeln, deren Beherrschung zwar nicht jedermann und schon gar nicht jedem Kind zugemutet werden kann, die aber auch nicht um der Anfänger willen aufgegeben werden darf. Die Ansprüche festzusetzen, die man an Schüler der verschiedenen Stufen zu stellen habe, ist eine pädagogische Aufgabe, und hier – aber nur hier – haben die Kultusminister mitzureden. Die Neuregelung jedoch ist nicht nur für die Schulen bestimmt, sondern soll – abgesehen vom Schriftverkehr der Behörden – ausdrücklich „Vorbildcharakter“ für jedermann haben. Fehlerpädagogische oder bildungspolitische Gesichtspunkte dürfen bei der Diskussion um die bestmögliche Gestaltung schriftlicher Texte keine Rolle spielen. Didaktik ist nachrangig, wie bei jeder Wissenschaft, Technik oder Kunst.

Die Autoren vertuschen diesen Zusammenhang, wenn sie schreiben:

„Wenn der Staat jedoch durch einen Erlass die richtige Schreibung für die Schulen festlegt, dann muss diese Regelung so gestaltet sein, dass Schreibende nach dem Ende der allgemeinen Schulpflicht in der Lage sind, diese Norm befolgen zu können.“ (S. 4)

Die Voraussetzung trifft eben nicht zu: Es handelt sich keineswegs um eine Rechtschreibung „für die Schulen“, sondern ebenso um eine Rechtschreibung für den amtlichen Schriftverkehr, für Gesetzestexte usw. und – wie im Regelwerk ausdrücklich beansprucht – für jedermann, auch wenn der Staat nicht jedermann zwingen kann, sie zu befolgen. Daran ist sie zu messen, nicht an der Lernbarkeit für Schüler. Es ist ein bloßer Taschenspielertrick, die Neuregelung einzig und allein der Schule zuzuweisen, als ob es zwischen der „Spezialorthographie“ des Druckgewerbes und den bescheidenen Ansprüchen Schulpflichtiger weiter nichts gäbe. Dieses Vorgehen stimmt einerseits mit der Gewohnheit des führenden Reformers Augst überein, sich rhetorisch als Anwalt der Kinder und der kleinen Leute aufzuspielen, es erklärt andererseits den Widerstand anspruchsvollerer „Sprachteilhaber“, darunter aller namhaften Schriftsteller. (Daß die versprochene Vereinfachung nicht einmal erreicht wird, kommt noch hinzu.)

Die geltende Rechtschreibung mag gewisse Schwächen haben, wo sie sich willkürliche Einzelfestlegungen und auch ein paar allzu fein gesponnene Regeln und Ausnahmen erlaubt. Über deren Umfang und über Möglichkeiten einer Bereinigung läßt sich reden (vgl. Verf.: „Ein Weg aus der Rechtschreibkrise“). Oft steht auch weniger der Gehalt der Regeln als ihre Darbietungsweise sowie die Selbstinterpretation im Wörterverzeichnis des Duden zur Diskussion. In diesem Zusammenhang muß jedoch zweierlei gesagt werden:

Erstens genügt es nicht, an ein verbreitetes Vorurteil über die angeblich auch von Gebildeten nicht beherrschbare Dudenorthographie zu appellieren. Man „beherrscht“ die Rechtschreibung nicht erst dann, wenn man jedes gehörte Wort ohne Nachschlagen dudenkonform schreiben kann. Das wäre allenfalls bei einer reinen Lautschrift möglich, nicht aber in einer ganz anders gearteten Schreibtechnik wie der deutschen, englischen und französischen.

Zweitens ändert die Reform an den allermeisten Schwierigkeiten der deutschen Rechtschreibung gar nichts; sie berührt schon vom Umfang her nur einen winzigen Teil der Wortschreibungen.8* Ein Blick in Schüleraufsätze zeigt, daß die unendlich vielen Möglichkeiten, Fehler zu machen, größtenteils erhalten bleiben und sogar neue eröffnet werden. Wo es jedoch neuerdings „nicht mehr darauf ankommt“, wie beim Komma in gewissen – keineswegs allen! – Zusammenhängen, da tritt eine Vergröberung und Verschlechterung auf Kosten des Lesers ein, die dennoch nicht einmal dem Schreibenden eine Erleichterung bringt, da er wiederum lernen muß, an welchen Stellen er jetzt mehr „Freiheit“ genießt und an welchen nicht.

Der Traum von einer „Rechtschreibung für alle“ ist auf der Grundlage der im Deutschen akzeptierten, von der Reform grundsätzlich auch nicht angetasteten prinzipiellen Orientierung nicht erfüllbar. A&S schreiben zwar: „Rechtschreibung ist keine Kunstübung.“ Aber genau dies ist sie und soll sie nach der Reform auch bleiben. Durch ständiges Anprangern der komplizierten Dudennorm bei gleichzeitigem Anpreisen der Neuregelung wird suggeriert, die Neuregelung sei einfacher. Das ist nachweislich nicht der Fall. Die „Grundregeln“ sind auch bei der bisherigen Regelung einfach zu verstehen und zu erlernen, und am Detail und den Randbereichen ändert sich, was die Kompliziertheit angeht, überhaupt nichts. Ein Blick in das neue Paragraphendickicht genügt, um sich davon zu überzeugen. Leider geben die vereinfachten Popularisierungen, die A&S selbst sowie andere Reformer ausgearbeitet und massenhaft verbreitet haben, ein völlig falsches Bild. Die Reformer Gallmann und Sitta stellen mit Recht fest, daß auch die neue Rechtschreibung nicht in wenigen Jahren zu erlernen, sondern ein Pensum für die gesamte Schulzeit sei.9* Dieselben Autoren haben auch offen ausgesprochen, daß zahllose Ausnahmen und Ausnahmen von Ausnahmen nunmehr als „Erläuterungen“ getarnt auftreten.

Mit der vielgerühmten Einfachheit der ursprünglichen Dudenregeln von 1902 (S. 4) ist es auch nicht weit her. Sie beruht zum Teil darauf, daß gewisse notorisch komplizierte Bereiche wie die Getrennt- und Zusammenschreibung und die Zeichensetzung kaum oder gar nicht geregelt wurden, während gerade die Neuregelung darauf außerordentlich detailliert eingeht. Es ist unzulässig, ständig die gute alte Zeit zu beschwören und gegen die moderne Unübersichtlichkeit auszuspielen.

Um die staatliche Regelungskompetenz zu untermauern, stellen A&S fest:

„Aufbauend auf Spontanschreibungen wird die Rechtschreibung bewusst und systematisch in der Schule gelernt.“ (S. 6; vgl. ähnliche Aussagen im „Bericht“ der Rechtschreibkommission vom Dezember 1997)

Das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Wie in allen seinen übrigen Schriften vergißt Augst das Lesen als weitaus wichtigste Quelle von Rechtschreibkompetenz. Beim Lesen wird das Regelhafte der Orthographie intuitiv erfaßt. Das ist nur möglich, wenn die Orthographie den tatsächlichen Intuitionen der Sprachgemeinschaft folgt. Die Neuregelung verstößt in zentralen Bereichen gegen diese Intuitionen, weshalb manche neue Regel zwar leicht vermittelt, aber nur schwer befolgt werden kann (vgl. Günther 1997, S. 13).

Es trifft zu, daß der Staat bei uns in die Rechtschreibung „regulierend eingreift“, nämlich durch die „Beleihung“ des Duden mit dem bekannten Privileg (S. 6).10* A&S können aber nicht begründen, daß das für alle Ewigkeit so bleiben muß. Auch das von den Reformern immer wieder hergestellte Junktim zwischen Aufhebung des Dudenprivilegs und Rechtschreibreform plus Verstaatlichung der Orthographie besteht in Wirklichkeit nicht. Heute mehren sich die Stimmen, die eine Entstaatlichung der Orthographie und den ersatzlosen Wegfall der „Kommission für Rechtschreibung“ fordern. Die gerade durch die Reform ramponierte Einheit der deutschen Rechtschreibung wäre dadurch nicht gefährdet, im Gegenteil (vgl. Verf.: „Ein Weg aus der Rechtschreibkrise“).

2. Zum Verhältnis zwischen Schreibenden und Lesenden

Die deutsche Rechtschreibung hat sich, wie besonders Horst H. Munske betont, im Laufe der Jahrhunderte zu immer größerer Leserfreundlichkeit entwickelt. Dies anzuerkennen bedeutet entgegen A&S nicht, „jede bislang gültige Regel oder Ausnahme“ (S. 6) zu rechtfertigen. Die Leserfreundlichkeit besteht ja nicht darin, sämtlichen Gewohnheiten des Lesers um ihrer selbst willen entgegenzukommen, sondern darin, das Geschriebene so zu gestalten, daß der Inhalt einer Mitteilung möglichst direkt zu erkennen ist. Gerade das von der Reform so hoch gehaltene „Stammprinzip“ ist das beste Beispiel für diese Leserorientierung. Man schreibt nie um des Aufzeichnens willen, sondern immer, um gelesen zu werden. Schreiben und Lesen sind daher nicht symmetrisch zu gewichten. Das ist der Sinn der Parole „Alles für den Leser!“ Auch der Rechtschreibunterricht fährt am besten, wenn man den Lernenden stets darauf hinweist, wie das Geschriebene beim Lesen wirkt.

Daß die Maxime „Alles für den Leser“ zu einer konsequenten Unterscheidungsschreibung gleichlautender Wörter führen müsse (S. 7), ist eine allzu billige Unterstellung. Vielleicht würde man auf diese – sozusagen „chinesische“ – Lösung verfallen, wenn es darum ginge, eine Schreibung des Deutschen allererst zu entwerfen. In Wirklichkeit besitzen wir aber doch seit langem eine allgemein anerkannte Rechtschreibung, und der bloße Bestand hat in solchen Dingen sein Eigengewicht, da die Kontinuität der Überlieferung zu den wesentlichsten Zielen einer jeden Schrift gehört. Das bezweifeln auch die Reformer weder theoretisch noch durch ihre Reformpraxis, die erklärtermaßen das gewohnte Schriftbild nicht zu sehr verändern soll (Stichwort „Behutsamkeit“). Die Änderungen müssen gerechtfertigt werden, nicht das allgemein Übliche. Es ist absurd, daraus den Vorwurf abzuleiten, „die“ Kritiker verteidigten „fast jede Nuance, die in der deutschen Rechtschreibung existiert“. Der Bestand der sogenannten „Konvention“ braucht an sich überhaupt nicht verteidigt zu werden, da er die Macht des Faktischen für sich hat und in diesem Falle den Willen von Millionen Menschen verkörpert, die in Jahrhunderten gerade diese und keine andere Lösung von Problemen der schriftlichen Kommunikation gefunden haben. Die Reformer müßten jede Neuerung sorgfältig begründen. Da sie das nicht können, schieben sie kurzerhand die Beweislast den Verteidigern des Bestehenden zu:

„Bei jeder Konvention der Rechtschreibung (ist) danach zu fragen, was sie vom Schreibenden verlangt und was sie dem Lesenden bringt.“ (S. 7)11*

Darin klingt der konstruktivistische Geist der frühen siebziger Jahre nach, als mancher glaubte, man könne alles und jedes hinterfragen und die Gesellschaft gleichsam von Grund auf neu entwerfen. Das Pathos des radikalen Neubeginns wird freilich an der unübersehbaren Kümmerlichkeit der übriggebliebenen Reformreste zuschanden.

3. Das Regelwerk als Kompromiss

„Viele Kritiker müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass ihre Kritik reichlich spät kommt.“ (S. 8)

Dazu ist zu sagen: Selbst diejenige Kritik, die erst 1996, nach dem Erscheinen der endgültigen Fassung des Regelwerks und der ersten Wörterbücher einsetzte, kam nicht zu spät, wenn doch das Inkrafttreten erst für den 1.8.1998 angekündigt war.12* Vielmehr sollten durch die sofortige und damit um volle zwei Jahre vorgezogene Einführung der Reform vollendete Tatsachen geschaffen werden: neue Gewohnheiten, zahllose neue Bücher, riesige finanzielle Aufwendungen, hinter die zurückzugehen als untunlich erscheinen sollte. Auch Horst H. Munske, seinerzeit Mitglied des Arbeitskreises, beklagt, daß anstelle einer Erprobung während der Vorlaufphase sogleich mit dem „unvermittelten Praxistest“ begonnen wurde. Aus der Sicht des Jahres 1997 spricht er von einer „Überrumpelungsaktion“.13*

Der Reformentwurf von 1992 – nur dieser war Gegenstand einer Anhörung – ist keineswegs „fast identisch“ (S. 8) mit dem jetzt diskutierten von 1996, sondern weicht in einer großen Zahl von Fällen davon ab, wie inzwischen in Synopsen von Christian Stetter und von mir selbst14* gezeigt worden ist. Bei der Anhörung im Jahre 1993 haben Sprachwissenschaftler auch bemängelt, daß das Reformwerk noch ohne das angekündigte Wörterverzeichnis zur Diskussion gestellt wurde. Von einem „vollständigen Vorschlag“, der laut A&S im Jahre 1992 veröffentlicht worden sei (S. 9), kann also keine Rede sein, denn eine Neuregelung ohne Wörterverzeichnis ist nicht vollständig. Es gibt gute Gründe für die These, daß das Wörterverzeichnis der Kern der Orthographie ist. Das Regelwerk ist gewissermaßen die nie abschließbare Theorie dazu.

Wenn die linguistische Kritik sich lange Zeit eher zurückgehalten hat, so liegt das u. a. daran, daß nach jahrzehntelanger Bastelei kaum noch jemand an eine Reform glaubte. Auch war der Kreis der Orthographiespezialisten stets klein und zu einem großen Teil selbst in die Reformvorbereitungen verstrickt, also befangen. Allerdings trifft zu, daß große Teile der deutschen Sprachwissenschaft auf die Neuregelung mit betretenem Schweigen und rücksichtsvollem Wegsehen reagiert haben.

Die millionenfach15* verbreiteten Kurzdarstellungen geben ein ganz unvollständiges Bild der geplanten Neuregelungen. Sie dienen der Werbung, nicht der Information. Wer die Kurzfassung von K. Heller im „Sprachreport“ oder die Dudenbroschüre vom Dezember 1994 liest, kann nicht im entferntesten ahnen, welche Komplikationen beispielsweise die neue Kommasetzung bereithält. Seit wir über eine genaue Analyse der Regeln verfügen, muten jene Kurzfassungen geradezu wie bewußte Irreführungen an. Das Studium des Originalregelwerks bedeutet lange und harte Arbeit, auch und gerade für Sprachwissenschaftler, die abschätzen können, welche Folgen das Regelwerk für die gesamte Sprache hat.

Ferner ist darauf hinzuweisen, daß die wissenschaftliche Kritik, die etwa 1995 von Peter Eisenberg (in Zeitschriften), von Wolfgang Kopke (in seiner Dissertation) oder auch von mir selbst (in Zuschriften an die Reformer und an Kultusministerien) vorgetragen worden ist, keinerlei Berücksichtigung gefunden hat.16*

4. Die neue „Kommission für Rechtschreibung“

„In Wien wurde vereinbart, eine neue Kommission für alle deutschsprachigen Staaten einzurichten, welche die Aufgaben übernehmen soll, die von 1955 bis 1996 der Duden hatte.“ (S. 10; s. auch Erklärung der KMK vom 27.2.1997)

Wenn dies die Aufgabe sein sollte, die der Kommission in Wien zugewiesen wurde, dann muß es in einem geheimen Zusatzprotokoll geschehen sein, denn in der Wiener Absichtserklärung vom 1. Juli 1996 steht etwas ganz anderes:

„Die zuständigen staatlichen Stellen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz werden Experten in eine Kommission für die deutsche Rechtschreibung entsenden, deren Geschäftsstelle beim Institut für deutsche Sprache in Mannheim eingerichtet wird.

Die Kommission wirkt auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Sprachraum hin. Sie begleitet die Einführung der Neuregelung und beobachtet die künftige Sprachentwicklung. Soweit erforderlich erarbeitet sie Vorschläge zur Anpassung des Regelwerks.“

Die Dudenredaktion hat bekanntlich in erster Linie ein Rechtschreibwörterbuch herausgegeben. Sollte dies die Aufgabe der neuen Kommission sein, eines nur gelegentlich tagenden Gremiums überwiegend von Hochschullehrern, die gar keine praktischen Lexikographen sind? Eine abenteuerliche Vorstellung.

Es ist interessant, wie die Aufgaben der Kommission von A&S weiterhin beschrieben werden. Sie solle, wie es heute heißt, in der Wiener Absichtserklärung aber keineswegs geheißen hatte, „falls erforderlich, auch Korrekturen“ am Regelwerk vornehmen.

Aus dem Wortlaut der Absichtserklärung ergibt sich jedoch, daß Anpassungen an die künftige Sprachentwicklung ins Auge gefaßt sind, nicht aber Korrekturen unter dem Eindruck der Kritik.17* Daß Kritik nicht mehr erwünscht, der „Entscheidungsprozeß“ vielmehr abgeschlossen sei, ist seither von den Reformern und besonders ihren politischen Auftraggebern vielfach betont worden. (Vgl. etwa die „Dresdner Erklärung“ der Kultusminister vom 25. Oktober 1996, eine wütende Antwort auf die „Frankfurter Erklärung“.)

Im übrigen erscheint die Beerbung der Dudenredaktion durch eine staatlich beauftragte Kommission, in der die Reformer selbst den Ton angeben, mehr und mehr als Hauptzweck der gesamten neueren Reformbewegung.18* A&S fassen nun tatsächlich als nächste (in der Wiener Absichtserklärung noch nicht erwogene und auch danach lange Zeit nie erwähnte) Aufgabe der Kommission die Abfassung eines Rechtschreibwörterbuchs ins Auge (S. 11). Die Kommission betreibt ihre eigene Aufwertung und Verewigung. Selbstverständlich braucht sie für die lexikographische Arbeit auch Personal, Räumlichkeiten, Geld ...

5. Die Anwendung des Regelwerks in den Wörterbüchern

Die Zahl der Abweichungen zwischen den Wörterbüchern läßt sich nicht objektiv bestimmen, da unterschiedliche Zählweisen möglich sind. Fest steht, daß es sehr viele Abweichungen gibt. Zum Teil liegen sie an der außerordentlichen Fehlerhaftigkeit des Bertelsmann-Wörterbuchs in dessen erster Ausgabe. Die Zahl von 8000 Abweichungen ist aus dem Kreise der Reformkommission selbst genannt und mehrfach bestätigt worden.19* Augst selbst gab bekannt, daß eine Stichprobe beim Buchstaben F rund 35 Zweifelsfälle ergeben habe. Das bedeutet rund 1000 klärungsbedürftige Zweifelsfälle im gesamten Wortschatz.

Die Abweichungen und die fehlerhaften Auslegungen auch dort, wo die Wörterbücher inzwischen übereinstimmen (z. B. bei getrennt geschriebenem wieder sehen) deuten zumindest darauf hin, daß das Regelwerk es an Eindeutigkeit fehlen läßt. Das ist bedenklich genug und verweist noch einmal auf die Notwendigkeit eines Probelaufs und einer gründlichen Diskussion vor der Einführung in die Schulen.

Selbstverständlich gab es auch bisher Abweichungen zwischen den Rechtschreibwörterbüchern. Allerdings war nur der Duden verbindlich; alles andere, soweit substantiell abweichend, war schlicht falsch. Das ist jetzt grundsätzlich anders. A&S übergehen diesen entscheidenden Unterschied.

6. Die Dichter/Schriftsteller und die neue Rechtschreibung

A&S begrüßen zunächst die zu erwartende Vielfalt der nebeneinander bestehenden Rechtschreibungen. Die Schüler könnten daran lernen, daß Rechtschreibung nichts Unveränderliches sei (S. 12). Die pädagogische Bewertung dieses Lobes der Vielfalt überlasse ich anderen. Der Glaube an die heilsame Kraft des Chaos wird sicher nicht von jedermann geteilt. Bisher galt die Einheitlichkeit der Rechtschreibung als hoher Wert und die Beseitigung von Varianten geradezu als Gütesiegel. Sie war der eigentliche Inhalt der sogenannten „Reform“ zu Beginn des Jahrhunderts (die eben deshalb auch keine wirkliche Reform war).

Daß die Schriftsteller ohnehin schreiben, wie sie wollen, ist natürlich in dieser Allgemeinheit unzutreffend. Manche Erzähler kennzeichnen die wörtliche Rede nicht durch Anführungszeichen, andere haben spezielle Normen, z. B. radikale Kleinschreibung entwickelt, aber im großen und ganzen ist die Schreibweise der meisten Schriftsteller entweder dudenkonform oder weicht nur in Einzelzügen systematisch davon ab, setzt also die Norm gerade voraus. Das Bild reiner Willkür, das manche Kultusminister vom Schreiben der Schriftsteller entwerfen, entspricht vielleicht dem ebenfalls gern beschworenen Begriff dichterischer Narrenfreiheit, aber nicht der Wirklichkeit.20*

Gegen die seit je übliche orthographische Anpassung literarischer Texte ist nicht viel einzuwenden. Der Skandal, den A&S gar nicht erwähnen, besteht darin, daß in neuesten Schulbüchern nicht nur gleichgültige Veränderungen wie früher (seyn, Thür usw.) vorgenommen wurden, sondern in Texten von Thomas Mann, Christa Wolf u.v.a. jeweils die unterste Stufe der Anforderungen, die man nach der Neuregelung an Schüler stellen darf, gewählt wurde: Viele Kommas, die nicht mehr stehen müssen, wurden tatsächlich gestrichen. Ferner wurden die von der Neuregelung vorgeschriebenen Getrenntschreibungen eingeführt und damit Differenzierungsmöglichkeiten aufgehoben, mit denen die Autoren noch gearbeitet haben. Das letzte Wort in dieser Affäre werden wohl die Juristen haben, doch wäre eine Stellungnahme der Reformer von allgemeinerem Interesse.

II. Die einzelnen Gebiete der deutschen Rechtschreibung

1. Allgemeines

Die Feststellung, daß die deutsche Schreibung keine Lautschrift sei, sondern „wesentlich mehr Informationen an die Lesenden“ liefere (S. 14), war gerade der Ausgangspunkt meiner Kritik. Leider ziehen A&S daraus keine weiteren Konsequenzen außer bei der zweifelhaften Ausweitung des sog. „Stammprinzips“.

2. Das Stammprinzip

„Die Reform schafft den Wechsel von ss - ß beim selben Wort ab zugunsten des Stammprinzips.“

Das ist falsch. Die ss-Schreibung ist nach der Neuregelung grundsätzlich durch die Kürze und Betontheit des vorhergehenden Vokals bestimmt. Daß dabei oft zugleich der Stamm optisch bewahrt bleibt, ist eine zufällige Begleiterscheinung. Die naheliegenden Gegenbeispiele tun A&S mit der seltsamen Phrase ab:

„Natürlich (!) bleibt der Wechsel von ss und ß dann erhalten, wenn die Vokallänge in einem Wort wechselt, z. B. schließen - schloss - geschlossen.“ (S. 15)

Aber das Stammprinzip besteht gerade darin, daß trotz einer lautlichen Alternation die Schreibweise gleich bleibt (wie zum Beispiel bei der Auslautverhärtung: Kind - Kinder)! So aber drücken A&S nur das noch einmal aus, was die Kritik eingewandt hat: daß nämlich die s-Schreibung nicht vom Stammprinzip, sondern vom Lautstand determiniert ist.21* Allenfalls für die Schreibweise der Konjugationsformen hasst, musst usw. könnte man das Stammprinzip verantwortlich machen, jedoch nur im Sinne der oberflächlichen Gestaltgleichheit; denn hier war auch bisher schon – wenn man ß als positionsbedingte Ligatur ansieht – das Stammprinzip berücksichtigt, sonst hätte man gemäß der Grundregel hast, must schreiben müssen. Dabei wäre die Kürze des Vokals nicht gesichert, denn das t gehört ja nicht zum Wortstamm im Sinne von 1.2 der Neuregelung.

Denselben Fehler mit umgekehrtem Vorzeichen begehen A&S, wenn sie meinen, plazieren verstoße wegen des kurzen Vokals gegen die reguläre Verschriftung, die platzieren erwarten lasse (S. 16). Da der Vokal zwar kurz, aber nicht betont ist, stellt vielmehr gerade platzieren einen Verstoß dar, der nur durch das Stammprinzip, d. h. durch Ableitung (hier: Neuableitung) vom regulär geschriebenen Wort Platz gerechtfertigt werden kann. Gleich im nächsten Absatz, bei nummerieren, erkennen sie diesen Einwand an. (Zu kritisieren ist wiederum, daß numerieren trotz Numerus usw. anscheinend überhaupt nicht mehr zulässig sein soll. Das vom Duden längst anerkannte nummerisch wird laut Wörterverzeichnis nicht mehr zugelassen, hier ist die Relatinisierung numerisch verbindlich! Der neue Duden hat allerdings die Eindeutschung auf eigene Faust gerettet.)

Die langatmige Begründung, warum nunmehr platzieren zu schreiben sei, ist auch darum deplaciert bzw. deplaziert, weil es ebendieses Wort gibt: Das Fremdpräfix de- wird üblicherweise nicht mit deutschen Verbstämmen verbunden. Außerdem sprechen viele Menschen, wie die Wörterbücher mit Recht vermerken, deplaciert immer noch mit stimmlosem s und nicht mit z aus; folglich muß es deplacieren, deplaciert weiterhin geben. – Die Reformer haben, wie so oft, die Folgen ihrer punktuellen Eingriffe für den gesamten übrigen Wortschatz übersehen.

Die gültige s-Schreibung war bei richtiger Didaktik nicht schwer zu erlernen. Die wirkliche Schwierigkeit liegt, zumindest für einige Schüler, bei der grammatischen Unterscheidung von das und daß. Den überaus gewichtigen Einwand, daß diese Fehlerquelle in Gestalt von das und dass erhalten bleibt, tun A&S mit dem Hinweis auf die Nichtdurchsetzbarkeit ihres Vorschlages von 1992 ab, die Unterscheidungsschreibung überhaupt zugunsten der Einheitsschreibung das aufzugeben. Munske (1997) hat gezeigt, wie tief diese Unterscheidung in der deutschen Sprachgeschichte und im intuitiv geschaffenen System der deutschen Rechtschreibung verwurzelt ist.

Im Folgenden verteidigt Augst die vor allem von ihm selbst durchgesetzte etymologische und pseudoetymologische Neuschreibung einiger weniger Wörter. Die Kritik hat nicht nur die objektive Unrichtigkeit der volksetymologischen Schreibungen bemängelt, sondern vor allem das Unternehmen, solche Volksetymologien nicht dem „Volk“ abzulauschen, sondern am akademischen Schreibtisch zu erfinden und dann als einzig zulässige vorzuschreiben, zum Beispiel einbläuen, Quäntchen oder Zierrat. A&S zitieren das etymologische Wörterbuch: Vor allem das Partizip belemmert werde „häufig“ an Lamm angeschlossen und dann belämmert geschrieben. Das ist richtig, aber warum wollen die sonst so variantenfreudigen Reformer die traditionelle Schreibweise überhaupt nicht mehr zulassen?22* Warum soll auch derjenige, der in Zierat keineswegs einen „Rat“ sieht, dennoch gezwungen werden, Zierrat zu schreiben? Und wer schreibt überhaupt ein solches Wort, wenn nicht der Kunsthistoriker, der ohnehin Bescheid weiß? Außerdem ist kritisiert worden, daß diese eigentlich nur punktuell (an einem halben Dutzend Stämmen) durchgeführten Neuschreibungen als neue Regel verkleidet auftreten. Derselbe Einwand gilt für die sprachgeschichtlich „richtigen“, aber ohne Notwendigkeit wiederbelebten etymologischen Beziehungen etwa im Falle von Stängel oder behände. Handelte es sich wirklich um eine produktive Regel, so könnte niemand daran gehindert werden, in Zukunft Spängler zu schreiben (wegen Spange), denn diese Schreibweise genügt § 13 („Für kurzes [e] schreibt man ä statt e, wenn es eine Grundform mit a gibt.“). Natürlich gehen die Reformer auch nicht auf die Frage ein, wie der undefinierte Begriff der „Grundform“ zu verstehen sei und warum es – gerade für den vielbeschworenen „normalen Sprachteilhaber“ – nicht zulässig sein sollte, märken (wegen Marke), sätzen (wegen Satz), käntern (wegen Kante) usw. zu schreiben.

Die Erwägung, wie „die normalen Sprachteilhaber heute die Wörter zu Wortfamilien zusammenstellen“ (S. 16), führt grundsätzlich ins Uferlose, da man solche Verknüpfungen wohl kaum durch Umfragen ermitteln und dann die Rechtschreibung nach den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen einrichten kann. Es gab und gibt keinen Handlungsbedarf, die Schreibweise einiger weniger, noch dazu äußerst selten geschriebener Wörter wie behende oder Zierat abzuändern. (Übrigens: Welcher normale Sprachteilhaber hat je bei Stengel an Stange gedacht, und wer kann sich bei behende einen Bezug auf Hand zusammenreimen? – Ich übergehe den Lapsus von A&S, behende als Beispiel dafür zu benutzen, wie die Wörter nicht historisch-etymologisch, sondern nach heutigem Empfinden zusammenhängen.)

A&S schreiben:

„Die Etymologie als sprachlich und kulturell spannendes Phänomen verkommt zur Bildungsdemonstration, wenn sie dazu herhalten muss, Ausnahmen in der Rechtschreibung zu legitimieren.“ (S. 16)

Dasselbe läßt sich aber sagen, wenn sie dazu herhalten muß, tote Zusammenhänge künstlich wiederzubeleben wie eben bei behende/behände, Stengel/Stängel oder Wächte/Wechte.

Von den „drei Buchstaben an der Wortfuge“ hat besonders Augst viel Aufhebens gemacht. Die 10 Regeln, die er dazu im Duden gefunden haben will, beruhen auf Zählkunststücken, denen man nicht folgen muß. Hielte man sich nach diesem Vorbild bei der Untersuchung des gesamten neuen Regelwerks nicht an die offene Numerierung, sondern an die tatsächlich darin versteckten Regeln, so käme man (wie Werner H. Veith nachgewiesen hat) auf mehr als tausend. Das ist weitgehend eine bloße Frage der Darbietungsform. Da, wie A&S selbst vermerken, „nur wenige Wörter mit drei gleichen Buchstaben“ vorkommen, weiß man nicht, warum sich die Autoren so sehr über die große Zahl der darauf bezüglichen Dudenregeln ereifern. Regeln, die praktisch keinen nennenswerten Anwendungsbereich haben, könnte man doch auf sich beruhen bzw. eine Angelegenheit des Druckgewerbes bleiben lassen. Der Duden sorgt eben, da er nicht nur die Schule im Blick hat, für alles vor; die Auswahl ist Sache der Pädagogen.23*

Da sich an der Fremdwortschreibung entgegen den ursprünglichen Plänen kaum etwas ändert, braucht hier nicht tiefer darauf eingegangen zu werden. Die langatmige Beweisführung, daß schon immer Eindeutschungen stattfanden, ist überflüssig; niemand hat es bezweifelt. Zu kritisieren bleibt die Willkür, mit der die Integration fremder Bestandteile vorgenommen und einmal die fremde, einmal die eingedeutschte Form als Hauptvariante vorgeschlagen wird. A&S gehen darauf nicht ein. Statt, wie sie es zu tun behaupten, der tatsächlichen Sprachentwicklung zu folgen, erfinden die Reformer Neuschreibungen, die noch nie jemand gebraucht hat, z. B. Tunfisch, Spagetti, passee. Abbé und Attaché hingegen lassen sie unverändert, obwohl nun Abbee, Attachee geschrieben werden sollte (wie Lamee). – Willkür, wohin man blickt!

Es ist darauf hingewiesen worden, daß die neue Großschreibung von substantivischen Bestandteilen entlehnter mehrteiliger Ausdrücke (Alma Mater, Venia Legendi, Angina Pectoris, Herpes Zoster) eine Fremdsprachenkenntnis voraussetzt, von der die Reformer zum Beispiel bei der Silbentrennung gerade nichts wissen wollen. Wer kennt denn schon die Wortart in Sprachen, die kaum noch gelernt werden? Obohl hier auch die neuen Wörterbücher offenkundig ihre Probleme haben, gehen A&S darauf nicht ein. (Im „Bericht“ der Kommission vom Dezember 1997 wird fälschlicherweise behauptet, die Neuregelung lasse auch die bisherige Kleinschreibung nichterster substantivischer Bestandteile zu, und nur die Wörterbuchredaktionen hätten auf eigene Faust die Großschreibung als zwingend angenommen. Zur Widerlegung vgl. meine „Stellungnahme“ zu diesem Bericht. Die Endfassung des Berichts nimmt den Vorwurf an die Wörterbücher denn auch zurück, führt aber vollkommen willkürlich den Begriff des „partiellen Zitatworts“ ein, der in der Neuregelung keine Grundlage hat und lediglich über deren Verfehltheit hinwegtäuschen soll.)

Warum wird das Adjektiv in englischen Wortverbindungen wie Black Box groß geschrieben, in deutschen wie schwarzes Brett aber neuerdings nur noch klein? Die wirkliche Sprachentwicklung geht hier ja, wie gerade die Forschungen zur Vorbereitung der Reform überzeugend nachgewiesen haben, zu vermehrter Großschreibung: Schneller Brüter usw., entgegen der Dudenregelung. A&S lassen diesen Einwand ihrer Kollegen außer acht.

3. Getrennt- und Zusammenschreibung

A&S stellen mit Recht fest, daß Verstöße gegen die geltende Getrennt- und Zusammenschreibung oft nicht einmal bemerkt werden. Dann behaupten sie: „Durch die neuerliche Diskussion werden im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung Probleme heraufbeschworen, die es in der alltäglichen Schreib- und Lesepraxis nicht gibt.“ – Aber wenn es keine praktischen Probleme gibt, dann ist unverständlich, warum die Reform gerade auf diesem Gebiet die durchgreifendsten Veränderungen vorgenommen hat! Fälle wie händchenhaltend, staatenbildend usw. sollen auf einmal keine Rolle mehr spielen, weil sie selten vorkommen, und doch wurden Rat suchend, Eisen verarbeitend usw. ständig als Prunkstücke einer besonders „konsequenten“ Reform vorgeführt. Und außerdem: Mögen „problematische Fälle“ wie das bei weitem tief Schürfendste (so die Neuschreibung) in Texten auch eher selten vorkommen, so sind sie doch als solche ein vernichtendes Zeugnis der reformerischen Inkompetenz. Davon möchte Schaeder offenbar ablenken, indem er die Problemfälle herunterspielt. (Der „Bericht“ vom Dezember 1997 gibt hier auf der ganzen Linie nach, erkennt also die Bedenken als berechtigt an. Treibende Kraft war Kommissionsmitglied Peter Eisenberg, der gerade die Beseitigung solcher Komposita aus dem deutschen Wortschatz scharf angeprangert hat – allerdings letztlich doch ohne Erfolg: Aufgrund der ministeriellen Zurückweisung aller Korrekturen bleiben diese Wörter – zweifellos eine vierstellige Zahl – auch in Zukunft verbannt.)

A&S stellen fest, daß „die weit überwiegende Mehrzahl der Fälle keine Probleme bereitet: eine fremde Sprache – eine Fremdsprache“ (usw.). – Was sind das überhaupt für „Fälle“, und warum werden sie trotz ihrer offenkundigen Irrelevanz für die „Schwierigkeiten der Getrennt- und Zusammenschreibung“ erwähnt? Schon im amtlichen Regelwerk werden seitenlang „Fälle“ behandelt, die noch nie ein orthographisches Problem aufgeworfen haben: sonnenarm, Feuerstein usw. Diese Ablenkung auf völlig Irrelevantes bei gleichzeitigem Versagen vor den wirklichen Problemen setzen A&S hier fort.

Die Auflistung „fälschlicher“ Zusammen- und Getrenntschreibungen gibt Anlaß zu folgender Bemerkung: Der Duden hat hier – vielleicht, um sich unentbehrlich zu machen – oft den Eindruck zu erwecken versucht, es sei alles falsch, was nicht ausdrücklich im Wörterbuch steht. Die Dudenregeln selbst sind jedoch zu einem großen Teil als Kann-Bestimmungen bzw. als vage statistische Aussagen über den Sprachgebrauch zu lesen. („Man schreibt ...“, „gewöhnlich“, „in der Regel“ sind ungemein häufige Floskeln.) Es ist bisher nicht gelungen, das Prinzip (oder die Prinzipien) der Zusammenschreibung von Verben mit gewissen Verbzusätzen befriedigend zu erfassen.24* In vielen Fällen hat der Duden ersatzweise die Unterscheidung von wörtlicher und übertragener Bedeutung herangezogen. Das ist mit Recht kritisiert worden, nicht nur von den Reformern. Allerdings nimmt das Duden-Regelwerk anders als das Wörterverzeichnis und im Widerspruch zu der Darstellung bei A&S (S. 24) gerade nicht auf die übertragene Bedeutung Bezug, sondern auf das Entstehen eines „neuen Begriffs, den die bloße Nebeneinanderstellung nicht ausdrückt“ (R 205). Das ist eine viel weitere und besser deutbare Perspektive. Bei frei sprechen/freisprechen, sauber halten/sauberhalten usw. kommt es meist auf die Unterscheidung zwischen freiem Adverbial und Verbzusatz an – eine tief in der deutschen Sprachstruktur angelegte Unterscheidung, deren visuelle Entsprechung sehr sinnvoll ist. (Das hat die Kommission in ihrem „Bericht“ inzwischen ja auch zugegeben, doch haben die Kultusminister ihr untersagt, daraus praktische Konsequenzen zu ziehen.)

Die allzu restriktive Auslegung des Duden ist abzulehnen. Zum Beispiel ist zwar bei Resultativkonstruktionen wie blankbohnern/blank bohnern die Getrenntschreibung immer richtig, da sie einem unbeschränkt produktiven syntaktischen Verfahren entspricht. Was die Grammatik erlaubt, kann die Orthographie nicht verbieten. Aus demselben Grunde war und ist Rad fahren richtig und kann nicht als „fälschliche Getrenntschreibung“ gewertet werden, wie es A&S tun. In gewissen Fällen wird jedoch auch die Zusammenschreibung zugelassen. Bei den Partikelverben im engeren Sinne (abgehen usw.) ist sie praktisch obligatorisch (d. h. sie wird ausnahmslos durchgeführt).

So erklärt es sich auch, daß der Duden „eine beträchtliche Anzahl zulässiger alternativer Schreibungen“ wie eng befreundet/engbefreundet zuließ, wie A&S bemerken (S. 28). Es geht nicht darum, daß „manche Kritiker [das] nicht wahrhaben wollen“; es geht überhaupt nicht um eine Schwäche der gültigen Regelung, sondern um eine notwendige Folge des Zusammenspiels von Grammatik und Phraseologisierung bzw. Wortbildung. Man muß die Natur der Sprache schon sehr verkennen, um der geltenden Orthographie hieraus einen Vorwurf zu machen.

Die Reformer schließen sich grundsätzlich der rigidesten möglichen Auslegung des Dudens an und stellen dieser ultraorthodoxen Deutung dann ihre „liberale“ Neuregelung entgegen, die – wie anderswo gezeigt worden ist – das Kind mit dem Bade ausschüttet. Ich habe im Gegenteil vorgeschlagen, den Duden in der liberalsten möglichen Weise auszulegen und erst dann nach substantiellen Verbesserungsmöglichkeiten zu fragen. Dabei verschwindet allerdings fast jeder Handlungsbedarf, eine Reform erweist sich als überflüssig.

A&S führen Paare wie wieder kommen (‚noch einmal‘) und wiederkommen (‚zurückkommen‘) an, schweigen sich aber darüber aus, daß es gerade auf der Grundlage solcher Paraphrasen zu der offenbar falschen Schlußfolgerung aller neuen Wörterbücher kommen mußte, wiedersehen sei nunmehr getrennt zu schreiben.25* Die Paraphrase noch einmal vs. zurück scheint den Irrtum aufs neue zu rechtfertigen, denn wiedersehen liegt immerhin näher bei „noch einmal sehen“ als bei „zurücksehen“. Statt dessen sagen A&S hier so zutreffend wie überraschend, die Wortpaare seien „durch Betonung zu unterscheiden“. Im amtlichen Regelwerk ist die Betonung bekanntlich kein Kriterium, ihre Heranziehung wird sogar in geradezu auffälliger Weise vermieden.26* Erst im „Bericht“ der Kommission vom Dezember 1997 wird die Betonung zum entscheidenden Kriterium.

Schwer erklärbar sind die Pseudozitate von A&S, mit denen sie belegen wollen, daß im Duden von 1991 „gleiche Fälle unterschiedlich geregelt“ seien. Sie führen an (S.27):

„Duden-Rechtschreibung (1991):

wiederaufsuchen (‚erneut besuchen‘) (‚Auch Getrenntschreibung ist möglich: ‚wieder aufsuchen‘); wiederherrichten (‚etwas erneut in Ordnung bringen‘) (‚Auch Getrenntschreibung ist möglich: wieder herrichten‘); wdertun (‚wiederholen‘) (‚Auch Getrenntschreibung ist möglich: wieder tun‘).“

Der Leser muß hier annehmen, daß der in Anführungszeichen gesetzte Vermerk „Auch Getrenntschreibung ist möglich“ aus dem Duden übernommen sei. Dort ist aber nichts dergleichen zu finden, und zwar weder im Regelwerk noch unter den angeführten Stichwörtern. Im übrigen läßt der Duden in allen Fällen zwar verschiedene Schreibweisen zu, jedoch mit verschiedener Bedeutung und unter entsprechend verschiedener Betonung. Es kann also keine Rede davon sein, daß „gleiche Fälle unterschiedlich geregelt sind“!

Einer der wichtigsten Einwände war, daß die neuerdings untersagte Zusammenschreibung dazu diente, klassifizierende von beschreibenden Begriffen zu unterscheiden: schwerbehindert ist eben etwas anderes als schwer behindert, allgemeinbildend etwas anderes als allgemein bildend. A&S ignorieren dieses Argument.

Übrigens sind die „Ungereimtheiten“ des geltenden Duden durchaus nicht alle so ungereimt, wie A&S und mancher andere Reformbetreiber es darzustellen pflegen. Ich habe dies in meinen einschlägigen Büchern sowie in einem Aufsatz über die Getrennt- und Zusammenschreibung (Muttersprache 3/1997) ausführlicher nachgewiesen.

Die Liste der „Ungereimtheiten“ bei A&S ist ihrerseits fehlerhaft. Das kann hier nur in Auswahl gezeigt werden. So stimmt es nicht, daß bisher sitzenbleiben, aber stehen bleiben zu schreiben gewesen sei. Vielmehr war in beiden Fällen sowohl Zusammen- wie Getrenntschreibung vorgesehen – mit unterscheidbarer Bedeutung. Wie schon bei früherer Gelegenheit (zuletzt in Augst et al. [Hg.] 1997, dazu meine Besprechung [Muttersprache 3/1997]), macht sich Schaeder nicht die Mühe, im Duden nachzuschlagen und die Tatsachen, geschweige denn deren Sinn festzustellen. Erhalten bleiben und bestehenbleiben sind schon deshalb nicht vergleichbar, weil im ersten Fall – was Schaeder tatsächlich zu verkennen scheint – ein Partizip II, hier als Adjektiv, im zweiten ein Infinitiv mit dem Verb verbunden ist. Bestehen gehört aber außerdem zu jener interessanten kleinen Gruppe von Verben (hauptsächlich Positionsverben wie stehen, sitzen, hängen, kleben), deren Infinitiv mit bleiben verbunden wird und im Ansatz eine aktionsartliche Unterscheidung ermöglicht (stehen bleiben = ‚weiterhin stehen‘ vs. stehenbleiben = ‚zum Stehen kommen‘). – A&S behaupten, in den Duden-„Zweifelsfällen“ von 1972 werde noch zugelassen eine schwerverständliche oder schwer verständliche Sprache, im Duden von 1991 nur noch schwerverständlich. Das ist eindeutig falsch, vgl. R 209.27*Seligpreisen wird anders als selig machen (fakultativ! s.o.) zusammengeschrieben, weil es in der Bibel die Seligpreisungen gibt, wogegen Seligmachungen und Glücklichpreisungen (ein weiteres Paradebeispiel der Reformer) keine solche Stütze haben. - Bummeln gehen heißt „zum Bummeln gehen“, aber spazierengehen heißt nicht „zum Spazieren gehen“, spazierenreiten nicht „zum Spazieren reiten“ usw. So könnte man lange fortfahren, die Unempfindlichkeit der Reformer für systematische Bedeutungsunterschiede nachzuweisen; in den genannten Schriften habe ich mehr davon vorgeführt. Natürlich ist es schwieriger, Unterscheidungen zu machen, als sie nicht zu machen. Aber gerade hier zeigt sich, daß eine fein differenzierte Rechtschreibung nicht um des Anfängers und Wenigschreibers willen „vereinfacht“ werden kann, ohne daß ein nicht wiedergutzumachender Verlust die Folge wäre.

Die Reformer A&S bekennen sich aufs neue zu dem Vorsatz; „dem Trend zu vermehrter Zusammenschreibung (...) behutsam entgegenzuwirken“ (S. 28). Ob behutsam oder nicht – dieser Vorsatz ist und bleibt grundsätzlich fragwürdig, denn der „Trend“ ist ja keine böse Macht, die man bekämpfen müßte, sondern der Wille der Sprachgemeinschaft selbst (also der „Sprachteilhaberinnen und Sprachteilhaber“, wie die Neuregelung sich auszudrücken beliebt). Auch wenn die grammatische Forschung und erst recht die praktische Rechtschreibkodifizierung hinter den Intuitionen der Schreibenden zurückbleiben, ist das kein Grund, diese Intuitionen selbst derart gering zu schätzen.28*

Man kann sich die Argumentationsweise der Reformer am Beispiel blankbohnern klarmachen: Die Zusammenschreibung kommt, wie A&S triumphierend aufzeigen, sogar in der Dudengrammatik vor, ist aber laut Duden-Rechtschreibung (immer im Sinne der oben als „orthodox“ bezeichneten Auslegung) falsch. Nach der Neuregelung ist sie zwar immer noch und erst recht falsch, aber die Neuregelung soll und wird nach Ansicht der Reformer alle Sprachteilhaber allmählich dazu erziehen, solche Gefüge grundsätzlich getrennt zu schreiben (wenn der erste Bestandteil steigerbar ist). Sollte diese Umerziehung tatsächlich gelingen, werden sie also einen Fehler weniger machen. Aber damit setzen sich die Reformer gänzlich über die Frage hinweg, warum die Sprachgemeinschaft darauf verfallen ist, solche Gefüge zusammenzuschreiben - und zwar, wie man sieht, noch weit über das vom Rechtschreibduden vorgesehene Maß hinaus. Um der „Fehlervermeidung“ willen beseitigt man eine in den letzten 300 Jahren intuitiv und spontan von Millionen Menschen entwickelte Technik der Notierung semantischer und struktureller Unterschiede. Aber nicht einmal dieses Ausschütten des Kindes mit dem Bade geschieht konsequent! Denn im Prinzip bleibt die Möglichkeit der Zusammenschreibung von Kausativ- und Resultativkonstruktionen ja erhalten, nur wird sie mit sachfremden Bedingungen verknüpft: Steiger- oder Erweiterbarkeit des ersten Gliedes; Ausschluß bei Suffigierung des ersten Bestandteiles mit -ig, -isch oder -lich (daher bereitstellen, aber fertig stellen!).

A&S schreiben:

„Die Neuregelung möchte auch in der Schreibung deutlich machen, dass ein Motor sehr wohl heißlaufen, ein Mädchen aber nicht heißgeliebt werden kann. Also: ein heißgelaufener Motor, aber: ein heiß geliebtes Mädchen.“ (S. 33)

Doppelter Unverstand: Da ein Motor auch sehr heiß laufen kann, müßte hier nach der Neuregelung getrennt geschrieben werden; und die bisherige Dudenregelung wußte noch, daß es zweierlei ist, heiß geliebt zu werden oder eine heißgeliebte Person zu sein. Anders gesagt: heißgeliebt ist so wenig von heiß lieben abgeleitet wie vielgeliebt von viel lieben (oder gutgelaunt von gut launen – um auch dieses hübsche Beispiel noch zu erwähnen). Das haben die Reformer leider nie verstanden und auch aus der Kritik nicht gelernt. Der Unterschied zwischen attributivem und prädikativem Gebrauch, der für die geltende Rechtschreibung grundlegend ist, wird weder in der Neuregelung noch in der bisher vorliegenden Kommentarliteratur berücksichtigt. (Erst der „Bericht“ vom Dezember 1997 räumt mit dem Unfug auf und nimmt das umständlich Verteidigte auf der ganze Linie zurück: blankbohnern soll jetzt wieder Standardform werden, heißgeliebt ist wieder völlig normal. Wozu dann der ganze Aufwand? – Das mögen sich auch die Kultusbürokraten gefragt haben und entschieden sich kurzerhand für das von der Kommission als falsch Erkannte!)

Die Kritik hat auch daran erinnert, daß das Partizip des Präsens im Deutschen nur dann prädikativ gebraucht wird, wenn es bereits Adjektiv geworden ist. Daher: Sie ist entzückend, aber nicht: *Sie ist mich entzückend. Folglich auch: Diese Waschmaschine ist wassersparend, aber nicht: *Die Maschine ist Wasser sparend, *das Tier ist Fleisch fressend usw. Das ist eine grammatische Selbstverständlichkeit, aber die Reformer gehen mit keinem Wort darauf ein, sondern verlangen ungerührt die grammatisch falschen Neuschreibungen.29*

Gegen die neue Getrenntschreibung muß aber vor allem der folgende Einwand erhoben werden: Wenn nur noch Getrenntschreibungen wie Aufsehen erregend, tief schürfend usw. zugelassen sein sollen, dann ergeben sich ungrammatische Steigerungsformen: am Aufsehen erregendsten, das bei weitem tief schürfendste Ereignis, das nichts Sagendste usw. Die gesamthafte Steigerbarkeit beweist also, daß es sich hier um echte Zusammensetzungen handelt, die keinesfalls durch Getrenntschreibung aufgelöst und damit vernichtet werden dürfen. Dies bedeutet für eine Unzahl neuer Schreibungen das Todesurteil.

Mit diesen Folgen der Neuregelung konfrontiert, hat Schaeder (z. B. in Augst et al. [Hg.] 1997) Argumente nachgeschoben, die den Schaden gering halten sollen. Zum Beispiel soll im Zuge der Substantivierung (das nichts Sagende) automatisch Zusammenschreibung eintreten wie bei das Autofahren usw. Die Fälle sind nicht vergleichbar, da zwar das Partizip I, nicht aber der Infinitiv Ergänzungen und Adverbialien syntaktisch regieren kann. Es gibt daher auch keine Regel, die solche halsbrecherischen Operationen legitimierte. Zum Glück haben zwei Schweizer Mitglieder der Reformkommission schon im voraus das Selbstverständliche ausgesprochen:

„Bei Adjektiv- und Partizipgruppen wird nur das Adjektiv selbst substantiviert, die Getrennt- und Zusammenschreibung entspricht also derjenigen beim attributiven Gebrauch (Stellung vor einem Substantiv). Es entsteht also keine substantivische Zusammensetzung.“30*

In der vorliegenden Schrift stellen A&S gleichsam nebenbei die Behauptung auf:

„Schreibungen wie der Dienst tuende Beamte, der Dienst Habende, die Dienst tuende Ärztin, der Dienst Tuende, das nichts Sagendste, Vertrauen erweckenste“ (sic) „usw. sind nach dem amtlichen Regelwerk unzulässig, weil der zweite Bestandteil (z. B. das Sagendste) in dieser Form nicht selbständig vorkommt.“ (S. 34)31*

Damit soll offenbar auf § 36 (2) angespielt werden, wo jedoch Verbindungen mit dem Partizip des Präsens aus gutem Grund nicht erwähnt sind. Aber auch aus anderen Gründen verschlägt das Argument dem Linguisten die Sprache. Zunächst einmal gibt es sehr wohl Partizipien, die auch in Steigerungsformen selbständig vorkommen: das erregendste Ereignis, das Erregendste – folglich müßte das Aufsehen Erregendste zulässig sein. Es ist aber nicht zulässig, nur weiß Schaeder den wahren Grund nicht: Das Partizip I ist einerseits Verbform und regiert Ergänzungen, kann aber nicht gesteigert werden. Andererseits ist es Adjektiv und kann – wenn der Sinn es zuläßt – gesteigert werden, aber keine Ergänzungen regieren. Neben der jederzeit konstruierbaren Verb-Objekt-Verbindung Aufsehen erregend muß daher auch das echte Kompositum aufsehenerregend zugelassen werden. Entsprechend bei Adverbialien: tief schürfend und tiefschürfend (wegen tiefschürfender, am tiefschürfendsten usw.).

Auf dieses zentrale Argument, das die ganze neue Getrenntschreibung als von Grund auf verfehlt erweist, gehen A&S nicht ein.

Statt dessen verrennen sie sich in die groteske Behauptung, die Dienst tuende Ärztin sei unzulässig, weil das Partizip nicht selbständig vorkomme.32*Wie steht es denn mit die ihren Dienst tuende Ärztin, der nur seine Pflicht tuende Beamte? Daß tuend oder habend „nicht selbständig vorkommen“, bedeutet etwas ganz anderes als die scheinbar gleiche Aussage über sagendste usw. – Tuend, habend, sagend und viele andere Verbformen kommen sehr wohl selbständig, d. h. als eigene Wortformen vor, sie kommen aber nicht allein vor, weil nämlich die betreffenden Verben eine obligatorische Ergänzung fordern! (Dienst habend steht übrigens auf dem Einband des neuen Rechtschreibdudens als werbendes Beispiel für die geplante Neuschreibung. Ob sich der Duden dies nun ausreden läßt?)

Der Vorwurf der „Vernichtung“ von Wörtern ist, anders als A&S behaupten, keineswegs unsinnig, denn die gewaltsame Getrenntschreibung echter Zusammensetzungen ist ein Versuch, sie als Wörter zu vernichten.

Horst H. Munske, der über Listen der erwartbaren Änderungen in den Wörterbüchern von Duden verfügt, schätzte anläßlich seines Austritts aus der Kommission, daß durch die gewaltsame Getrenntschreibung rund 800 bis 1000 Wörter aus dem Duden und rund 4000 Wörter aus der Dudenkartei praktisch getilgt werden. Der Anfang dieser Wortvernichtung ist bereits gemacht. Peter Eisenbergs Kommentar sei nochmals zitiert: „Mindestens 500 bis 800 Wörter des normalen Rechtschreibwortschatzes sind ganz getilgt worden. (...) Aus der Geschichte des Deutschen ist kein vergleichbarer Angriff auf das Sprachsystem bekannt.“33*

Daß getrennt geschriebene Gefüge dasselbe bedeuteten wie die aufgelösten Komposita und somit in Wirklichkeit nichts verlorengehe, trifft nicht zu. Das gilt nicht nur für die genannten Verbindungen mit Partizipien des Präsens, sondern auch für die Auflösung von sogenannt (neu: so genannt), für die gewaltsame Großschreibung von jdm. Feind sein u.v.a. (s. Kapitel I).

Die Reformer tun oft so, als hätten erst sie dem Grundsatz, die Getrenntschreibung als Normalfall zu betrachten, zu umfassender Geltung verholfen, und freuen sich, etwas Ähnliches auch schon in den Duden-„Zweifelsfällen“ von 1972 oder gar in meiner eigenen Schrift zu entdecken. Dabei übersehen sie wieder einmal, daß derselbe Leitsatz an prominenter Stelle im gültigen Rechtschreibduden steht, nämlich im Vorspann zum Kapitel „Zusammen- und Getrenntschreibung“. (Auch an anderen Schriften der Reformer zeigt sich immer wieder, daß sie sich in zwei Texten nicht besonders gut auskennen: im Duden, den sie kritisieren, und im neuen Regelwerk, das sie selber gemacht haben. Weitere Nachweise in meiner Besprechung zu Augst et al. [Hg.] 1997).

Zusammenfassend: Wenn es als kleiner Fortschritt zu werten ist, daß A&S anders als in der amtlichen Neuregelung bei den Verbzusatzkonstruktionen nicht mehr von „Zusammensetzungen“ sprechen34*, so muß man dennoch feststellen, daß die Grundauffassung von der Getrennt- und Zusammenschreibung nicht richtiger geworden ist. Der Versuch, die katastrophalen Folgen der neuen Regeln abzuwenden, führt zu abenteuerlichen, aus linguistischer Sicht absurden Zusatzhypothesen.

4. Groß- und Kleinschreibung

Die Reformer waren noch 1993 einstimmig für die „gemäßigte Kleinschreibung“, deren Einführung ursprünglich sogar das eigentliche Hauptziel der Reformbemühungen darstellte. Gegen ihren Willen haben sie auf politischen Druck die vermehrte Großschreibung ausarbeiten müssen. Wie sehr sie hinter der geltenden Regelung zurückbleibt, hat inzwischen Horst H. Munske ausführlich dargestellt.

A&S behaupten ohne Namensnennung, „die Kritiker“ schlössen sich der Auffassung von Utz Maas an, groß geschrieben würde der Kopf eines nominalen Satzteils. Wer mag damit gemeint sein? Der von den Reformern favorisierte, in der Tat „noch jüngere“ Ansatz des Reformers Peter Gallmann führt zu einer radikalen Vermehrung der Großschreibung; Gallmann will sogar noch über die Neuregelung hinausgehen und legt nahe, auch bei Weitem35*, der Andere usw. groß zu schreiben, damit keinerlei „Ausnahmen“ (wie er sie versteht) mehr auftreten. Wann immer das geringste Indiz von „Nominalität“ zu beobachten ist, soll groß geschrieben werden. All dies wiederholt eine längst erledigt geglaubte Diskussion des vorigen Jahrhunderts. Denn damals gab es eine Zeitlang diese vermehrte Großschreibung, bis sie auf ein vernünftiges und zugleich raffinierteres Maß zurückgeführt wurde – bei großzügig bemessenen Freiräumen bis zum heutigen Tag.

Mein Hauptargument gegen die vermehrte Großschreibung wird überhaupt nicht beachtet: Groß zu schreibende Wörter müssen die Minimalbedingung erfüllen, etwas zu bezeichnen, wovon im Text die Rede ist. Daher ist es widersinnig, substantivierte Adjektive in bloßen Phraseologismen groß zu schreiben: nicht im Geringsten, aufs Schönste, des Öfteren usw. - Munske hat im gleichen Sinne die Großschreibung grammatikalisierter Lexeme kritisiert, die das Paradigma der Pronomina und Numeralia ergänzen: der Einzelne, der Erste.

Die Ausführungen zu heute Abend usw. sind irrelevant. Von Gallmanns Kriterien spricht nur das ärmlichste für die Großschreibung von Abend: daß es nämlich im deutschen Wortschatz auch ein Substantiv Abend gibt. Gallmann selbst hat aber 1991 gezeigt, daß es sich in der Verbindung heute abend nicht um ein Substantiv handeln kann, weil es nicht kasusbestimmt ist (eine Bedingung, die nach § 55 der Neuregelung weiterhin gültig bleibt). Der Vergleich der Paradigmen spricht für sich selbst: Auf die Frage Wann kommst du? war die Antwort bisher: heute abend, morgen früh, Dienstag mittag. Neu: heute Abend, morgen früh, Dienstagmittag. – Was soll daran einfacher sein?

Daß Abend hier „linguistisch betrachtet“ in „Juxtaposition“ stehe, ist bloße Wortemacherei, die den Laien beeindrucken mag. Der lateinische Ausdruck bezeichnet kein linguistisch definiertes Verhältnis, sondern nur die Tatsache, daß die Wörter nebeneinander stehen; aber das sieht jedermann selbst.

Kritiker, die für die Kleinschreibung von abend und morgen plädieren, weil sie darin Satzglieder sehen, die mit Wann? erfragt würden, sind mir nicht bekannt; ich jedenfalls habe es nicht getan, vgl. „Die sogenannte Rechtschreibreform – ein Schildbürgerstreich“, S. 99.

Zu angst, gram usw. glauben A&S meine Beobachtung zurückweisen zu müssen, daß es sich hier teilweise um „alte Adjektive“ handelt. Natürlich spielt die Sprachgeschichte keine Rolle für die Begründung heutiger Klein- oder Großschreibung. Mein Hinweis war jedoch berechtigt, weil das Regelwerk selbst in § 56 eine sprachgeschichtliche Behauptung aufstellt, und zwar eine falsche: Die betreffenden Wörter sollen „ihre substantivischen Merkmale eingebüßt und die Funktion anderer Wortarten übernommen haben“. Das trifft auf die Hälfte der angeführten Beispiele nachweislich nicht zu.

Das Argument, angst, pleite usw. könnten keine Adjektive sein, weil es *der angste Mann, *der pleite Mann nicht gebe, ist von umwerfender Naivität. Nicht alle Adjektive sind ja attributiv verwendbar, und pleite soll sogar auch nach der Neuregelung Adjektiv sein, nur eben nicht in Pleite gehen. (Vgl. jedoch kaputtgehen, bankrott gehen; hier verlangt die Neuschreibung Bankrott gehen – nach Bankrott machen, nicht nach bankrott sein, wie es richtig wäre!)

Bei Er ist ihm Feind erkennen A&S bis zum heutigen Tage nicht, daß es semantisch einen Unterschied macht, ob man jemandem feind bzw. freund (= feindlich, freundlich gesinnt) ist oder jemandes Feind bzw. Freund. Der „normale Schreiber“ (S. 40) sehe hier in allen Fällen Substantive – eine völlig unbewiesene Behauptung, zumal die Adjektive einem verhältnismäßig gewählten Wortschatz zugehören, d. h. von eher gebildeten Schreibern gebraucht werden, denen die platte Verwechslung mit den Substantiven nicht so leicht unterlaufen dürfte. Für den vielbelachten Spinnefeind gestehen A&S neuerdings auch Kleinschreibung als zulässig zu. Ein winziger Schritt in Richtung Vernunft, immerhin ...36* Allerdings kein konsequenter, denn für das Simplex Feind und für Todfeind soll die Kleinschreibung nicht zulässig sein, also: jemandem Todfeind sein, aber jemandem spinnefeind sein! Andernorts berufen sich A&S wieder auf die Unmöglichkeit, *der feinde Mann zu sagen, und wieder weisen wir darauf hin, daß nicht alle Adjektive attributiv gebraucht werden; sonst müßte man ja auch von *quitten Partnern sprechen können ... (Man geniert sich fast, solche Banalitäten erklären zu müssen!)

Sehr zu bedauern ist, daß A&S auf die durchschlagende Kritik nicht eingehen, die gegen die Großschreibung von Leid tun, Not tun und Recht haben vorgebracht worden ist: so Leid es mir tut; Sie wissen gar nicht, wie Recht Sie haben sind eindeutig ungrammatische, gleichwohl von der Neuregelung erzwungene Gebilde. Die Neuschreibung Schifffahrt ist Not ist und bleibt Unsinn.37*

5. Zeichensetzung

A&S stellen fest:

„Der Satz der Kritiker Er sah den Spazierstock in der Hand tatenlos zu wird ein stilistisches Doppelkomma erfordern, da es (...) eine Leseirritation vermeidet:

Er sah, den Spazierstock in der Hand, tatenlos zu.“ (44)

Aber es handelt sich nicht um einen „Satz der Kritiker“38*, sondern um ein Paradebeispiel aus dem Regelwerk selbst (§78[3]), und es wird dort gerade vorgeführt, um zu zeigen, daß kein Komma erforderlich ist! Wieder zeigt sich, daß die Reformer sich in ihrem eigenen Regelwerk nicht auskennen.

Auf die horrenden Schwierigkeiten der neuen Kommaregelung gehen A&S nicht ein - was nicht sehr verwunderlich ist, finden wir doch nicht nur in dem offiziösen „Handbuch Rechtschreiben“ der Reformer Gallmann und Sitta eine falsche Deutung der neuen Regeln, sondern auch in Schaeders eigenhändiger Korrektur seines berüchtigten „Mogeldiktats“.

Ich deute die Probleme kurz an, die sich aus § 77(5) ergeben. Die Neuregelung sieht vor:

Er hat es satt, zu arbeiten.

(Obligatorisches Komma, weil der Infinitiv durch ein hinweisendes es angekündigt ist)

Er hat es schwer eine Familie zu ernähren.

(Kein Komma, weil das es kein hinweisendes es ist)

Obwohl rechtzeitig auf ihren Fehler aufmerksam gemacht verbesserten sie ihn nicht.

(Kein Komma erforderlich, obwohl die Satzwertigkeit der Partizipialkonstruktion durch die Konjunktion sehr deutlich gekennzeichnet ist)

Es war nicht selten, dass er sie besuchte, und dass sie bis spät in die Nacht zusammensaßen.

(Komma vor und möglich, obwohl dazu von der Grammatik der Aufzählungen her keinerlei Grund besteht. Ist wirklich beabsichtigt, daß Schüler unbeanstandet schreiben sollen: Ich weiß, dass es kalt ist, und dass es schneit? – Hierzu äußert sich das Regelwerk nicht sehr deutlich, die Beispiele sprechen jedoch dafür.)

Auf das völlig überflüssige Komma als drittes Satzzeichen nach wörtlicher Rede („So?“, fragte sie) gehen A&S nicht ein, obwohl es sogar aus dem Kreise der Reformer selbst (Baudusch in Augst et al. [Hg.] 1997) als pädagogische Zumutung kritisiert worden ist. Auch in umgestellten Schulbüchern fehlt es oft.

6. Worttrennung

Ich habe Trennungen wie alla-bendlich, beo-bachten, E-cke usw. beiläufig als „schauderhafte Gebilde“ bezeichnet, hauptsächlich aber das Sinnstörende solcher Trennungen beanstandet. A&S erwidern, wer es ästhetisch nicht möge, könne ja anders trennen. Daß „Die Woche“, die als einzige größere Zeitung die neue Rechtschreibung (wenn auch nur teilweise) übernommen hat, ihren Lesern nach eigenem Bekunden „Scheußlichkeiten“ wie A-bend ersparen will (S. 35), zitieren A&S hingegen ohne erkennbaren Unwillen. Im übrigen geht es nicht um die Ästhetik des Schreibens, sondern um die Psychologie und Ökonomie des Lesens.

III. Schlussbetrachtung

Hier wird hauptsächlich mit den Dissidenten abgerechnet. Ohne namentliche Erwähnung ist Horst H. Munske die wichtigste Zielscheibe, weil dieser sich freimütig dazu bekennt, hinzugelernt zu haben, und die Reform aus seiner heutigen besseren Einsicht heraus als weitestgehend mißlungen ablehnt. Die Aufforderung an die anderen Kritiker, es besser zu machen, geht ins Leere, da die meisten Kritiker ja überhaupt keine Reform für nötig halten. Eine Fortschreibung der Dudenpraxis und ein verbesserter Rechtschreibunterricht reichen vollkommen aus.

Ich komme zu einer abschließenden Beurteilung:

Das hier besprochene Pamphlet muß als eine der zahllosen Gefälligkeitsarbeiten gelesen werden, welche die Reformer für ihre politischen Auftraggeber angefertigt haben.

Ihre Stumpfheit gegenüber semantischen Unterschieden ist aus früheren Arbeiten bekannt, hinzu kommen neue, erschreckende Einblicke in einen Abgrund linguistischer Unfähigkeit. Dem Fachkollegen ist es eine peinliche Lektüre, die mit tiefer Scham für die ganze Zunft einhergeht.

Die Verfasser gehen auf die zentralen Argumente der Kritiker kaum oder gar nicht ein. Statt dessen stellen sie seitenlang Sachverhalte dar, die allgemein bekannt sind und von niemandem bestritten werden. Das sind allzu offensichtliche Ablenkungsmanöver.

Es bleibt bei der trickreichen Methode, Spielräume der bisherigen Regelung als „Unsicherheiten“ und „Zweifelsfälle“ zu kritisieren, solche der Neuregelung aber als „Freizonen“ zu preisen.

Winzige Zugeständnisse, wo es sich – wie beim Spinnefeind – gar nicht vermeiden läßt, sollen die Unantastbarkeit des Regelwerks im ganzen retten. Den Kritikern wirft man winzige Brocken zu (behende soll wieder erlaubt sein!), damit sie endlich still sind.


1* (Nachtrag: Peter Eisenberg ist inzwischen aus der Kommission ausgetreten.)

2* Süddeutsche Zeitung 31.10.1997.

3* Vermerk von Ministerialrat Christoph Stillemunkes (Az VI A 3 - 601/83 - 252 -).

4* Süddeutsche Zeitung 4.12.1997.

5* Obwohl sie mich durchaus als ihren Hauptkritiker anerkennen (als Vorläufer ihrer Schrift kann das ausschließlich gegen mich gerichtete „Wernstedt-Papier“ angesehen werden, das seitenweise wörtlich mit der Klett-Broschüre übereinstimmt), erwähnen A&S nur meine populäre Broschüre, nicht die ihnen – zumindest im Typoskript – durchaus bekannten wissenschaftlichen Aufsätze (in: Sprachwissenschaft 1/1997, Muttersprache 3/1997, Eroms/Munske [Hg.] 1997) sowie das zusammenfassende, als Typoskript schon lange umlaufende Buch „Die sogenannte Rechtschreibreform - ein Schildbürgerstreich“ (2. Aufl. St. Goar 1997). Die Behauptung des IDS (a.a.O.), A&S bezögen sich auf dieses Buch, ist daher falsch.

6* Die große Einheitlichkeit der Regelbücher wurde bereits 1886 von Konrad Duden in einer eigenen vergleichenden Untersuchung festgestellt. Wolfgang Kopke sagt treffend: „Unsere Orthographie wurde vom Staat eben nicht ‚erarbeitet‘, sondern gerade gegen Reformbestrebungen unter Schutz gestellt.“ (Rechtschreibreform und Verfassungsrecht. Tübingen 1995, S. 116) Auch die oben erwähnte Vereinfachung des th war um 1900 schon längst weithin üblich, besonders in der bayerischen Schulorthographie.

7* Vgl. Hans Krieger: Der Rechtschreib-Schwindel. Sankt Goar 1998.

8* Diese Eigenschaft der Reform wird, wenn es gerade paßt, als ihre „Behutsamkeit“ gerühmt. Ein zweischneidiges Lob, denn woher soll die Fehlerverminderung um 30, 50 oder mehr Prozent kommen, wenn sich an einem Normaltext praktisch gar nichts ändert – wie mit Verweis auf die Zeitung „Die Woche“ immer wieder hervorgehoben wird?

9* Gallmann/Sitta 1996.

10* Während der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am 12.5.1998 waren sich alle Beteiligten darüber einig, daß es sich mangels gesetzlicher Grundlage um keine wirkliche Beleihung handelte. S. auch Kopke 1995.

11* Zur Umkehrung der Beweislast Wolfgang Kopke: „Dieses Ansinnen wurde tatsächlich von den beiden Kommissionsmitgliedern Augst und Zabel gestellt, die die Ansicht vertraten, ‚daß die Reformer für die Richtigkeit der Reform nicht allein die Beweislast zu tragen haben, sondern daß auch die, welche die bisherige Rechtschreibung, vielleicht (leicht) modifiziert, beibehalten wollen, aufgerufen sind zu beweisen, daß das bestehende System besser ist als die vorgeschlagene Reform.‘ (...) Nach allen Regeln des Rechts trägt die Beweislast grundsätzlich derjenige, der etwas begehrt – hier also die Reformer, die eine Änderung des Schreibgebrauchs herbeiführen wollen und dafür die Hilfe der zuständigen staatlichen Stellen begehren.“

12* Die monumentale Arbeit von W. Kopke, in der keineswegs nur rechtliche Gesichtspunkte behandelt sind, lag den Kultusministern im Sommer 1995 vor. – A&S schreiben im Vorwort (das auf Juli 1997 datiert ist): „Seit letztem Jahr läuft die (Vorbereitung zur) Einführung der Rechtschreibreform in dem vereinbarten Zeitraum.“ Es lief eben leider nicht nur die Vorbereitung, sondern die Einführung selbst, und zwar gerade deshalb nicht im vereinbarten Zeitraum, sondern vorzeitig und voreilig.

13* Vgl. jetzt seinen aufschlußreichen Rückblick in „Kunst & Kultur“ 1/1998.

14* Meine im Anhang zum Kapitel I wiedergegebene, auf der Grundlage von Stetters Vorarbeiten erstellte Synopse lag dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages am 2. Juni 1997 vor und ist seitdem auch A&S bekannt. - Im Bayerischen Landtag war am 27.10.1995 zu hören: „Das Ergebnis der Kommission liegt seit 1993 vor.“ (MdL Radermacher)

15* Auf die gigantischen Auflagen diverser „Aufklärungsschriften“ dieses Typs weist Augst bei jeder Gelegenheit hin, um den Eindruck zu erwecken, die Bevölkerung sei umfassend informiert worden – oder eben selbst schuld, wenn sie das Angebot nicht genutzt habe. Dagegen steht die zutreffende Feststellung von Minister Zehetmair: „Die breite Öffentlichkeit ist so gut wie gar nicht informiert.“ (Spiegel 11.9.1995) – Und selbst wenn es anders gewesen wäre: Es gab überhaupt keine Möglichkeit, wirksam gegen die Neuregelungspläne zu protestieren. Näheres zur handstreichartigen Einführung der Reform in meinem Buch „Die sogenannte Rechtschreibreform“.

16* Auf meine kritischen Eingaben zur neuen Getrennt- und Zusammenschreibung wurden mir mehrfach Antworten des dafür hauptverantwortlichen Reformers angekündigt. Sie blieben aus. Im Juni 1997 richtete ich an die Kommission eine Anfrage wegen der Kommasetzung; die angekündigte Auskunft ist nie eingetroffen. Kollegen berichten ähnliches.

17* Der Reformer Sitta erklärt im Anschluß an die zitierte Stelle aus der Absichtserklärung: „Mir ist dieser Wortlaut wichtig: Die Kommission soll ihrem Aufrag nach nicht – wie seitens der Reformgegner behauptet wird – das angeblich schlechte Reformwerk optimieren. Sie soll auf der Grundlage des beschlossenen Regelwerks die Einführung der Neuregelung begleiten.“ (in Eroms/Munske [Hg.] 1997, S. 222) – In einem oben bereits angeführten Standardbrief der Mannheimer Kommission heißt es: „Wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass nach der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung in Wien weitere Änderungen vorerst grundsätzlich nicht mehr möglich sind.“ – Am 23.1.1997 gaben Zeitungen eine Mitteilung des IDS wieder, wonach die Aufgabe der Kommission „keineswegs die Korrektur des beschlossenen Reformwerks“ sei. „Die ‚von Reformgegnern erzeugte Sorge‘, die Rechtschreibreform werde schon vor der endgültigen Umsetzung ‚repariert oder korrigiert‘, sei gegenstandslos.“ (Fränkischer Tag vom 23.1.1997) Am Tage zuvor hatte die Presse über geplante Korrekturen berichtet – was am IDS begreiflicherweise eine leichte Panik auslösen mußte. Übrigens ist nie erklärt worden, wer das IDS überhaupt ermächtigt hat, derartige Interpretationen und Proklamationen hervorzubringen.

18* Daß dies und nicht die Verbesserung der deutschen Orthographie der eigentlich Zweck des ganzen Unternehmens war, hat der österreichische Reformer Blüml in einem Gespräch mit dem „Standard“ (31.1.1998) ausgeplaudert: „Das Ziel der Reform waren aber gar nicht die Neuerungen. Das Ziel war, die Rechtschreibregelung aus der Kompetenz eines deutschen Privatverlages in die staatliche Kompetenz zurückzuholen.“ Dies erklärt auch, warum die Reformer heute in allen entscheidenden Punkten das Gegenteil dessen anpreisen, was sie jahrzehntelang für richtig hielten und insgeheim immer noch für richtig halten (Kleinschreibung, Fremdwortintegration, Einheitsschreibung das, Tilgen der Dehnungszeichen).

19* Saarbrücker Zeitung vom 14.7.1997.

20* Als Motto stellen A&S diesem Kapitel einen Satz von Martin Walser voran – ein weiteres Beispiel für die listige Methode, gerade die entschiedensten Gegner der Reform durch selektives Zitieren zu Kronzeugen für die Reform umzufunktionieren. – Wozu übrigens wird das Goethe-Gedicht in aller Breite abgedruckt? Was soll es beweisen? Daß ältere Texte lesbar bleiben, hat beim geringen Umfang der Neuregelung niemand bezweifelt.

21* Dies haben viele Reformbefürworter nicht verstanden, zum Beispiel der hessische Kultusminister Holzapfel, der die falsche Interpretation u. a. in einem Brief an die hessischen Bundestagsabgeordneten vom 25. September 1997 (Aktenzeichen VI A - 601/83) verbreiten ließ. Vorbild sind sicher die „Informationen“ der KMK vom 1.12.1995, die dem Fehler die Würde eines offiziellen Dokuments verliehen. Dort steht in aller Unschuld, die neue ss-Schreibung erhöhe die Wirksamkeit des Stammprinzips, aber nach langem Vokal schreibe man weiterhin ß! Das ist so, als verkünde ein Mathematiker die Entdeckung, daß alle ganzen Zahlen ungerade sind - ausgenommen „natürlich“ die geraden. Im Regelwerk selbst ist die folgenreiche Ausnahme als „Erläuterung“ getarnt (§ 25 E1).

22* Nach dem „Bericht“ der Kommission vom Dezember 1997 sind die Reformer großzügigerweise bereit, auch einige der alten Schreibungen weiterhin zuzulassen. Manche Kritiker vermuten seit je, daß die augenfälligsten Absurditäten der Reform von vornherein nur als Spielmarken gedacht waren, auf die man nach zähem Ringen verzichten könnte, um das übrige desto sicherer durchzubringen. „Kompromißfähigkeit“ wirkt ja immer gut. Leider ist in diesem Falle jeder Kompromiß von vornherein ein fauler, denn er zerstört die orthographische Einheit und verursacht dieselben Milliardenkosten wie die ohne Kompromiß durchgesetzte Reform. Es spielt deshalb für die Sprachgemeinschaft auch gar keine Rolle, daß die Kultusminister im Februar 1998 beschlossen haben, diese und alle anderen Zugeständnisse ihrer eigenen Kommission vorerst nicht anzunehmen, sondern die unkorrigierte Neuregelung von 1996 durchzusetzen. Für die Kommission ist das natürlich um so peinlicher, muß sie sich doch wie eine Schar Hofnarren vorkommen.

23* In der Praxis genügt es bekanntlich, sich das Wortpaar Schiffahrt/Sauerstoffflasche zu merken. Kein vernünftiger Lehrer verlangt von seinen Schülern mehr. – Augst wiederholt übrigens den Fehler, der ihm auch schon vor dem Rechtsausschuß des Bundestages unterlaufen ist: Nicht Bett-Tuch, sondern Bet-Tuch ist die vom gültigen Duden (R 204) vorgeschlagene Vereindeutigung. Auf meine Bedenken gegen Flächenstill-Legung usw. geht er nicht ein. Ebenso hält es das IDS, das in seiner Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht die Dreibuchstabenregel wieder in großer Breite erörtert, weil sich daran die „Unlogik“ der bisherigen Norm in der Tat besonders leicht darstellen läßt. Die ästhetischen und lesepsychologischen, auch sprachvergleichenden Gesichtspunkte werden nicht berührt.

24* Es stimmt nicht, daß die „Ungereimtheiten (des Duden) von den Reformkritikern unterschlagen werden“ (S. 24). Wer die Reform kritisiert, ist nicht verpflichtet, zugleich den Duden umfassend zu analysieren. Über die unzulässige Umkehrung der Beweislast ist oben schon das Nötige gesagt. - Zum folgenden verweise ich auf meinen „Kritischen Kommentar“.

25* Der Stellvertretende Vorsitzende der KMK, Hans Joachim Meyer (Philologe von Beruf und derzeit sächsischer Kultusminister) erwies sich in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 26.3.1998 als der letzte, der noch die Fehlinterpretation der ersten Stunde vertritt: Die Neuregelung räume mit der „Marotte“ auf, „daß Begriffe und Vorstellungen, die durch mehr als ein Wort ausgedrückt werden, zusammengeschrieben werden müssen“ (was in dieser Form natürlich gar nicht zutrifft). „Dafür gibt es überhaupt keinen zwingenden Grund. Ob ich nun sage ‚Wir müssen uns bald wiedersehen‘ oder ‚Wir sehen uns bald wieder‘: In beiden Fällen drücken die beiden Wörter ‚wieder‘ und ‚sehen‘ die gleiche Vorstellung aus. Aber nur in einem Fall, nämlich wenn die beiden Wörter unmittelbar nebeneinander stehen, muß man sie zusammenschreiben. Dafür gibt es überhaupt keinen Grund.“ – Diese und die weiteren Ausführungen lassen eine solche Unkenntnis sowohl der deutschen Grammatik als auch der Neuregelung erkennen, daß sich jeder Kommentar erübrigt. – Das Wort „Marotte“ in bezug auf die Zusammenschreibung von Verbzusatzkonstruktionen scheint Meyer aus einem Zeitungsartikel Hermann Unterstögers zur Wiener Abschlußkonferenz (SZ vom 25.11.1994) entnommen zu haben, die er wohl aus Zabels „Wüterich“-Dokumentation kennt.

26* Nur in § 33 wird sie einmal erwähnt - überflüssigerweise, denn die untrennbaren Verben sind anderweitig hinreichend abgegrenzt.

27* Übrigens sind weder die „Zweifelsfälle“ von 1972 noch die anderen zitierten Schriften von Mentrup oder Herberg/Baudusch geeignet, die These zu beweisen, daß es „in der bisher geltenden Regelung ... eine beträchtliche Anzahl zulässiger alternativer Schreibungen“ gab. Alle genannten Schriften sind Kommentarliteratur ohne Verbindlichkeit. Die von A&S aufgelisteten (zum Teil auch nur scheinbaren) „Widersprüche“ zwischen den „Zweifelsfällen“ von 1972 und dem Rechtschreibduden von 1991 sind ohne jede Relevanz für die gegenwärtige Diskussion.

28* Wieder einmal zitieren mich A&S so sinnentstellend, daß es scheint, als unterstützte ich im Grunde die Reform, hier die These, es sei mehr Getrenntschreibung angezeigt (S. 29). Das Gegenteil ist richtig.

29* In seiner Einladung zur 34. Jahrestagung schreibt das Institut für deutsche Sprache, das satzungsgemäß die deutsche Sprache erforschen soll, am 15.10.1997 ganz im Sinne der Neuregelung: Öffentliches Interesse an Sprache und öffentliche Meinung über Sprache sind nahe liegend.

30* Gallmann/Sitta: Handbuch Rechtschreiben. Zürich 1996, S. 130, vgl. auch Gallmann/Sitta: Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Mannheim 1996 [Duden-Taschenbuch], S. 102.

31* Diese dreieinhalb Zeilen und die breitere Ausführung von Schaeder in Augst et al. (Hg.) 1997 sind geeignet, das Ansehen der deutschen Sprachwissenschaft nachhaltig zu beschädigen. Leider verhält es sich mit den entsprechenden Teilen das amtlichen Regelwerks nicht anders.

32* Die KMK, die sich stets nur von den Reformern beraten läßt, hat sich diesen Unsinn sofort zu eigen gemacht und führt die eigentümliche Schaedersche Grammatik gegen reformkritische Bürger ins Feld.

33* Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4/1997, S. 129.

34* Im Bericht der Kommission vom Dezember 1997 ist wieder von „Zusammensetzungen“ (sogar mit „Verbzusatz“) die Rede, so daß der oben angedeutete Hoffnungsschimmer wohl nur eine Täuschung war.

35* Die „Informationen“ der KMK vom 1.12.1995 nahmen irrigerweise an, daß die am selben Tage beschlossene Neuregelung bereits die Großschreibung bei von Weitem, vor Kurzem usw. vorsehe. Der Fehler deutet darauf hin, daß es auf diesem Gebiet ein ständiges Hin und Her gab, bis niemand mehr so recht wußte, welchen mehr oder weniger zufälligen Stand die Diskussion am Ende erreicht hatte.

36* A&S verwenden eine halbe Seite auf den Abdruck einer Anzeige der Deutschen Bahn, nur um zu beweisen, daß auch Werbetexter manchmal Rechtschreibfehler machen! – Die Unterstellung, viele Reformkritiker schauten auf „Schüler und wenig schreibende Erwachsene“ mit Verachtung herab (S. 36), ist als unsachliche Stimmungsmache zurückzuweisen. Mir ist kein Kritiker bekannt, der sich so geäußert hätte; allerdings sehen wir in Schülern und Wenigschreibern auch nicht den Maßstab für die Orthographie einer hochentwickelten Schriftsprache.

37* Der führende Reformer Dieter Nerius hat bereits 1989 behauptet, in recht tun, leid tun und weh tun steckten ehemalige Substantive! Kein Wunder, daß auf dem Boden dieses dreifachen Irrtums die völlig inkonsequenten Neuschreibungen recht tun, Leid tun und wehtun wachsen konnten.

38* In einem für den KMK-Vorsitzenden ausgearbeiteten Papier „Stellungnahme zu Th. Icklers Die Rechtschreibreform auf dem Prüfstand vom Frühjahr 1997 wird der inkriminierte Satz gar als „Icklers Satz“ apostrophiert!