Theodor Ickler

Die Mannheimer Anhörung im Januar 1998

Nachdem die deutschen Kultusminister ebenso wie die zwischenstaatliche Kommission lange Zeit auf dem Standpunkt beharrt hatten, das 1996 beschlossene Regelwerk solle vor seinem geplanten Inkrafttreten nicht mehr verändert werden, überraschte die Kommission im Dezember 1997 mit folgender Pressemitteilung:

Pressemitteilung Mannheim, 18. Dezember 1997

Zwischenstaatliche Kommission
für deutsche Rechtschreibung
legt ihren Bericht vor

Zusammenfassende Beurteilung:
Zur Kritik im einzelnen:
„Einleitung“
„Zur Laut-Buchstaben-Zuordnung“
„Zur Getrennt- und Zusammenschreibung“
§ 34 (neu)
Kommentar:
§ 36 (neu)
Kommentar:
Zur Schreibung mit Bindestrich
Zur Groß- und Kleinschreibung
„Zur Worttrennung am Zeilenende“
Amtschefskommission rät: Regelwerk für die neue Rechtschreibung nicht ändern
Kommentar zur Pressemitteilung der KMK vom 12.2.1998

Die von Deutschland, Österreich und der Schweiz eingesetzte Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung legt noch vor Weihnachten ihren ersten Bericht vor. Sie hofft dadurch die Diskussion zu versachlichen und die Akzeptanz gegenüber der Neuregelung zu erhöhen. In einer Reihe von Fällen schlägt sie vor, neben der neuen auch die alte Schreibung beizubehalten. So können die Schreibenden selbst entscheiden. Auch bleiben alle neu gedruckten Rechtschreibwörterbücher gültig, da die neuen Schreibungen weiterhin gelten. Darüber hinaus hat die Kommission Gespräche mit den großen Wörterbuchverlagen geführt, um die Darstellung der neuen Schreibung zu optimieren.

Der Entwurf des Berichts wird etwa 30 Verbänden in Deutschland (darunter der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, dem Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags, der Studiengruppe Geschriebene Sprache usw.), Liechtenstein, Österreich und der Schweiz mit der Bitte um Stellungnahmen zugeschickt. Die Kommission hat darüber hinaus die Verbände nach Mannheim zu einem Gespräch im Januar 1998 eingeladen. Erst danach wird die Kommission die endgültige Fassung ihres Berichtes anfertigen und an die zuständigen Stellen in den deutschsprachigen Ländern schicken.

Die Kommission hat alle konstruktive Kritik ernsthaft geprüft. Rein emotionale Äußerungen konnten daher nicht berücksichtigt werden. Neben Klarstellungen und ergänzenden Beispielen schlägt die Zwischenstaatliche Kommission vor, sowohl bei den bereits vorhandenen als auch bei den neu eingeführten Variantenschreibungen den Schreibgebrauch zu beobachten. So können die Schreibenden in einigen wenigen umstrittenen Fallgruppen wählen, z. B. zwischen Quentchen und Quäntchen, verbleuen und verbläuen, zwischen kalt stellen und kaltstellen, nahegehen und nahe gehen, zwischen ratsuchend und Rat suchend sowie zwischen Alma mater und Alma Mater, Chewing-gum und Chewing-Gum. Zwei Schreibungen empfiehlt die Kommission auch für die besonders kontrovers diskutierten Fälle Leid tun und leid tun, Not tun und not tun, Pleite gehen und pleite gehen, Feind sein und feind sein. Im Bereich der Worttrennungen wurde mit den großen Wörterbuchverlagen vereinbart, in den weiteren Auflagen alle durch die Regeln erlaubten Trennungen im Wörterverzeichnis anzugeben.

Der Bericht, dem die Mannheimer Anhörung gelten sollte, war noch Anfang Januar 1998 nicht an alle Teilnehmer verschickt, auch die Einladung selbst hatten wenige Tage vor dem Termin nicht alle Einzuladenden bekommen.

Eingeladen waren fast ausschließlich die bekannten Befürworter der Reform. Das angekündigte Gespräch fand am 23. Januar 1998 in den Räumen des IDS in Mannheim statt. Ein Protokoll wurde nicht geführt. Obwohl durch die Einladungspolitik der Kommission eine überwältigende Mehrheit zugunsten der Reformpläne sichergestellt war, kann weder die Anhörung selbst noch ihre Echo in den Medien als Erfolg der Reformer verbucht werden. Dafür war zunächst schon der Ausschluß der Öffentlichkeit verantwortlich. (Die dennoch erschienenen Journalisten wurden aus dem Saal gewiesen.) Von den wenigen Reformkritikern, die – zum Teil erst nach umständlichen eigenen Bemühungen und wenige Tage vor der Veranstaltung – zugelassen worden waren, lehnten der „Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege“ (vertreten durch Hans Krieger) sowie die Initiative „Wir Lehrer gegen die Rechtschreibreform“ (die ich vertrat) die Korrekturvorschläge ab; die „Studiengruppe geschriebene Sprache“ begrüßte sie als Schritt in die richtige Richtung, erneuerte aber ihre Kritik an der Reform und an der Zusammensetzung der Kommission.

Das ganze Ereignis wurde wenig später in ein seltsames Licht gerückt, als zunächst die Fachbeamten der Kultusministerien, dann die Amtschefskommission und schließlich die KMK selbst erklärten, die Korrekturvorschläge ihrer eigenen Expertenkommission nicht annehmen, sondern die Reform unverändert am 1.8.1998 in Kraft setzen zu wollen. – So geschah es dann auch.

Es folgt – mit einigen Kürzungen – der von mir schriftlich eingereichte und in Kurzfassung auch mündlich vorgetragene Kommentar zum „Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung“.

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Zusammenfassende Beurteilung
:

Der „Bericht“ ist eigentlich kein solcher, sondern ein unter dem Eindruck der Kritik entstandener, mit Rechtfertigungsversuchen durchsetzter Vorschlag, die Rechtschreibreform in wesentlichen Punkten zu korrigieren. Dies wird jedoch nicht deutlich gesagt; statt dessen ist die Rede von „Präzisierung“, „Weiterentwicklung“, „Neu-“ und „Umformulierung“, „Erläuterungen“, „Ergänzungen“, „Kommentaren“, allenfalls von „kleinen inhaltlichen Modifikationen“, „kleineren inhaltlichen Veränderungen“ „an einigen Stellen“. Hinter dem Begriff „Neuformulierung von Regelteilen [im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung]“ verbirgt sich in Wirklichkeit ein totaler Umsturz.

Diese Verharmlosungstendenz ist verständlich genug, hat aber auch eine ganz besondere Begründung: Die Verfasser betonen auffallend oft, daß ihre neuen Vorschläge „keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Wörterbücher“ haben. Damit wollen sie offenbar nicht nur die großen Verlage beruhigen, die schon jetzt über einen nahezu vollständigen Einbruch auf dem Wörterbuchmarkt klagen, sondern vor allem die Kultusministerien, die in der rechtzeitigen Bereitstellung benutzbarer und leidlich einheitlicher Wörterbücher eine Voraussetzung für das Gelingen ihrer um zwei Jahre vorgezogenen Einführung der Reform in die Schulen sahen.

In Wirklichkeit greift die Änderung tief in die Neuregelung ein und macht sämtliche neuen Wörterbücher zu Makulatur. Denn wenn der Benutzer in diesen Wörterbüchern auch „in der Regel“ (S. III) nur solche Schreibweisen findet, die im Sinne der Neuregelung „richtig“ sind, so findet er doch beileibe nicht alle richtigen Schreibungen. Damit sind die neuen Wörterbücher für Korrekturzwecke unbrauchbar, d. h. vor allem: für sämtliche Lehrer.

Hier ist auch eine Problematik zu erwähnen, die von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird: Wenn der Bericht vorschlägt, abweichend von den Zumutungen der „Neuregelung“ bestimmte herkömmliche Schreibweisen als Varianten weiterhin gelten zu lassen, so scheint dies auf einen gefälligen Kompromiß hinauszulaufen, mit dem der eine oder andere Kritiker sich wohl zufrieden geben könnte. In Wirklichkeit liegen die Dinge viel komplizierter: An die Stelle einer herkömmlichen Unterscheidungsschreibung tritt nunmehr eine Variantenschreibung ohne Unterscheidungsfunktion. Dazu ein Beispiel:

Bisher: schwer fallen (‚stürzen ‚), aber: schwerfallen (‚Mühe bereiten ‚)

Neuregelung: schwer fallen (‚stürzen‚ oder ‚Mühe bereiten ‚)

Revidierte Neuregelung: schwer fallen (‚stürzen ‚), aber: schwerfallen oder schwer fallen (‚Mühe bereiten ‚)

Die Revision führt also nicht zur gültigen Regelung zurück, sondern schafft einen neuen, unklaren Zustand, der nicht besser ist als die kritisierte Neuregelung. Da die gültige Dudennorm bis 2005 ohnehin zulässig bleibt und daneben sowohl die neuen als auch die revidiert-neuen Schreibweisen gelten sollen, ist eine außerordentlich unsichere Lage entstanden, auf deren Widerspiegelung in den Wörterbüchern man gespannt sein darf.

Sichtlich in die Knochen gefahren sind den Reformern die Tausende von Abweichungen zwischen den Wörterbüchern. Daher versucht die Kommission mit allen Mitteln, wenigstens die größeren Wörterbücher auf eine gemeinsame Linie zu verpflichten. Schon seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe hat sich das Bertelsmann-Wörterbuch schrittweise an den Duden angeglichen, wodurch der verheerende Eindruck vom Sommer 1996 etwas gemildert wurde. Allerdings darf die vielleicht erreichbare und von der Kommission angestrebte Einheitlichkeit der Wörterbücher nicht mit der Einheitlichkeit der Rechtschreibung verwechselt werden; diese ist durch die zahllosen, nunmehr noch um weitere 1000 vermehrten Varianten in leichtfertigster Weise zerstört worden. An mehreren Stellen betonen die Verfasser, daß sie mit den „großen Wörterbuchverlagen“ Absprachen getroffen hätten oder noch zu treffen beabsichtigten (vgl. S. 23). Ein gutes Regelwerk müßte auch ohne solche konspirativen Spezialvereinbarungen anwendbar sein – von jedermann und nicht nur von den in bedenklicher Weise bevorzugten „großen Wörterbuchverlagen“, die außerdem nach wie vor private Geschäftspartner einiger Kommissionsmitglieder sind.

Die einseitige Ausrichtung auf die Interessen der Wörterbuchverlage läßt sich auch daran erkennen, daß mehr als ein Drittel des Berichts dem Bereich Silbentrennung gewidmet ist, der zwar die Wörterbuchmacher vor große Probleme gestellt hat und sicherlich in linguistisch einwandfreier Weise geregelt sein muß, für die Schreibpraxis im Zeitalter der Textverarbeitung aber völlig nebensächlich ist und auch gar nicht nachgebessert werden soll.

Die Schul- und Jugendbuchverleger werden sich fragen, warum sie in ihren Büchern kostspielige Änderungen vornehmen mußten, die im Lichte der neuen Vorschläge gar nicht nötig gewesen wären.

Die Vorschläge versuchen der Kritik hauptsächlich durch die Zulassung weiterer Varianten entgegenzukommen. Dabei wird meist eine Wiederzulassung der bisherigen und immer noch amtlich gültigen Duden-Orthographie von 1991 vorgeschlagen. Die gesamte Neuregelung erweist sich also mehr und mehr als die Schaffung Tausender von Varianten, nach denen niemand gerufen hat. Dieser Schritt „befreit“, wie die Verfasser sagen, die Schreibenden „vom Entscheidungszwang“. Ein Teil der Varianten – und zwar der sachlich begründete – war bei sinnvoller Auslegung des Duden auch ohne Reform jederzeit zulässig. Der Rest ist durchweg als minderwertig anzusehen, da er gegen grammatische Regeln des Deutschen verstößt oder nützliche Differenzierungen beseitigt. Der Bericht verstärkt das längst nicht mehr überschaubare Durcheinander von Soll- und Kann-Bestimmungen sowie den neuerdings hinzutretenden „Empfehlungen“ so sehr, daß bald niemand mehr wissen wird, welchen Regeln er – außer der schon jetzt alles überspielenden ss-Schreibung – überhaupt folgen soll.

Korrekturen im Bereich der Zeichensetzung und am Wörterverzeichnis sind vertagt worden. Bezüglich der Zeichensetzung wird behauptet, daß die Neuregelung hier „fast ausschließlich nur neue Freiräume“ geschaffen habe, weshalb die Revision nicht so dringlich sei. Das ist doppelt falsch, denn gerade die sogenannten Freiräume haben sich als äußerst kritikwürdige Vergröberung erwiesen, und andererseits gibt es an zwei Stellen neue, gänzlich überflüssige, aber obligatorische Kommas (vor dem Infinitiv gemäß § 77[5] und als drittes Satzzeichen nach angeführter Rede im Sinne von § 93), die mit Recht heftig kritisiert worden sind, und zwar gerade auch von pädagogischer Seite. Der eigentliche Grund ihrer Nichtbehandlung besteht wiederum darin, daß die Zeichensetzung für die Wörterbücher unproblematisch ist (vgl. S. IX).

An vielen Stellen schlägt der Bericht eine Rückkehr zur gültigen Dudennorm vor, will aber um der neuen Wörterbücher willen zugleich an den Neuschreibungen festhalten, mögen sie noch so überflüssig, willkürlich und sogar ungrammatisch sein. Das kann nicht das letzte Wort sein. Neben dem Richtigen hat das Falsche kein Daseinsrecht: so Leid es mir tut, Pleite gehen, die Maschine ist Wasser sparend – so etwas darf es einfach nicht geben! Ganz zu schweigen von jenen eindeutig falschen Schreibweisen (wie Recht Sie haben, Hilfe ist Not usw.), bei denen sich die Reformer noch nicht entschließen konnten, die einzig richtigen Schreibungen wiederzuzulassen. – Rücksichtnahme auf die voreilig gedruckten Wörterbücher und auf die daran geknüpften Hoffungen irregeleiteter Kultusminister kann nicht der höchste Maßstab einer Orthographie sein, die „Vorbildcharakter“ für alle haben soll.

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Zur Kritik im einzelnen:

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„Einleitung“

Um den Vorwurf abzuwehren, die neue Rechtschreibkommission sei im Grunde die alte und daher kaum in der Lage, ihr Werk angemessen zu korrigieren, legen die Verfasser auf die Feststellung Wert, die Kommission sei mit dem Internationalen Arbeitskreis „nicht identisch“ (S. 2). Das ist nur die halbe Wahrheit; die andere Hälfte besteht darin, daß sieben der elf Kommissionsmitglieder (zunächst: acht von zwölf) bereits dem Internationalen Arbeitskreis angehörten, der das Reformwerk geschaffen hat. Es gibt also eine überwältigende personelle Identität, und diese ist es, die – neben den schlechten Erfahrungen mit der Neuregelung – Zweifel an der Eignung der Kommission aufkommen läßt.

Dreißig (in Wirklichkeit 36) Verbände und Institutionen „sind eingeladen“ (S.3), am 23. Januar 1998 an einer Anhörung teilzunehmen und vorher schon Kurzfassungen ihrer Stellungnahmen einzureichen. Tatsache ist, daß noch Anfang Januar 1998 nicht alle Institutionen die Einladung erhalten hatten und der hier kommentierte „Bericht“ überhaupt noch nicht verschickt worden war. Die Studiengruppe Geschriebene Sprache und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung sind gar bereits zu Gesprächen am 17. bzw. 19. Januar eingeladen und hatten den Bericht am 5. Januar noch nicht erhalten! (Die Akademie sagte ihre Teilnahme an dieser Runde ab. Die österreichische IG Autoren hatte sogar eine Woche vor dem Anhörungstermin weder Einladung noch Bericht erhalten.) Im Rückblick auf die Anhörung vom 4. Mai 1993 bemängelt der Reformer Hermann Zabel, daß die meisten Teilnehmer ihre Stellungnahmen abgaben, ohne die Mitglieder ihrer Verbände befragt zu haben (Zabel 1996, S. 66). Im Gegensatz zu damals gibt es heute schon aus Termingründen nicht die geringste Möglichkeit, eine solche Mitgliederbefragung durchzuführen. – Es ist auch keineswegs die Aufgabe der Zwischenstaatlichen Kommission, „die Kritik zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung aufzuarbeiten und Vorschläge für Modifikationen zu machen“ (S. 4). Sowohl das Kommissionsmitglied Horst Sitta (in Eroms/Munske [Hg.]: Die Rechtschreibreform – Pro und Kontra) als auch das Institut für deutsche Sprache (Pressemitteilung vom 23. Januar 1997) haben darauf hingewiesen, daß die Reparatur des Regelwerks nicht zu den Aufgaben der Kommission gehöre, und es steht auch nichts dergleichen in der Wiener Absichtserklärung.

Sowohl im Bericht als auch in einer vorbereitenden „Pressemitteilung“ vom 18. Dezember 1997 und in der Einladung zur Anhörung sagt die Kommission, sie habe „ernst zu nehmende“ und „sachliche“ Kritik an der Neuregelung geprüft; dies schränkt sie jedoch sogleich auf „konstruktive“ Kritik ein und stellt sie der „emotionalen“ gegenüber (vgl. Pressemitteilung und Bericht, S. 7). Mit der Möglichkeit einer sowohl sachlichen als auch destruktiven Kritik rechnet sie offenbar nicht. Das erklärte Ziel von Bericht und Anhörung ist es denn auch, die „Akzeptanz der neuen Rechtschreibung“ (Einladung und Bericht) oder gar die „Akzeptanz gegenüber [!] der Neuregelung“ (Pressemitteilung) zu erhöhen. Es wiederholt sich das Bild, das die neueren Reformbemühungen seit Jahrzehnten bieten: Die Reformwilligen bleiben unter sich; sie wollen niemanden anhören oder gar in ihren Reihen haben, der eine Rechtschreibreform gar nicht für nötig hält und vielleicht für eine weniger radikale „Pflege der Orthographie“ plädiert.

Die unermüdlich (auch von den Kultusministern) wiederholte Beteuerung, man wolle zur „Versachlichung“ der Diskussion beitragen, erweist sich als Versuch, jedermann auf eine positive Einstellung zur Reform festzulegen. Die seit langem vorliegenden sprachwissenschaftlichen Argumente und Analysen werden großenteils übergangen, weil sie gerade wegen ihrer wirklichen Sachlichkeit zu vernichtenden Bewertungen der gesamten Reform gelangen und daher in den Augen der Reformwilligen eo ipso „emotional“ sein müssen. Leider nennt die Kommission keine Namen, so daß man nicht erkennt, welche „hochemotionalen Reaktionen“ in „manchen Broschüren“ sie mit ihren ironischen Bemerkungen auf S. 7 in die pathologische Ecke zu schieben versucht.

Die Ausführungen über Usus und Norm (S. 4f.) sind problematisch. Es wird nicht begründet, warum die Beschreibung des Usus nicht genügen soll, warum also daneben noch eine staatlich verordnete Norm gesetzt werden muß, von der mit Recht gesagt wird, daß sie sich nie mit dem Usus decken kann – sonst wäre sie ja offensichtlich überflüssig, weil man nicht vorschreiben muß, was ohnehin geschieht. Die Norm, so heißt es, sei starr und bleibe daher immer wieder hinter dem dynamischen Usus zurück. Sie müsse angepaßt werden, und eben dies sei Aufgabe der Kommission. Durch solche Anpassungen und Neuregelungen werde die Norm wieder stärker an den tatsächlichen Sprachgebrauch herangeführt. – Allerdings verstößt die Neuregelung in wesentlichen Teilen gegen diesen Grundsatz, vor allem im Bereich der Groß- und Kleinschreibung, wo sie der Entwicklung zur Großschreibung von festen Begriffen (Nominationsstereotypen) wie Erste Hilfe, Schneller Brüter usw. ausdrücklich „entgegenwirken“ will, und bei der forcierten Getrenntschreibung (s. mit etwas auseinander setzen, so genannt usw.). Aber auch die Neuschreibungen Tunfisch, Spagetti usw. entsprechen keiner Veränderung des tatsächlichen Gebrauchs, sondern sind frei erfunden. Mit welchem Recht der Staat die Bevölkerung überhaupt zu anderen als den gewohnten Schreibweisen nötigen könnte, bleibt unerörtert.

„Zwingend notwendig in der Rechtschreibung ist überhaupt kein Detail, weil vieles arbiträr ist; etwas zu ändern ist jedoch immer schwierig, weil die Rechtschreibung konventionell ist.“ (S. 6) – Mit dieser Aussage setzen sich die Verfasser über die Einsicht hinweg, die sie in den Jahrzehnten der Vorbereitung gewonnen haben. Der Vorsitzende der Kommission sprach selbst mehrfach von dem „Irrglauben, die deutsche Rechtschreibung sei ein einziges Chaos“ (Augst et al. [Hg.]: Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Tübingen 1997, S. 126 u.ö.). Die wenigen tatsächlich arbiträren, aus heutiger Sicht durch bloße Konvention geregelten „Details“ (z. B. die Verteilung mancher Dehnungszeichen oder die Schreibung des Diphthongs ai) sind jedenfalls kein Freibrief für willkürliche Eingriffe. Was gegen solche Eingriffe spricht und den Widerstand der Sprachgemeinschaft wachruft, ist daher auch nicht die bloße Gewohnheit, sondern in den meisten Fällen die intuitive Einsicht in einen systematischen Zusammenhang, der durch willkürliche Eingriffe zerstört wird. So ist es zwar in einem banalen Sinn „arbiträr“, daß im Deutschen die sogenannten Verbzusatz-Konstruktionen (aufgeben, zusammenspielen, freisprechen usw.) zusammengeschrieben werden; aber da diese Technik nun einmal existiert, steht es niemandem mehr frei, für heiligsprechen plötzlich Getrenntschreibung zu verordnen, wie es die Neuregelung will.1* Die überraschende Bestimmung, Adjektive auf -ig, -isch oder -lich sollten nicht mehr mit Verben zusammengeschrieben werden und daher müsse es künftig heilig sprechen (aber weiterhin freisprechen) heißen, ist ihrerseits völlig willkürlich; sie hat nicht die geringste Unterstützung durch das System der Sprache und der Orthographie. (Diesen Eingriff nehmen die Reformer in ihrem Bericht zurück, s. u.)

Übrigens sprechen die Verfasser gleich im nächsten Absatz vom „Schriftsystem“, in das durch die Neuregelung nicht nachhaltig eingegriffen werden solle. Ein System aus lauter „arbiträren Details“ ist aber ein Widerspruch in sich.

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„Zur Laut-Buchstaben-Zuordnung“

Die Aussage, die Neuregelung habe einige Ausnahmeschreibungen „korrigiert“ (S. 10), läßt eine seltsame Auffassung von Sprache und Schrift erkennen. Geltende Konventionen „korrigiert“ man nicht, und Känguru ist nicht „korrekter“ als Känguruh.

Die Kommission behauptet, „wichtige Einwände bzw. Anfragen“ hätten darauf gezielt, auch bei Drittel, Mittag und dennoch konsequenterweise drei gleiche Konsonantenbuchstaben zu schreiben (S. 11). In der öffentlichen Diskussion ist mir dieses Argument nie begegnet, so daß ich die Behandlung dieser Frage eher als Ablenkung von der viel wichtigeren Problematik der Dreifachschreibung überhaupt ansehen möchte. Auf die Bedenken, die gegen die außerordentliche Vermehrung von Dreifachschreibungen geäußert worden sind (helllicht usw., mit Bindestrich nach § 45 Flächenstill-Legung usw.; vgl. meinen „Kritischen Kommentar“), geht die Kommission leider nicht ein.

Auch die Kritik an der laut Neuregelung einzig zulässigen Schreibweise Tollpatsch richtet sich nicht gegen die Kennzeichnung des Kurzvokals, sondern gegen die konzessionslose Verordnung volksetymologischer Schreibungen. Auch im Bericht dekretieren die Reformer schlicht, „der heutige Sprachteilnehmer“ stelle Tollpatsch zu toll (S. 12). Selbst wenn den meisten Menschen die ins Ungarische weisende korrekte Etymologie nicht bekannt sein dürfte, brauchen sie nicht an toll zu denken; viele dürften sich gar nichts dabei denken, sondern das Wort einfach hinnehmen. (Es sei auch noch einmal auf die Randständigkeit dieses und anderer von der Reform erfaßter Wörter hingewiesen; man kann doch die Schreibung von Tolpatsch nicht im Ernst für eine schulrelevante Fehlerquelle halten!)

nummerieren steht nur dann „im Einklang mit der Grundregel“ (S. 11), wenn man von Nummer ausgeht und darauf das Stammprinzip anwendet. Gerade dies wird aber von der Kritik angefochten. Wiederum behaupten die Reformer ohne Beweis, nummerieren werde „vom weitaus größten Teil der heutigen Sprachteilhaber zu Nummer gestellt“ (S. 12). Woher wissen sie das? Warum muß man auch alle anderen Sprachteilhaber, die das Wort lieber wie Numerus, numerisch usw. schreiben möchten, zur „neumotivierten“ Schreibweise zwingen? Wahrscheinlich handelt es sich bei der obligatorischen Neuschreibung um eine Spielmarke für die Verhandlungen bei der geplanten Anhörung; danach wird dann freigegeben wie bei den anderen umstrittenen Fällen. Aus unerfindlichen Gründen geben die Reformer bei Tollpatsch, einbläuen, belämmert und Quäntchen schon jetzt nach, nicht aber bei den historisierenden Schreibungen behände, Stängel, Gämse. Stets behaupten sie ohne jeden Beweis, genau zu wissen, woran die heutigen Sprecher bei den einzelnen Wörtern denken oder nicht denken. In Wirklichkeit läßt sich belegen, daß viele Sprecher zum Beispiel bei behende keineswegs an die Hände denken: Behende klettern sie (die Ziegen!) gleich gruppenweise in den Baumkronen herum (F.A.Z. 13.6.1996). Die Reformer geben nun zu, daß der etymologische Zusammenhang hier „nicht mehr immer als zwingend empfunden“ wird. Gleichwohl behaupten sie, die historisierende Schreibung bringe „durch die Angleichung an die Stammschreibung Vereinfachung“ (S. 14). Das ist eine Petitio principii, denn nur soweit der Zusammenhang noch empfunden wird, kann ja überhaupt von Stammschreibung die Rede sein. Sonst hat die Grundregel §13 Vorrang, wonach kurzes [e] als e wiederzugeben ist; behende ist also zunächst einmal – d. h. vor jeder etymologischen Motivierung – einfacher als behände. Dasselbe gilt übrigens für die Schreibung verbleuen gegenüber verbläuen. Die Reformer wollen hier beobachten, ob „die Schreibenden an der alten, etymologischen Schreibung verbleuen festhalten oder ob sie die durch die sekundäre Motiviertheit begründete neuen Schreibung verbläuen mehr und mehr verwenden.“ (S. 6) Auch hier wird vergessen, daß vor jeder Motiviertheit eu nach § 16 die Normalschreibung des Diphthongs [oU] und nicht nur eine „etymologische“ ist.

Im übrigen vermeiden es die Reformer, über die Einzelbeispiele behände, überschwänglich usw. hinaus auf die zentrale Kritik einzugehen, die sich ja nicht an Einzelwörtern entzündet, sondern am höchst selektiv verwirklichten Prinzip des etymologisierenden Schreibens überhaupt. Warum ausgerechnet behände, aber nicht Spängler, käntern, ja sogar märken, sätzen usw.? – Hunderte von ebensogut begründbaren etymologischen Schreibungen warten auf ihre Aktivierung. Aber die Verfasser tun so, als hätten sie dieses schlagende Gegenargument überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.

Die neue ss-Schreibung wird wieder als Stärkung des Stammprinzips dargestellt, obwohl schon oft nachgewiesen worden ist, daß sie damit nichts zu tun hat. Von allen Einwänden, die gegen die neue s-Schreibung vorgebracht worden sind, wird nur der unwichtigste aufgegriffen, nämlich die „landschaftlich abweichende Aussprache in einigen wenigen Wörtern (zum Beispiel Spaß mit Kurzvokal)“ (S. 16). Damit haben die Reformer natürlich keine Schwierigkeiten, da der Orthographie die Standardsprache zugrunde zu legen ist. – Der Hinweis, daß die ss-Schreibung „ohnehin vielfach als ‚Ersatzschreibung‚ gebraucht wird (Computer!) und in der Schweiz seit Jahrzehnten allgemein üblich ist“ (S. 17), muß als bewußte Irreführung bezeichnet werden, denn die Verfasser wissen ganz genau, daß die vollständige Abschaffung des ß etwas grundsätzlich anderes ist als die stellungsbedingte halbe Ersetzung, wie sie von der Neuregelung vorgesehen ist.

In einem Abschnitt über die Fremdwortschreibung mokieren sich die Reformer über gelegentlich in der Presse angeführte falsche Beispiele wie Katastrofe und Apoteke, verschweigen aber geflissentlich, daß genau diese Schreibungen noch in der Vorlage vom Sommer 1995 enthalten waren und ihnen zu ihrem großen Bedauern von den Kultusministern herausgestrichen worden sind (vgl. Zabel 1996, S. 341ff.).

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„Zur Getrennt- und Zusammenschreibung“

Die Verfasser behaupten:

„Die Beratungen haben zu einigen Vorschlägen für Neuformulierungen in den amtlichen Regeln geführt, wobei sich an der grundsätzlichen Richtung der Neuregelung nichts geändert hat.“ (S. 21)

Nichts könnte irreführender sein. Erstens werden die Regeln nicht nur „neu formuliert“, sondern es werden gänzlich neue Regeln formuliert. Und diese Regeln sind nicht nur inhaltlich verschieden und führen zu ganz anderen Schreibweisen als den durch die Neuregelung vorgeschriebenen, sondern es sind Regeln von grundsätzlich anderer Orientierung:

• Als völlig neues Kriterium wird die Betonung eingeführt.

• Die bisher geschlossenen Listen werden durch offene ersetzt.

Dadurch werden – abgesehen von den großen Mengen veränderter Schreibungen – zahlreiche Gruppen, die bisher einfach nebeneinanderstanden, nunmehr zu Ausnahmen. Wenn die Reformer behaupten, die „grundsätzliche Richtung der Neuregelung“ ändere sich nicht, so bekunden sie damit allenfalls ihren unveränderten Willen, etwas gegen die von der Sprachgemeinschaft für richtig gehaltene Zusammenschreibung zu unternehmen. Mit diesem Eingriff sind sie jedoch gründlich gescheitert.

Die Einleitung zu diesem Teil des Berichts ist ein so bemerkenswertes Stück deutscher Prosa, daß die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ es sich nicht nehmen ließ, ein kurzes Zitat daraus als „Fundsache“ zu präsentieren (15.1.1998):

„Bei der Getrennt- und Zusammenschreibung handelt es sich darum, zwei (oder mehr) nebeneinander gestellte sprachliche Einheiten als lexikalisch eigenständige Formen oder als gemeinsame Einheit grafisch zu markieren. Übergeordnete Einheiten können entweder als kontextfreie oder als kontextsensitive Wortgruppen erscheinen. Die Selbständigkeit von Wörtern bzw. Lexemen kann durch diachrone Prozesse (Lexikalisierung mit daraus folgender Univerbierung) und synchrone Prozesse (Inkorporation) aufgehoben werden. Auch bei Inkorporation wird der Wortgruppenstatus erst durch Lexikalisierung (Phraseologisierung) erreicht, sodass sich letztlich auch hier diachrone Prozesse auswirken. Diese Prozesse machen sich auch in der Betonung bemerkbar (Unbetontheit von autosemantischen Elementen).“ (S. 20)

Was mag das alles bedeuten?2* Was sind „lexikalisch eigenständige Formen“? Wieso wird der Wortgruppenstatus – was immer das sein mag – erst durch „Lexikalisierung (Phraseologisierung)“ und damit historisch erreicht? (In der Neuregelung ist ständig von „Wortgruppen“ die Rede, die keineswegs lexikalisiert oder phraseologisiert sind.) Ist blaustreichen/blau streichen (s. u.) eine „Wortgruppe“, ist es „diachronisch“ „lexikalisiert“, „phraseologisiert“, „univerbiert“, „inkorporiert“, „autosemantisch“, „kontextfrei“, „kontextsensitiv“ - und wird es darum nun nach Belieben getrennt oder zusammengeschrieben?

Der Text fährt fort:

„Für die Normierung der Rechtschreibung muss die Frage entschieden werden, ob sich die Rechtschreibnorm an der morphologischen Form der Wörter orientiert, die man aus einem Wörterbuch entnehmen kann (tendenzielle Getrenntschreibung), oder ob semantische Verschiebungen aus der Funktion innerhalb von Wortgruppen und aus metaphorischen Gebrauchsweisen (tendenzielle Zusammenschreibung) berücksichtigt werden.

In der Geschichte der deutschen Rechtschreibung gab es verschiedene Versuche, Wortgruppenphänomene durch Zusammenschreibung zu bezeichnen. Wegen der Tatsache, dass diachrone Prozesse grundsätzlich nicht abgeschlossen sind, wenn sie auf universellen Gegebenheiten des Sprachwandels beruhen, ist ein unklarer und zum Teil widersprüchlicher Schreibgebrauch entstanden, der zu einem großen Teil nur im Wörterbuch als Einzelfestlegung normiert wurde.“

Aus einem Wörterbuch kann man nur entnehmen, was zuvor hineingeschrieben wurde, so daß auch die Frage, ob es sich um eine Wortgruppe oder um ein Wort handelt, vom Wörterbuchmacher entschieden werden muß, bevor er seinen Wörterbucheintrag macht. Was „semantische Verschiebungen aus (!) der Funktion innerhalb von Wortgruppen und aus (!) metaphorischen Gebrauchsweisen“ sein sollen, ist leider auch nicht zu erkennen. Im nächsten Absatz sind die „diachronischen Prozesse“ offenbar dasselbe wie der gleich darauf erwähnte „Sprachwandel“, so daß die gewagte These lautet: Sprachwandel ist grundsätzlich nicht abgeschlossen, wenn er auf universalen Gegebenheiten beruht. Wieso denn nicht? Es gibt viele Beispiele für Sprachwandel, zum Beispiel Assimilationen, die abgeschlossen sind, obwohl sie auf universalen Gegebenheiten beruhen. Welche „Wortgruppenphänomene“ es sind, die man früher durch Zusammenschreibung zu „bezeichnen“ versuchte, ist unklar.

Die Verfasser sprechen davon, daß bei der Getrennt- und Zusammenschreibung „ein unklarer und zum Teil widersprüchlicher Schreibgebrauch entstanden“ sei; einige Zeilen weiter wird nochmals festgestellt, es sei zu „widersprüchlichen Festlegungen von einzelnen Schreibungen“ gekommen. Nun kann aber weder der Schreibgebrauch noch gar die Festlegung von Einzelschreibungen „widersprüchlich“ sein. Daß nach dem gültigen Duden zum Beispiel radfahren zusammengeschrieben werden darf, Auto fahren aber nicht, ist kein „Widerspruch“. Widersprüchlich wäre es, wenn einzelne Regeln einander entgegengesetzte Anweisungen gäben. Ein solcher Fehler wird aber dem gültigen Duden nicht unterstellt. Auch sind die einzelnen Schreibungen nicht eigentlich durch Einzelfestlegung im Wörterbuch „normiert“ worden, sondern das Wörterbuch hat im wesentlichen den Schreibgebrauch nur aufgezeichnet. Damit kann man auch den einleitenden Satz in Zweifel ziehen, diese „Frage“ (wie immer sie lauten mag, denn der Text ist unverständlich) müsse „für die Normierung der Rechtschreibung entschieden werden“. Warum eigentlich? Es gibt doch, wie sogar die Reformer zugestehen, einen Usus; warum genügt es nicht, ihn festzuhalten und zur Grundlage der „Normierung“ zu machen, d. h. zur Nachahmung vorzuschlagen?

Die Behauptung, durch die Neuregelung werde „das schon bisher geltende Prinzip, wonach in nicht eindeutig geregelten Bereichen getrennt geschrieben werden soll, verstärkt“, trifft nicht zu. Am Prinzip ändert sich gar nichts, sondern es werden zahlreiche durchaus eindeutig geregelte Fälle, für die bisher Zusammenschreibung galt, nunmehr der Getrenntschreibung zugeteilt. Genau diese Verschiebung der Grenze ist es, die sich nun als verfehlt herausstellt. Darum werden schätzungsweise 1000 neue Getrenntschreibungen durch Hinzufügung zusammengeschriebener Varianten entschärft (bezogen auf den Gesamtwortschatz der Dudenkartei sind es ungefähr viermal so viele!). Dieser Rückzug von einer unhaltbaren Position wird als Erweiterung von „Freiräumen“ (S. 22) und immer noch als Verstärkung des Grundprinzips ausgegeben. Daß die willkürlichen, auf eingestandenermaßen unzulänglichen Kriterien beruhenden Neuschreibungen nicht kurzerhand zurückgenommen werden, hat den Grund, daß „die in den neuen Wörterbüchern angegebenen Schreibungen richtig bleiben sollen“.

Die Kommission bemüht sich, die tatsächliche Umorientierung der Regeln in diesem Bereich zu vertuschen:

„Die Änderungsvorschläge der Kommission verstärken das genannte Grundprinzip dadurch, dass die formalen Proben genauer erläutert und zusätzliche Kriterien als Entscheidungshilfe eingeführt werden. Sie erweitern die Freiräume der Schreibenden dort, wo sowohl die Getrennt- als auch die Zusammenschreibung linguistisch gut begründbar ist, durch das Zulassen beider Schreibungen.“ (S. 22)

Das Hauptkriterium war bekanntlich die formale Probe der Steiger- und Erweiterbarkeit. Diese Probe wird aber keineswegs „genauer erläutert“, sondern durch das „zusätzliche Kriterium“ der Betonung weitgehend ersetzt. Die neuen Freiräume entsprechen keinem Bedürfnis der Schreibenden, sondern entspringen der Unfähigkeit der Reformer, eindeutige Kriterien zu finden, es sind Varianten aus Verlegenheit, nicht aus einer Tendenz der Sprachentwicklung heraus.

Unter den „Einzelfragen“ werden „vier Haupteinwände“ angekündigt, aber es folgen nur drei. Verwirrend ist die Gliederung der Antworten auf diese drei Einwände: Die ersten beiden Antworten stehen unter „Analyse“, die dritte unter „Entscheidung der Kommission“. Hier scheint eine frühere Ordnung des Textes gründlich zerrüttet zu sein.

Sehr sonderbar ist das Argument, der Vorwurf der Wortvernichtung sei nicht stichhaltig, „weil viele aus bloßer Gewohnheit zusammengeschriebene Formen keine spezifische Bedeutung haben und daher nicht als eigene Wörterbucheintragungen vorgesehen werden müssen“ (S. 23). Sind es Wörter oder nicht? Wenn es nachweislich welche sind, müssen sie ins Wörterbuch aufgenommen werden, mag auch ihre Bedeutung mit der einer entsprechenden Wortgruppe deckungsgleich sein (wofür aber nicht leicht ein Beispiel aufzutreiben sein dürfte). „Ausgenommen sind natürlich Lexikalisierungen, die wie bisher zusammengeschrieben werden.“ Aber warum fährt der Bericht fort: „Mit den Wörterbuchverlagen sollte eine einheitliche Darstellung abgesprochen werden“? Der Absprachen bedarf es doch nur, wenn die Neuregelung nicht so eindeutig ist, daß jeder daraus ableiten kann, was „Lexikalisierungen“ sind und was nicht. Man sieht wieder: Die Einheit der Rechtschreibung ist dahin, statt dessen bekommen wir die auf inoffiziellen Absprachen beruhende Einheitlichkeit der Wörterbücher.

Übrigens ist der Begriff der „Lexikalisierung“ auf S. 20 als „Phraseologisierung“ umschrieben. Wenn das weitergilt, ist nicht einzusehen, warum Lexikalisierungen „natürlich“ von der Getrenntschreibung ausgenommen sind, also zusammengeschrieben werden sollen. Für Phraseologismen gilt das ja im allgemeinen gerade nicht. – Die Heranziehung der „spezifischen Bedeutung“, also eines semantischen Kriteriums, kommt auch recht überraschend. Vielleicht signalisiert die Kommission damit, daß sie bereit ist, ihren semantikfeindlichen Ansatz aufzugeben?

Die Getrennt- und Zusammenschreibung wird grundlegend geändert, vor allem also die Paragraphen 34 und 36. Das Kriterium der Steiger- und Erweiterbarkeit hat nämlich die Erwartungen nicht erfüllt (erster Haupteinwand und erste Antwort). Als entscheidender Fortschritt wird nun die Einführung der Betonung als Hauptkriterium vorgestellt. Tatsächlich hat die Kritik die Nichtbeachtung der Betonungsunterschiede von Anfang an als Hauptmangel gerügt. Konsequenterweise hätte auch das dritte von mir vorgeschlagene Kriterium, die Nichtunterbrechbarkeit der Verbzusatzkonstruktion, eingeführt werden sollen. Alle diese formalen Merkmale sind allerdings bloß Auswirkungen der grundlegenden, von den Verfassern auch diesmal nicht direkt genannten, geschweige denn in den Mittelpunkt gestellten grammatischen Unterscheidung zwischen freiem Adverbial und Verbzusatz. Die neuen Vorschläge wirken daher wie unbeholfenes Herumbasteln an einem nach wie vor nicht durchschauten grammatischen Sachverhalt. Immerhin sind die Veränderungen in ihrem Ausmaß kaum zu verkennen.

Zur besseren Übersicht habe ich den Paragraphen 34 so rekonstruiert, wie er nach dem „Bericht“ nunmehr aussehen würde:

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§ 34 (neu)


Präpositionen, Adverbien, Adjektive und Substantive können als Verbzusätze trennbare Zusammensetzungen mit Verben bilden. Man schreibt sie nur im Infinitiv, im Partizip I und im Partizip II sowie im Nebensatz bei Endstellung des Verbs zusammen.

Ausnahme: Verbindungen mit dem Verb sein, siehe § 35.

Dies betrifft

(1) präpositionale und adverbiale Verbzusätze. Die Zusammensetzung wird auf dem ersten Bestandteil, dem Verbzusatz, betont, zum Beispiel:

ab- (Beispiele: abändern, abbauen, abbeißen, abbestellen, abbiegen),

Auch: auf- und abspringen, ein- und ausführen, hin- und hergehen usw.

Zur Unterscheidung von Adverb und adverbialem Verbzusatz siehe § 34 E1(1)

(2) Zusammensetzungen aus Adjektiv + Verb: In solchen Verbindungen ist nur der erste Bestandteil betont und im Allgemeinen nicht sinnvoll steigerbar, zum Beispiel:

fehlgehen, fehlschlagen, feilbieten, kundgeben, kundmachen, kundtun, weismachen;

bloßstellen, fernsehen, fertigstellen, freisprechen (= für nicht schuldig erklären), gutschreiben (= anrechnen), heiligsprechen, hochrechnen, innehaben, innehalten, innewohnen, wahrsagen (= prophezeien)

Zu wahlweiser Getrenntschreibung bei Adjektiv + Verb siehe § 34 E1(2)

(3) die folgenden Wörter:

heimbringen, heimfahren, heimführen, heimgehen, heimkehren, heimleuchten, heimreisen, heimsuchen, heimzahlen

irreführen, irreleiten

preisgeben

standhalten

stattfinden, stattgeben, statthaben

teilhaben, teilnehmen

wettmachen

wundernehmen

Vgl. aber § 55(4), Groß- und Kleinschreibung.

E1: In einigen Fallgruppen ist unter bestimmten Bedingungen sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung möglich:

(1) Bestimmte Adverbien werden gleichlautend als Verbzusätze verwendet, zum Beispiel:

beisammen, da, dabei, dafür, dagegen, daher, darum, davor, dazu, dazwischen, gegenüber, hinterher, mit, weiter, wieder, zu, zusammen

Wenn die Betonung nur auf dem ersten Bestandteil liegt, wird zusammengeschrieben, wenn zwei betonte Bestandteile vorliegen, wird getrennt geschrieben, zum Beispiel:

dabei (bei einer Tätigkeit) sitzen / dabeisitzen (während die anderen Karten spielen); daher (aus dem genannten Grund) kommen / daherkommen (des Wegs kommen); wieder (erneut) sehen / wiedersehen (ein Wiedersehen erleben),3* zusammen (gemeinsam) spielen / zusammenspielen (harmonieren)

(2) Verbindungen aus Adjektiv/Adverb + Verb:

Wenn beide Bestandteile betont sind, wird getrennt geschrieben, siehe auch § 34 E2(2), zum Beispiel: frei sprechen (ohne Manuskript), schnell laufen

Wenn nur der erste Bestandteil betont ist, kann sowohl getrennt als auch zusammengeschrieben werden, zum Beispiel:

blaustreichen / blau streichen, glatthobeln / glatt hobeln, hartkochen / hart kochen, kaltstellen / kalt stellen, irrewerden / irre werden, klarmachen / klar machen, nahebringen / nahe bringen, schwerfallen / schwer fallen

E2: In den Fällen, die nicht durch § 34(1) bis (3) sowie § 34 E1(1) und (2) geregelt sind, schreibt man getrennt.

Dies betrifft:

(1) Präposition, Adverb, Adjektiv oder Substantiv + Verb in finiter Form am Satzanfang, zum Beispiel:

Hinzu kommt, dass ...

Fehl ging er in der Annahme, dass ...

Bereit hält sie sich für den Fall, dass ...

Wunder nimmt nur, dass ...

(2) Adverb + Verb, zum Beispiel:

Zu Fällen wie zu Hilfe [kommen] siehe § 39 E2(2.1); zu Fällen wie infrage [stellen] / in Frage [stellen] siehe § 39 E3(1).

(3) Partizip + Verb, zum Beispiel:

gefangen nehmen [halten], geschenkt bekommen, getrennt schreiben, verloren gehen

(4) Verb (Infinitiv) + Verb, zum Beispiel:

lassen, sitzen bleiben, spazieren gehen

Ausnahme: kennen lernen kann auch in einem Wort geschrieben werden: kennenlernen.

(5) Substantiv + Verb, zum Beispiel:

Angst haben, Auto fahren, Diät halten, Eis laufen, Feuer fangen, Fuß fassen, Kopf stehen, Maß halten, Posten stehen, Rad fahren, Rat suchen, Schlange stehen, Schuld tragen, Ski laufen, Walzer tanzen

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Kommentar:

Zunächst wird der Begriff der „Partikel“ beseitigt (dritter Haupteinwand und dritte Antwort) und die umstrittene Partikelliste § 34(1) um mehr als zwanzig Elemente erleichtert (ein Teil taucht unter E1(1) wieder auf). Aber nicht das ist das Entscheidende, sondern die auf den ersten Blick ganz unscheinbare Tatsache, daß diese Liste nunmehr als offene Liste dargeboten wird. Das ist von der Sache her angemessen, stellt aber einen ungemein folgenreichen Einschnitt dar, denn seit Jahren soll gerade an dieser Stelle eine geschlossene Liste den mißliebigen Zusammenschreibungen Einhalt gebieten. Natürlich führt die Öffnung der Listen zu neuen Zweifelsfällen. Zum Beispiel sind potentielle Verbzusätze wie vornüber und hintenüber, von denen bisher fehlerhafterweise nur der zweite in der Liste stand, nun überhaupt nicht mehr erwähnt, so daß Lexikographen und Schreibende in Zweifel geraten, wie es sich hier mit der Getrennt- und Zusammenschreibung verhalten mag.

Erfreulicherweise bequemen sich die Reformer immerhin dazu, erstmals den für meine Kritik zentralen Begriff des „Verbzusatzes“ in ihre Darstellung aufzunehmen, statt weiterhin unprofessionell um die Sache herumzureden. Leider fahren sie zugleich fort, von „Zusammensetzungen“ zu sprechen, wodurch die ganze Darstellung teils schief, teils tautologisch wird, s. u.

Nach welchen Kriterien einige Verbzusätze unter 34(1), andere unter 34 E1(1) subsumiert werden, ist nicht zu erkennen. Nicht nur die Adverbien unter E1(1) werden ja adverbial gebraucht, sondern auch manche unter 34(1): davon, davor, vorher, vorweg usw. Andererseits ist der adverbiale Gebrauch von zu zweifelhaft.

Die umformulierte Unterregel § 34(2) besagt nun, daß zusammengeschrieben werden:

„Zusammensetzungen aus Adjektiv + Verb: In solchen Verbindungen ist nur der erste Bestandteil betont und im Allgemeinen nicht sinnvoll steigerbar, zum Beispiel:

fehlgehen, fehlschlagen, feilbieten, kundgeben, kundmachen, kundtun, weismachen;

bloßstellen, fernsehen, fertigstellen, freisprechen (= für nicht schuldig erklären), gutschreiben (= anrechnen), heiligsprechen, hochrechnen, innehaben, innehalten, innewohnen, wahrsagen (= prophezeien)“

Zur ersten Gruppe hatte es in der Neuregelung geheißen: „Zusammensetzungen aus Adverb oder Adjektiv + Verb, bei denen der erste, einfache Bestandteil in dieser Form als selbständiges Wort nicht vorkommt“ - und die Kritik hatte natürlich sofort gefragt, wie man die Wortart („Adverb oder Adjektiv“) eines Elements bestimmen kann, das als selbständiges Wort überhaupt nicht vorkommt. Nun müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß es sich nach Ansicht der Reformer bei fehl schlicht um ein „Adjektiv“ handele. Nach den Kriterien der Reformer selbst müßte man also sagen können eine fehle Reform usw. (vgl. Augst/Schaeder über das abende Ereignis in ihrer Schrift „Rechtschreibreform: eine Antwort an die Kritiker“. Stuttgart 1997).

Noch bemerkenswerter ist womöglich die zweite Gruppe, die sich sehr von der entsprechenden Liste der Neuregelung (§ 34 E2 [2.2.]) unterscheidet und solche „Adjektive“ wie inne enthält!

Die wegen ihrer Willkür kritisierte Sonderregel für Gefüge mit einem auf -ig, -lich oder -isch auslautenden Adjektiv entfällt, und zwar sowohl unter § 34 wie unter § 36. Damit werden Zusammenschreibungen wie heiligsprechen, übrigbleiben usw. wieder möglich. Die absurde „Analogie“ von artig grüßen und übrig bleiben ist also endlich – nach drei Jahren unablässiger Kritik – als Irrtum erkannt.

Damit ist ein wesentlicher Stein des Anstoßes beseitigt und der alte Zustand – oberflächlich gesehen – wiederhergestellt; aber dieser Fortschritt bleibt natürlich nicht ohne Folgen für die Wörterbücher, die allesamt gewissenhaft verzeichnen, daß zum Beispiel heilig sprechen getrennt, freisprechen aber zusammengeschrieben wird.

Die einzige Bezugnahme auf das einst ausschlaggebende Kriterium der Steigerbarkeit (die „Erweiterbarkeit“ spielt daneben überhaupt keine Rolle mehr) ist so formuliert, daß sie eher wie eine ausschmückende Charakterisierung wirkt und nicht wie das vertraute „Steigerbarkeitskriterium“, als das sie immer noch bezeichnet wird. Als Kriterium hätte es in der Form eines Konditionalsatzes oder restriktiven Relativsatzes eingeführt werden müssen. Übrigens ist das Betonungskriterium, auf dessen Berücksichtigung die Kritik mit guten Gründen bestanden hat, so eindeutig nun auch wieder nicht, vor allem in konkreten Texten, wo die thematische Struktur oft Betonungsverhältnisse erzeugt, die den normalen Sprachteilhaber zu falschen Schlüssen verleiten können. Man wird auf die Dauer eben nicht darum herumkommen, grammatische Sachverhalte beim Namen zu nennen, statt sich auf heuristische Hinweise für den Laien – so nützlich sie sein mögen – zu beschränken.

Der Abschnitt § 34(2) wird so dargeboten, als füge er sich bis auf die genannten inhaltlichen Veränderungen an genau derselben Stelle in das Regelwerk ein, an der er bisher seinen Platz hatte. In Wirklichkeit bedeutet die in kleinerem Druck hinzugefügte Anmerkung „Zu wahlweiser Getrenntschreibung bei Adjektiv + Verb siehe § 34 E2 (2)“ einen totalen Umsturz.

Auch der neuformulierte Paragraph 34 spricht irrigerweise wieder von „trennbaren Zusammensetzungen“, obwohl auf Seite 21 schon von „Wortgruppenphänomenen“ die Rede war, was immerhin eine gewisse Hoffnung auf bessere Einsicht aufkommen ließ.

Die fortgesetzte Redeweise von „Zusammensetzungen“ ist teils tautologisch; denn Zusammensetzungen werden immer zusammengeschrieben, so daß die Aufbietung des Betonungskriteriums überflüssig ist; teils ist sie widersprüchlich, denn bei Zusammensetzungen gibt es keine „wahlweise Getrenntschreibung“, wie die Anmerkung suggeriert. E1(2) spricht daher vorsichtigerweise von „Verbindungen“. blaustreichen wäre demnach eine Zusammensetzung, blau streichen eine Wortgruppe. In Wirklichkeit handelt es sich um ein und dieselbe Verbzusatzkonstruktion mit neuerdings fakultativer Zusammenschreibung; obligatorisch – das heißt: ausnahmslos durchgeführt – ist Zusammenschreibung nur bei ein paar Dutzend listenmäßig erfaßbaren Fällen (Partikelverben im engeren Sinne). Davon streng zu unterscheiden ist jeweils die adverbiale Konstruktion – wobei sich „adverbial“ nicht auf die Wortart, sondern auf die syntaktische Funktion bezieht, was die Reformer leider überhaupt nicht auseinanderhalten.

Die Einführung zu [E1](2) stellt die Zusammenschreibung bei blaustreichen usw. („meist Resultativa“) als Nebenmöglichkeit dar („kann auch zusammengeschrieben werden“), während sie nach § 34(2) (neu) gerade der Normalfall ist.

Zwischen § 34 E1(1) und E1(2) scheint ein kompliziertes Wechselverhältnis zu bestehen, das allerdings undurchsichtig genug formuliert ist. Wenn ich recht verstehe, geht es um folgendes:

(1) Bestimmte Adverbien werden sowohl als Adverbiale als auch als Verbzusätze gebraucht („Differenzschreibung“). In diesem Fall tritt bei Verbzusatzgebrauch, der durch Betonung auf dem ersten Bestandteil gekennzeichnet ist, obligatorisch Zusammenschreibung ein:

dabei (bei einer Tätigkeit) sitzen / dabeisitzen (während die anderen Karten spielen)

(2) Bestimmte Adjektive und Adverbien können in Verbindung mit einem Verb „ohne Differenzschreibung“ in verschiedener Weise betont werden. Ist der erste Teil betont, wird getrennt oder zusammengeschrieben. Ist der zweite Teil (ebenfalls) betont, wird getrennt geschrieben:

freisprechen (ohne Manuskript) / freisprechen (nach § 34[2]) oder frei sprechen (von einer Anklage)

schwer fallen (einen schweren Sturz tun) / schwerfallen oder schwer fallen (Mühe verursachen)

Diese Deutung ist allerdings unsicher, denn erstens widerspricht das Beispiel der Angabe, daß es sich um „Verbindungen ohne Differenzschreibungen“ handele. Zweitens wird unter (2) entgegen der Ankündigung kein einziges Beispiel für ein Adverb gegeben, es sind nur Adjektive angeführt. Andernfalls wäre auch der Unterschied zu (1) nicht zu erkennen.

Vielleicht sind hier mehrere Versehen unterlaufen, sei es in der Regelformulierung, sei es bei der Wahl der Beispiele. Die außerordentliche Fehlerhaftigkeit, die wir unter § 36 finden werden, spricht – zusammen mit der Verworrenheit der einleitenden Abschnitte zu diesem Kapitel – für diese Annahme.

E 2 führt in sehr ähnlicher Form wie bisher die Fälle der Getrenntschreibung auf, berücksichtigt aber zu wenig, daß durch die Neugestaltung der Hauptregel das meiste keine Berechtigung mehr hat, anders gesagt: Dieser Abschnitt geht irrigerweise davon aus, daß vieles „nicht durch § 34(1) bis (3) sowie § 34 E1(1) und (2) geregelt“ ist, was bei sinngemäßer Auslegung sehr wohl geregelt ist, zumal nach dem Übergang von der extensionalen zur intensionalen Definition (offene Listen anstelle geschlossener). Die weiterhin vorgeschriebenen, vom Usus abweichenden Getrenntschreibungen sind daher unbegründet, es sind neue Ausnahmen.

Wie bereits in der „Neuregelung“ werden strukturell völlig verschiedene Verbindungen zusammengeordnet: Präpositionalobjekte (aneinander denken) und Verbzusätze (aneinander legen). Für letztere wird Getrenntschreibung gefordert, weil sie angeblich nicht durch die vorhergehenden Unternummern geregelt sind. Das ist nicht nachprüfbar, da wir nicht erfahren, wohin die mit einander zusammengesetzten Wörter gehören; wir sehen nur, daß sie in keiner der allerdings offenen Listen genannt sind. Das Betonungskriterium legt nahe, Präpositionalobjekte getrennt und die gleichlautenden Verbzusätze wahlweise getrennt oder zusammenzuschreiben. So haben wir nun den kaum begründbaren, der Sprachpraxis widersprechenden Unterschied zusammenrücken, aber aneinander rücken. Ebenso wegfallen, aber anheim fallen; vorwegnehmen, aber vorlieb nehmen usw. (Der Usus neigt hier bekanntlich über den geltenden Duden hinaus zu vermehrter Zusammenschreibung.)

Gänzlich überraschend kommt die einzige zugelassene „Ausnahme“ bei der Zusammenschreibung mit Infinitiven: kennenlernen wird wiederhergestellt. Warum dies für schätzenlernen, spazierengehen usw. nicht gelten soll, für deren Zusammenschreibung sich genau dieselben Argumente anführen lassen, bleibt unklar. Vielleicht wirkt hier die frühe Kritik nach, die das Kommissionsmitglied Peter Eisenberg gerade am Beispiel kennenlernen geübt hat (Praxis Deutsch 1/1995).

Es folgt meine Rekonstruktion von § 36:

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§ 36 (neu)


Substantive, Adjektive, Verbstämme, Adverbien oder Pronomen können als Wortbestandteile mit Adjektiven oder Partizipien Zusammensetzungen bilden. Man schreibt sie zusammen.

Dies betrifft

(1) Zusammensetzungen, bei denen die entsprechende Wortgruppe eine Erweiterung hat, zum Beispiel:

angsterfüllt (aber: von Angst erfüllt), bahnbrechend (aber: sich eine Bahn brechend), butterweich (aber: weich wie Butter), fingerbreit (aber: einen Finger breit), freudestrahlend (aber: vor Freude strahlend), herzerquickend (aber: das Herz erquickend), hitzebeständig (aber: gegen Hitze beständig), jahrelang (aber: mehrere Jahre lang), knielang (aber: lang bis zum Knie), meterhoch (aber: einen oder mehrere Meter hoch), milieubedingt (aber: durch das Milieu bedingt)

denkfaul, fernsehmüde, lernbegierig, röstfrisch, schreibgewandt, tropfnass; selbstbewusst, selbstsicher

Mit Fugenelement, zum Beispiel: altersschwach, anlehnungsbedürftig, geschlechtsreif, lebensfremd, sonnenarm, werbewirksam

Zu wahlweiser Getrenntschreibung bei Substantiv + Partizip siehe § 36 E1(1)

(2) Zusammensetzungen, bei denen der erste oder - häufiger - der zweite Bestandteil in dieser Form nicht selbständig vorkommt, zum Beispiel:

einfach, zweifach; letztmalig, redselig, saumselig, schwerstbehindert, schwindsüchtig; blauäugig, großspurig, kleinmütig, vieldeutig

(3) Zusammensetzungen, bei denen das dem Partizip zugrunde liegende Verb entsprechend § 33 bzw. § 34 mit dem ersten Bestandteil zusammengeschrieben wird, zum Beispiel:

wehklagend (wegen wehklagen); herunterfallend, heruntergefallen; irreführend, irregeführt; teilnehmend, teilgenommen

(4) Zusammensetzungen, deren zweiter Bestandteil gesteigert ist und damit die ganze Verbindung steigert, zum Beispiel:

dieser Schluck Bier war wohltuender als eine Stunde Schlaf; die gewinnbringendste Anlageform; dein Fehler ist schwerwiegender als meiner

(5) Zusammensetzungen aus gleichrangigen (nebengeordneten) Adjektiven, zum Beispiel:

blaugrau, dummdreist, feuchtwarm, grünblau, nasskalt, taubstumm

Zur Schreibung mit Bindestrich siehe § 45(2).

(6) Zusammensetzungen mit bedeutungsverstärkenden oder bedeutungsmindernden ersten Bestandteilen, die zum Teil lange Reihen bilden, zum Beispiel:

bitter- (bitterböse, bitterernst, bitterkalt), brand-, dunkel-, erz-, extra-, gemein-, grund-, hyper-, lau-, minder-, stock-, super-, tod-, ultra-, ur-, voll-

(7) mehrteilige Kardinalzahlen unter einer Million sowie alle mehrteiligen Ordinalzahlen, zum Beispiel:

, siebenhundert, neunzehnhundertneunundachtzig; der siebzehnte Oktober, der einhundertste Geburtstag, der funfhunderttausendste Fall, der zweimillionste Besucher

Beachte aber Substantive wie Dutzend, Million, Milliarde, Billion, zum Beispiel: zwei Dutzend Hühner, eine Million Teilnehmer, zwei Milliarden fünfhunderttausend Menschen

E1: In einigen Fällen ist sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung möglich.

Dies betrifft:

(1) Verbindungen aus Substantiv + adjektivisches Partizip, die auch als Wortgruppen vorkommen, d. h. wenn ein Akkusativobjekt aus einem bloßen Substantiv besteht, das in dieser Verbindung keinen Artikel hat, zum Beispiel:

energiesparende Maßnahmen / Energie sparende Maßnahmen (man spart Energie), ratsuchend / Rat suchend (ich suche Rat), notleidend / Not leidend (er leidet Not)

(2) Verbindungen aus Adjektiv + Partizip, die auch als Wortgruppen vorkommen. Dazu gehören auch einige bedeutungsverändernde Adjektive und Adverbien, die als erste Bestandteile in Zusammensetzungen mit Adjektiv/Partizip vorkommen, aber auch in getrennter Stellung das nachfolgende Wort modifizieren können.

Die Wortgruppe wird meist auf beiden Bestandteilen betont, die Zusammensetzung meist auf dem ersten Bestandteil, zum Beispiel:

zwei engbefreundete / eng befreundete Frauen die beiden Frauen sind eng befreundet / engbefreundet; zwei gleichlautende / gleich lautende Aussagen beide Aussagen sind gleich lautend / gleichlautend; eine gutbezahlte / gut bezahlte Arbeit die Arbeit wird gut bezahlt / gutbezahlt; der hochgebildete / hoch gebildete Mann dieser Mann ist hochgebildet / hoch gebildet; weitreichende / weit reichende Änderungen - die Änderungen sind weit reichend / weitreichend

Zu Fügungen mit Partizip als erstem Bestandteil siehe E2(2)

(3): Lässt sich in einzelnen Fällen der Gruppen aus Adjektiv, Adverb oder Pronomen + Adjektiv/Partizip keine klare Entscheidung für Getrennt- oder Zusammenschreibung treffen, so bleibt es den Schreibenden überlassen, ob sie sie als Wortgruppe oder als Zusammensetzung verstanden wissen wollen, zum Beispiel nicht öffentlich (Wortgruppe)/nichtöffentlich (Zusammensetzung).

E2: In den Fällen, die nicht durch § 36(1) bis (7) sowie durch § 36 E1(1) und (2) geregelt sind sowie in Zweifelsfällen schreibt man getrennt.

Dies betrifft

(1) Fälle, bei denen das dem Partizip zugrunde liegende Verb vom ersten Bestandteil getrennt geschrieben wird, und zwar

(1.1) entsprechend § 35, zum Beispiel:

beisammen gewesen (wegen beisammen sein), zurück gewesen (wegen zurück sein)

(1.2) entsprechend § 34E2: abhanden gekommen, auseinander gegangen, rückwärts blickend

entsprechend § 34 E2(3): verloren gegangen; lebend gebärend

In fachsprachlichen Bezeichnungen von zum Beispiel botanischen oder zoologischen Klassen können Partizipien auch zusammengeschrieben werden, zum Beispiel lebendgebärende Zahnkarpfen.

entsprechend § 34 E2(4): liegen gelassen; schreiben lernend

(2) Fälle, bei denen der erste Bestandteil ein (adjektivisches) Partizip ist, zum Beispiel:

abschreckend hässlich, blendend weiß, gestochen scharf, kochend heiß, leuchtend rot, strahlend hell

(3) Fälle, bei denen der erste Bestandteil erweitert ist, zum Beispiel:

vor Freude strahlend, drei Meter hoch, sehr ernst gemeint

Zur Schreibung mit Bindestrich in Fällen wie wissenschaftlich-technisch siehe § 45(2).

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Kommentar:

§ 36 ist in sonderbarer Weise umformuliert: „Substantive“ usw. „können als Wortbestandteile mit Adjektiven oder Partizipien Zusammensetzungen bilden.“ – Was sind „Wortbestandteile“ hier anderes als Kompositionsglieder? Dann läuft es aber auf die reine Tautologie hinaus, daß es sich eben um Zusammensetzungen handelt.

Ebenso vage wie bisher bleibt der Begriff der „entsprechenden Wortgruppe“, womit offenbar eine Art Paraphrase gemeint ist, durch die man ein Kompositum erklären kann, ohne daß aber eine linguistisch definierbare Beziehung zwischen dem Kompositum und seiner Paraphrase bestünde. Die Paraphrasen sind stets willkürlich und bleiben ebenso linkisch wie bisher. Erfreulicherweise wird der Fachausdruck schwerbehindert ebenso wie Hunderte von ähnlichen Zusammensetzungen wiederhergestellt, jedenfall ist die neue Regel § 36 E1 (2) in diesem Sinne interpretierbar (S. 29). Da die Wörterbücher davon noch nichts wissen, enthalten sie allesamt hier empfindliche Lücken, die auch nicht durch den Hinweis verharmlost werden können, daß jemand, der bei der neuen Getrenntschreibung bleibt, auf jeden Fall auch richtig schreibe.

Wenn man § 36 (4) in der Neufassung des Berichts liest, könnte man meinen, Steigerbarkeit eines Gesamtgefüges wie wohltuender, schwerwiegender, gewinnbringender sei Kriterium der Zusammengesetztheit und damit Zusammenschreibung, aber der Positiv werde im Sinne der Neuregelung getrennt geschrieben (S. 29). Dies war bekanntlich eine der absurdesten Bestimmungen überhaupt. Die Folgerung, daß dem zusammengesetzten Komparativ und Superlativ auch ein zusammengesetzter Positiv gegenüberstehen muß, wird auch jetzt nicht ausdrücklich gezogen, ja der neue Unterparagraph verleugnet einen solchen Zusammenhang geradezu. Aber aus einer anderen neuen Bestimmung (§ 36 E1 [2]) geht hervor, daß nach dem neuen Betonungskriterium Zusammensetzungen wie gutbezahlt, weitreichend usw. ohnehin wieder zulässig sein sollen. Damit steht auch schwerwiegend usw. nichts mehr im Wege. Dutzende von guten Wörtern werden wiederhergestellt – als zumindest auch richtig. Das dürfte auch für heißgeliebt gelten, obwohl der Reformer Schaeder kurz zuvor erklärt hatte, warum es nicht zusammengeschrieben werden dürfe (s. o.).

Überrascht nimmt man zur Kennntnis, daß ein Prunkstück der Reform, die als besonders „konsequent“ gerühmte obligatorische Getrenntschreibung bei Aufsehen erregend, Eisen verarbeitend, Fleisch fressend usw., zurückgenommen wird. Daß in einer „entsprechenden Wortgruppe“ das Substantiv hier keinen Artikel hat, gilt nun (mit Recht!) nicht mehr als hinreichender Grund für Getrenntschreibung. Dadurch werden zahllose inzwischen aus den Wörterbüchern getilgte Zusammensetzungen wieder möglich: energiesparend, ratsuchend, notleidend usw. Der Hinweis, in diesen Fällen sei sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung möglich, soll offenbar die Wörterbuchmisere entschärfen, geht aber an den weiteren Einwänden vorbei, die (außer der gesamthaften Steigerbarkeit in einigen Fällen) gegen die obligatorische Auflösung der Komposita vorgetragen worden sind. Vor allem wird verkannt, daß der prädikative Gebrauch der getrennten Wortgefüge ungrammatisch ist: *der Kredit wurde Not leidend, *diese Waschmaschine ist Wasser sparend usw.

Dasselbe gilt für die folgende Gruppe (2), deren Definition allerdings kaum verständlich ist. „Bedeutungsverändernde“ Adjektive und Adverbien sind möglicherweise ein Rest der „bedeutungsverstärkenden und bedeutungsmindernden“ Adjektive aus der Neuregelung und ebenso ungreifbar wie dort; jedenfalls kann diese Funktion und die im folgenden erwähnte, daß diese Adjektive und Adverbien „auch in getrennter Stellung das nachfolgende Wort modifizieren können“, kein unterscheidendes Merkmal sein, denn das Modifizieren ist schließlich die Wirkung aller Wörter und der Grund, warum wir sie überhaupt verwenden. Lassen wir diese Unklarheiten auf sich beruhen, so stoßen wir in der Liste der Beispiele zunächst auf denselben grammatischen Schnitzer wie in der vorhergehenden Gruppe: *beide Aussagen sind gleich lautend und *die Änderungen sind weit reichend.

Womöglich noch ärger ist der reziproke Fehler beim Partizip II: die Arbeit wird gutbezahlt. Dies setzt eine Verbzusatzkonstruktion gutbezahlen voraus, mit der aber selbst die Neuregelung wohl kaum rechnen dürfte. Stilistisch markiert ist die ohne Kommentar angebotene Möglichkeit die beiden Frauen sind engbefreundet. Der Duden pflegte hier seit langem den Hinweis anzubringen, daß bei prädikativem Gebrauch Getrenntschreibung (und entsprechende Betonung) vorherrscht: die beiden Frauen sind eng bfreundet. Ohne hier den Gründen nachzugehen, darf man sagen, daß die Dudendarstellung den Tatsachen gerecht wurde.

Die Bestimmung, daß Partizipien nicht Erstglieder von Zusammensetzungen sein können, wird zwar beibehalten, so daß kochend heiß im Gegensatz zu lauwarm nur getrennt geschrieben werden darf. Aber bei lebendgebärend machen die Verfasser eine Ausnahme: „Fachsprachlich“ könne auch zusammengeschrieben werden. Allerdings wäre hier zu fragen, ob ein solches Wort anders als in der zoologischen Fachsprache überhaupt gebraucht wird und ferner: Was soll denn die getrennt geschriebene Fügung überhaupt bedeuten? Daß das Muttertier nicht vor oder während der Geburt verendet? (Hier wäre auch an die absurde neue Getrenntschreibung von selbst gebacken, selbst verdient usw. zu erinnern, an der sich offenbar nichts ändern soll.)

Da noch kein korrigiertes Wörterverzeichnis beigegeben ist, läßt sich nicht feststellen, ob die als besonders skandalös empfundene Beseitigung des Wortes sogenannt wieder rückgängig gemacht werden soll.

Einige krasse Fehler (wird gutbezahlt usw.) erwecken den Eindruck, als sei dieser Paragraph unter dem Eindruck der Kritik in panikartiger Eile neugefaßt worden.

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Zur Schreibung mit Bindestrich

Der Bindestrich wurde bisher dazu benutzt, Zusammensetzungen und Ableitungen mit Buchstaben und Formelzeichen gegen Fehllesungen zu schützen: I-Punkt (nicht Ipunkt), Fugen-s (nicht Fugens) usw.; bei Ziffern war das nicht nötig, daher 8fach, 17jährig usw. – eine sehr einfache und geradezu elegante Lösung. Die Neuregelung hat hier aus bloßer Prinzipienreiterei den Gebrauch des Bindestrichs ausgeweitet, allerdings nur halbherzig, so daß er nur bei Zusammensetzungen, nicht aber bei Ableitungen stehen soll: 17-jährig, aber 8fach. Die Grenze zwischen Zusammensetzung und Ableitung ist aber notorisch fließend. Die Kritik hat eingewandt, daß -jährig in der Allgemeinsprache ebenso unselbständig ist wie -fach. Der Bericht schlägt daher vor, daß bei -fach künftig beide Schreibweisen zulässig sein sollen: 8fach oder 8-fach. Man sieht hier, wie sich die Kommission durch Erzeugung immer neuer Varianten aus der Affäre zieht, obwohl die dadurch zu bewältigende Unstimmigkeit in einer zuvor völlig klar und zufriedenstellend geregelten Angelegenheit überhaupt erst durch die Neuregelung erzeugt worden ist. Es bleibt übrigens bei der oft kritisierten Notwendigkeit, bei 17-jährig/die 17-Jährige usw. ständig auf die Groß- und Kleinschreibung des zweiten Bestandteils zu achten, was bei der Häufigkeit solcher Ausdrücke in der Zeitungssprache eine unnötige neue Schwierigkeit mit sich bringt. Abschließend sei darauf hingewiesen, daß für 8mal usw. keine fakultative Bindestrichschreibung vorgesehen ist, obwohl das Element -mal laut § 39(1) als nicht klar erkennbarer Bestandteil von einmal usw. angesehen und aus diesem Grunde zusammengeschrieben werden soll. (Allerdings scheint jedesmal zugunsten von jedes Mal getilgt werden zu sollen.)

Beim Zusammentreffen von drei gleichen Buchstaben führen die Reformer wahre Eiertänze vor, um aus der selbstgeschaffenen Notlage wieder herauszukommen. Wörter wie genußsüchtig boten bisher keinerlei Schwierigkeiten. Durch die Neuregelung wird daraus genusssüchtig. Wegen der erschwerten Lesbarkeit und wohl auch wegen ästhetischer Bedenken schlägt die Neuregelung den Bindestrich vor, der allerdings hier mit Großschreibung des substantivischen Vorderglieds einhergeht (Genuss-süchtig). Dies wiederum wirkt, da es ja bloß um die Entzerrung der drei gleichen Buchstaben innerhalb eines nach wie vor adjektivischen Wortes geht, unangemessen, so daß nun die „Empfehlung“ vorgeschlagen wird, vom Bindestrich doch lieber keinen Gebrauch zu machen! (Welchen Status solche „Empfehlungen“ in einem amtlichen Regelwerk eigentlich haben, wäre ebenso zu klären wie der Status der Haupt- und Nebenvarianten in der „gezielten Variantenführung“.) Das sind die unerwünschten Folgen des vielgerühmten Wegfalls der alten Dreibuchstabenregel, die anscheinend gar nicht so dumm war – und übrigens auch keine praktischen Schwierigkeiten im normalen Schreiballtag verursachte. Der Hinweis der Kritik, daß drei gleiche Buchstaben, wenn sie in den Sprachen der Welt überhaupt vorkommen, jedenfalls eine Rarität sind und auch in der bisherigen deutschen Orthographie äußerst selten auftraten, wird nicht beachtet.

Nach dem Doppelpunkt wird auch die Kleinschreibung in bestimmten Fällen wieder zugelassen, aber es gelingt den Verfassern nicht, diese Fälle angemessen abzugrenzen (S.35). Statt sich – mit welchen Ausdrücken auch immer – den eingebürgerten Begriff des „Freien Themas“ zu eigen zu machen, umschreiben sie den Sachverhalt in ganz unprofessioneller, geradezu kindlicher Weise:

„Wenn statt des Doppelpunktes auch ein Komma oder ein Gedankenstrich stehen kann, ist am Beginn eines Satzes nach dem Doppelpunkt Groß- oder Kleinschreibung möglich.“

Der letzte Beispielsatz ist aber kaum akzeptabel:

Glücklich betrachtete sie ihr Werk: Die/die Arbeit war vortrefflich gelungen. (Auch: Glücklich betrachtete sie ihr Werk, die Arbeit war vortrefflich gelungen.)“

Falls hier ein Komma stehen kann, ist es gewiß nicht das Äquivalent eines Doppelpunkts, der typischerweise zwischen Thema und Kommentar steht.

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Zur Groß- und Kleinschreibung

Bei der Groß- und Kleinschreibung legen die Verfasser wiederum besonderen Wert darauf, daß die neuen Wörterbücher „nicht unmittelbar geändert werden“ müssen. Dabei unterläuft ihnen allerdings ein schwerer Fehler. Sie behaupten nämlich, in „mehrteiligen Substantiven“ aus fremden Sprachen könne laut Regelwerk ein nichterster Bestandteil „theoretisch“ groß oder klein geschrieben werden, „je nachdem, wie stark der Charakter eines Zitatwortes noch empfunden wird, zum Beispiel: die Artificial intelligence / die Artificial Intelligence (...)“ Das ist jedoch falsch. Wenn es sich um ein Zitatwort handelt, wird auch der erste Bestandteil nicht groß geschrieben: artificial intelligence, common sense usw. Ist es aber kein Zitatwort, so wird laut Regelwerk nicht nur der erste Bestandteil, sondern jeder substantivische nichterste Bestandteil groß geschrieben: Artificial Intelligence, Alma Mater usw. Die Verfasser behaupten zu Unrecht, die Wörterbücher hätten sich „im Allgemeinen dafür entschieden, substantivische Bestandteile fremdsprachiger Fügungen in nichterster Position generell großzuschreiben“. Sie durften gar nicht anders. Varianten wie Alma mater waren daher auch im amtlichen Wörterverzeichnis korrekterweise nicht angeführt, die neue Großschreibung war vielmehr als allein zulässig vermerkt. Die neue Formulierung „können ... großgeschrieben werden“ ist daher keineswegs, wie die Verfasser glauben machen wollen, eine Verdeutlichung der neuen Regel, sondern eine substantielle Änderung mit außerordentlich weitreichenden Folgen. Die neuen Wörterbücher wären hier nunmehr in großem Umfang lückenhaft.

Die Beweisführung, warum Tageszeiten wie in heute Abend groß geschrieben werden sollen (S. 37f.), ist sprachwissenschaftlich nicht zu halten. Zwar trifft es zu, daß dem Wort abend hier keine der herkömmlichen Wortarten problemlos zugewiesen werden kann, aber daraus folgt keineswegs, daß man „Rekurs auf das Lexikon“ nehmen müsse, als sei das „Lexikon“ eine neben dem Sprachgebrauch existierende Größe, bei der man sich über Wortartzugehörigkeiten wie über ewige, vom Gebrauch unabhängige Eigenschaften der Wörter vergewissern könnte. In einer früheren Schrift haben die Reformer so argumentiert: Abend sei kein Adjektiv (was allerdings auch niemand behauptet hatte), weil man nicht sagen könne: das abende Ereignis. Deshalb müsse es groß geschrieben werden. Diese lächerliche Beweisführung greifen sie zum Glück nicht wieder auf, aber die neue ist um keinen Deut besser. Der Reformer Peter Gallmann, der heute in der Kommission am entschiedensten für radikale Großschreibung plädiert, hat vor Jahren gezeigt, warum abend in heute abend kein Substantiv sein kann (Augst/Schaeder [Hg.]: Rechtschreibwörterbücher in der Diskussion, Frankfurt 1991, S. 270), und noch in der am weitesten verbreiteten Kurzfassung der Neuregelung sagt der Geschäftsführer der Kommission mit Recht, hier handele es sich um den „nichtsubstantivischen“ Gebrauch ursprünglicher Substantive. Das soll nun alles nicht mehr gelten, und die Verfasser vergessen zugleich, was sie sonst über „Desubstantivierung“ ins Regelwerk geschrieben haben. Sie hinterlassen einen Nebel gelehrt klingender Begriffe: „eine determinative Juxtaposition (...) die Tageszeitbezeichnung folgt dem Adverb als determinierender, nichtprojizierender Kern“, und anschließend führen sie Juxtapositionen zu Substantiven vor wie Universität Rostock, Bettenhaus West, Platz drei und Forelle blau vor, die hier nicht analysiert werden sollen, weil sie, bei großer Verschiedenheit untereinander, mit der Wortart von abend überhaupt nichts zu tun haben. Der abschließende Hinweis auf die sprachgeschichtliche Herkunft ist irrelevant, wie die Reformer sonst bei jeder Gelegenheit (zum Beispiel gleich beim folgenden leid tun) selbst hervorheben.

Bei den Neuschreibungen Leid tun, Not tun, Pleite gehen, Feind sein kommen die Reformer den Kritikern auf halbem Weg entgegen, indem sie für die erwähnten Fälle auch Kleinschreibung wiederzulassen. Das wird aber dem Problem nicht gerecht. Für leid tun ergibt sich ja die obligatorische Kleinschreibung zwingend aus so leid es mir tut usw. Bei pleite gehen ist Kleinschreibung das einzig Richtige, weil gehen nicht mit Substantiven verbunden wird: kaputtgehen, verschütt gehen, verlorengehen, entzwei gehen usw. (die Zusammenschreibung ist hier unterschiedlich geregelt und der tatsächliche Usus wieder ein wenig anders) – eine Reihenbildung, die auch zur Wiederzulassung von bankrott gehen führen müßte, aber hier scheinen die Reformer bei der absurden Neuschreibung Bankrott gehen bleiben zu wollen, weil sie es aus in den Bankrott gehen ableiten zu müssen glauben. – Gar nicht behandelt wird die ungrammatische Großschreibung von Recht haben.

Der vielbelachte „Spinnefeind“ war der Anlaß, die Kleinschreibung für spinnefeind wiedereinzuführen und bei feind sein als Option zuzulassen. Das ist unbefriedigend, weil feind sein nun einmal nicht dasselbe wie Feind sein bedeutet. Außerdem haben die Verfasser aber für die Neuschreibung Freund sein keinen Änderungsbedarf erkennen können.

Die Großschreibung von Substantivierungen in Floskeln wie im Allgemeinen, nicht im Geringsten usw. sowie im pronominalen Verweisapparat (der erste, das folgende usw.) ist von der Kritik als Rückfall in die vorübergehende Ausweitung der Großschreibung vor allem im 19. Jahrhundert kritisiert worden. Dieser Irrweg veranlaßte zum Beispiel Horst H. Munske zu frühzeitig vorgetragener, außerordentlich detailliert begründeter Kritik. Sie läuft auf ein der wirklichen Sprachentwicklung angemessenes Umdenken bei der Groß- und Kleinschreibung hinaus. Es muß daher als gezielte Brüskierung des ehemaligen Mitgliedes der Kommission angesehen werden, wenn es im Bericht heißt: „Die Intensität der Kritik und auch die linguistische Motivation dafür sind aber nicht so stark, dass eine solche Änderung notwendig wäre.“ (S. 40) In Wirklichkeit stellt sich die Neuregelung gegen eine oft nachgewiesene überwältigende Entwicklungstendenz des Deutschen, und wenige Kritikpunkte sind linguistisch so stark motiviert wie der Einspruch gegen die Neuregelung gerade dieses Bereichs.

Die vorgeschlagene Umformulierung von § 58 (5) E4 bringt keinerlei Gewinn: „Wenn die substantivische Geltung dieser Wörter hervorgehoben werden soll (...)“ – „Die substantivische Geltung hervorzuheben“ ist gar nichts vom Schreibenden Intendierbares, da dessen kommunikative Absichten normalerweise auf den Sinn und nicht auf die Wortartendifferenzierung gerichtet sind. Die Umformulierung hat offenbar nur den Zweck, dem Wunsch einiger Kommissionsmitglieder nach noch weiter ausgedehnter Großschreibung entgegenzukommen. Die deutsche Rechtschreibung würde damit freilich noch tiefer ins 19. Jahrhundert zurückgeführt werden.

Auch bei der forcierten Kleinschreibung der sogenannten Nominationsstereotype (erste Hilfe, hohes Haus) sehen die Reformer keinen Änderungsbedarf. Das ist befremdlich, weil nicht nur die Kritik hier besonders einhellig auf Rückkehr zum alten Zustand dringt, sondern von den Reformern selbst unumwunden zugegeben wird, daß sie mit ihrer Neuregelung gegen die „deutliche Tendenz zur Großschreibung der Eingangsadjektive in terminologischen und phraseologischen nominalen Wortverbindungen“ angehen wollen (S. 42). Mit welchem Recht? Verbindungen wie schwarzes Brett usw. seien „normale Wortgruppen aus Adjektiv und Substantiv“ (S. 41). Daß sie so „normal“ nicht sind, belegt aber die Überschrift: „feste nominale Wortgruppen terminologischer und phraseologischer Art“! In ihrer „Analyse“ fassen die Autoren übrigens eine „großzügige Interpretation“ ins Auge und führen ausdrücklich das Hohe Haus als Beispiel an, obwohl im Wörterverzeichnis just hierfür Kleinschreibung zwingend vorgeschrieben ist, so daß es da überhaupt nichts mehr zu interpretieren gibt. Auch ist nicht zu erkennen, nach welchem Paragraphen die Großschreibung sich allenfalls rechtfertigen ließe. Wie die Verfasser trotz dieser Neuerung behaupten können, es sei „keine Änderung der Neuregelung erforderlich“, bleibt rätselhaft.


„Zur Worttrennung am Zeilenende“

Bei der Silbentrennung sind offenbar ausgedehnte Verhandlungen mit den Wörterbuchverlagen geführt worden, nicht aber mit den Software-Herstellern, die es am meisten betrifft. Denn beinahe alle wichtigen Texte werden heute auf dem Computer geschrieben, und es gibt längst Trennprogramme, die zufriedenstellend arbeiten.4* Die ungeheure Menge von Trennstellen, die sich aus der Neuregelung ergibt, kann zwar durch Geschmack und Verstand schreibender Menschen auf ein vernünftiges Maß reduziert werden. Genau hier liegt aber das Problem für die automatische Silbentrennung. Wenn nun, wie beabsichtigt, die Menge der Trennstellen nicht reduziert, sondern im Gegenteil nach Absprache mit den Wörterbuchverlagen unverkürzt in die Wörterbücher aufgenommen werden soll, kann der Schreiber, der nicht jede Verunzierung seiner Texte zulassen will, mit den Trennprogrammen um so weniger arbeiten, je getreuer sie die Neuregelung umsetzen.

Die „Analyse“ auf S. 44 versucht wortreich, einen Gliederungsfehler der Neuregelung als beabsichtigte Feinheit auszugeben. An den Anfang der Trennungsregeln gehört nämlich ohne Zweifel die Bestimmung, daß Zusammensetzungen (und Präfixbildungen) zunächst in ihre Bestandteile zu zerlegen sind, bevor an weitere Trennstellen gedacht werden kann. Diese hierarchische Regelordnung wird im „Bericht“ auch zugestanden, Konsequenzen werden aber nicht gezogen.

Überraschenderweise soll die Trennregel für das „stumme“ (d. h. silbentrennende) h auch auf das stumme w ausgedehnt werden, so daß nicht mehr wie bisher Teltow-er (Rübchen) getrennt wird, sondern Telto-wer.5* Ebenso überraschend ist das Argument, für eine solche Trennung spreche auch, daß manche Menschen h und w „(hyperkorrekt) tatsächlich sprechen“ (S. 50). Im Vorwort zur Neuregelung (2.1) heißt es ja ebenso wie nun im Bericht, daß das Regelwerk sich an der Standardaussprache orientiere. Hyperkorrekte, also falsche Aussprache nach der Schrift, wie man sie bei Unwissenden findet, ist folglich ohne jede Bedeutung. „Analog“ sei auch bei Fremdwörtern zu verfahren: Po-wer, To-wer usw. – lauter neuartige Trennungen, die besonders widersinnig erscheinen, denn hier geht es ja gar nicht um „stumme Konsonantenbuchstaben“ (ebd.) im gleichen Sinne wie beim silbentrennenden h, sondern um Bestandteile der Schreibung des Diphthongs. Die bisherige Trennung Pow-er, Tow-er usw. war also durchaus sinnvoll. Man trennt eben engl. Show-er ebenso wie dt. Schau-er. Gleichwohl erfährt man: „Der Duden hat zugesagt, diese Trennung auch beim ‚stummen‚ w zu übernehmen.“ Nur der Duden? Bertelsmann hat Po-wer, aber Tow-er und folglich ebenfalls etwas nachzuholen im Sinne der Verschlimmbesserung. Die „Entscheidung der Kommission“ lautet: „Die Fallgruppe muss im amtlichen Regelwerk nicht explizit geregelt werden. Die Kommission empfiehlt die Aufnahme des Beispiels Telto-wer in § 108.“ (S. 50) Aber selbst damit ist die neuartige Trennung von Power usw. noch nicht gesichert; denn die meisten Benutzer dürften die angeführte „Analogie“ nicht nachvollziehen können. Es läuft also auf eine Reihe neuer Einzeleinträge nach Absprache mit den Wörterbüchern hinaus – kein sehr durchsichtiges Verfahren.

Daß auch bisher schon manchmal irreführende Trennungen auftreten, ist kein Grund, sie durch die neuen Trennregeln ins Uferlose zu vermehren. Es geht nicht darum, ob jemand sich bei Tee-nager einen „Nager am Tee“ vorstellt, sondern darum, daß die korrekte morphologische Analyse von Teenager usw. gerade solchen Schreibern zugetraut wird, denen man die entsprechende Analyse von vollenden, einander und hinauf (vol-lenden, ei-nander, hi-nauf nach § 112) nicht abverlangen zu können meint.

Nicht von ungefähr zeigen die Verfasser bei der Erörterung der Fremdworttrennung (S.58) eine auffallende Unschlüssigkeit, die sich in rhetorischen Fragen äußert - unter dem Titel „Analyse“ seltsam genug. Deshalb sei mit einer Gegenfrage geantwortet: Glauben die Verfasser im Ernst, daß jemand, der so gelehrte Wörter wie inkrementell verwendet, das Element in- nicht zu erkennen vermag und daher versucht sein könnte, ink-rementell zu trennen? (S. 58) Der Widersinn besteht darin, daß der Schreibende sich bei behände, Stängel, Wechte und Ständelwurz (!) als ausgekochter Etymologe bewähren soll, während er vor exaltiert, Hämoglobin und Demokratie als reiner Tor steht und daher mit Trennungen wie e-xaltiert, Hämog-lobin und Demok-ratie beschenkt werden muß. Mehr denn je wird die neue Silbentrennung den Bildungsgrad des Schreibenden erkennen lassen – was doch gerade vermieden werden sollte. Bedenken dieser Art tun die Verfasser mit der flapsigen Bemerkung ab, morphologisch falsche Trennungen nach dem Lautprinzip seien „kein Unglück“ (S. 59). Das zeigt noch einmal den Unernst des ganzen Unternehmens.

Bemerkenswert ist immerhin, daß die Kommission mit den Wörterbuchverlagen aushandelt, die „Variantenführung in den verschiedenen Wörterbüchern gleich oder zumindest ähnlich“ zu handhaben. „Die Vertreter der Wörterbuchredaktionen haben zugesagt, ihre Bemühungen untereinander und mit der Kommission zu koordinieren.“ (S. 59) Ist ein solches Kartell grundsätzlich besser als die vielgescholtene Alleinherrschaft der Dudenredaktion? Das einheitliche Erscheinungsbild der Wörterbücher wird allmählich zum überlebensdienlichen Hauptziel des bürokratischen Selbstläufers Rechtschreibreform.

Nebenbei erreicht die Kommission durch eine solche, auf privater Absprache mit ausgewählten Wörterbuchverlagen beruhende Sonder-Rechtschreibung unterhalb der amtlichen Norm, daß selbst solche Schreibweisen, die es auf reguläre Weise nicht zu Hauptvarianten gebracht haben, doch noch zum neuen Standard werden. (Diese Manipulation zeichnete sich schon im „Handbuch Rechtschreiben“ der Schweizer Reformer Gallmann und Sitta ab.)

Angesichts der Breite und Heftigkeit der Kritik, mit der die Bevölkerung gerade auf die Neuregelung der Silbentrennung reagiert hat, überrascht die Leugnung jeglichen Änderungsbedarfs. Zur gänzlich überflüssigen und störenden Abtrennung einzelner Vokalbuchstaben fällt den Reformern weiterhin nichts anderes ein als der schnodderige Bescheid: „Jeder kann eine Trennung unterlassen, wenn sie ihm nicht zusagt (zum Beispiel Abtrennung eines Vokals: A-bend).“ (S. 45) Natürlich kann „jeder Einzelschreiber, aber auch jedes Kollektiv“ (hier wird der Einfluß der DDR-Orthographen erkennbar) „für sich Einschränkungen formulieren, zum Beispiel: Trenne nie einen einzelnen Vokal ab“ – aber das wird dem Problem nicht gerecht, das, wie gesagt, heute im wesentlichen ein Problem der Software-Herstellung ist. Diese Tatsache läßt es auch ratsam erscheinen, die überdimensionierten Ausführungen über die Worttrennung am Zeilenende nicht allzu ernst zu nehmen, weil sich höchstwahrscheinlich von der technischen Seite her bald eine Rückkehr zur Vernunft anbahnen wird.

Der Bericht enthält kein Literaturverzeichnis. Die Verfasser versichern, „alle konstruktive inhaltliche Kritik ernsthaft geprüft“ zu haben, „vor allem soweit sie in Büchern und Aufsätzen veröffentlicht ist.“ Namentlich erwähnt werden nur ein von den Reformern selbst herausgegebener Sammelband und der von Eroms/Munske. Die Reformer gehen aber nur auf wenige Kritikpunkte ein, so daß sich nicht feststellen läßt, welche Einwände sie für unbegründet halten und welche sie gar nicht zur Kenntnis genommen haben.

Schon wenige Tage nach der Anhörung muß die Kommission die endgültige Fassung ihres Berichts fertiggestellt haben, denn bereits am 4. Februar beschäftigte sich in Mainz eine Fachkonferenz der Kultusministerien damit. Teilnehmer dieser Konferenz waren u. a. die Ministerialbeamten Besch, Krimm, Lipowski, Niehl, Pohle sowie die Reformer Augst und Gallmann.

Die endgültige Fassung des Berichts ist auf „Januar 1998“ datiert. Der folgende Nachtrag unterzieht die Endfassung einem Vergleich mit der Entwurfsfassung:

Die Veränderungen gegenüber dem Entwurf sind überwiegend geringfügig, teils sogar nur redaktioneller Art. Anstelle der „Entscheidungen der Kommission“ findet man z. B. nun durchgehend „Vorschläge“.

In der Einleitung ist auf S. 5 der Satz gestrichen: „Die Kommission hat also zu Recht die Aufgabe, die weitere Entwicklung zu verfolgen und entsprechend zu handeln.“

Auf S. 6 ist das Beispiel verbleuen/verbläuen durch Tolpatsch/Tollpatsch ersetzt.

Die Behauptung: „Stattdessen stellt der heutige Sprachteilnehmer Tollpatsch zu toll“ (S. 12) ist abgeschwächt zu: „Stattdessen liegt es nahe, Tollpatsch zu toll zu stellen.“

Die weitgehend unverständlichen Abschnitte S. 20 sind stark gekürzt und vereinfacht.

Die fehlerhafte Ankündigung von „vier“ Einwänden S. 22 ist korrigiert.

Auf S. 23 ist nach dem zweiten Absatz eingefügt:

„Der Begriff der Partikel wird in Grammatiken unterschiedlich gebraucht. Aus Gründen der Eindeutigkeit soll er durch die Nennung der Wortarten ersetzt werden.“

Die Liste der Verbzusätze S. 24 ist in folgender Weise verändert:

Dez. 1997:

ab- (Beispiele: abändern, abbauen, abbeißen, abbestellen, abbiegen),

Januar 1998:

ab- (Beispiele: abändern, abbauen, abbeißen, abbestellen, abbiegen), an-, auf, aus-, bei-, beisammen-, da-, dabei-, dafür-, dagegen-, daher-, dahin-, dahinter-, daneben-, danieder-, dar-, daran-, darauf-, darein-, darin-, darnieder-, darüber-, darum-, davon-, davor-, dawiderhintenüber-, hinterher-, hinüber-, hinunter-, hinweg-, hinzu-, inne-, los-, mit-, nach-, nieder-, über-, überein-, um-, umher-, umhin-, unter-, vor-, voran-, vorauf-, voraus-, vorbei-, vorher-, vornüber-, vorüber-, vorweg-, weg-, weiter-, wider-, wieder-, zu-, zurecht-, zurück-, zusammen-, zuvor-, zuwider-, zwischen-

Die unterstrichenen Wörter sind im Entwurf vom Dezember 1997 weder in der VZ-Liste noch unter den Beispielen aus § 34 E1 (1) enthalten, die – wie von mir angeregt – vollständig in die neue Liste übernommen worden ist. Inne ist aus § 34(2) des Entwurfs in die Liste überführt worden, offenbar weil es, wie ich kritisiert hatte, kein Adjektiv ist. Die Sonderliste E1 ist in der Endfassung insofern verändert, als darein und hinüber hinzugekommen sind, zu dagegen weggefallen ist.

§ 34 [E1] (2) ist verändert. Es heißt jetzt zum zweiten Punkt: „Wenn nur der erste Bestandteil betont und häufig auch steigerbar ist“ ... – Dabei ist aber nicht klar, welche Rolle das neu hinzugekommene Kriterium „häufig (!) auch steigerbar“ im Konditionalsatz eigentlich spielen soll.

Unter § 34 E2 (2) heißt es statt „Adverb + Verb“ jetzt „(zusammengesetztes) Adverb + Verb“ – also wieder wie in der ursprünglichen Neuregelung.

Auf S. 29 ist der grobe Schnitzer „die Arbeit wird gutbezahlt“ korrigiert zu „ist gutbezahlt“. Der ebenso schwere Fehler „beide Aussagen sind gleich lautend“ ist dagegen stehengeblieben, weil die Kommission als ganze nicht einsieht, was ihre Mitglieder Gallmann und Sitta längst mit hinreichender Klarheit dargestellt haben.

Bei der Bindestrichschreibung wollte der Entwurf eine Erläuterung hinzufügen, in der empfohlen werden sollte, bei fetttriefend, schusssicher usw. von der Bindestrichschreibung abzusehen. Dieser Vorschlag ist aufgegeben worden, vielleicht weil es nach einer Regeländerung ausgesehen hätte. Die Empfehlung bleibt aber bestehen, ohne daß nun ihr Rang und die Form ihrer Verankerung im Regelwerk näher präzisiert würde.

Bei der „Großschreibung substantivischer Bestandteile im Innern mehrteiliger Fügungen aus fremden Sprachen“ wird zunächst der Satz eingefügt: „Hierzu bedarf vor allem die Möglichkeit der Schreibung als Zitatwort einer näheren Erläuterung.“ Im Folgenden wird dann der Vorwurf an die Wörterbücher, sie hätten die Regel eigenmächtig zugunsten der Großschreibung ausgelegt, nicht mehr aufrechterhalten. Statt dessen wird der Begriff des „partiellen Zitatwortes“ eingeführt, der im Regelwerk keine Grundlage hat. In Wirklichkeit beschreibt die neue „Analyse“ den bisher üblichen Schreibbrauch: Black box, Captatio benevolentiae usw., und der Kommentar „Es handelt sich hier gewissermaßen um partielle Zitatwörter“ trifft ausschließlich auf die bisherige Norm zu. Die Verfasser behaupten jedoch irrigerweise:

„Mit der Neuregelung wird die Möglichkeit der Eingliederung solcher Fügungen in die deutsche Sprache durch die Anpassung an die orthographische Regelung der Substantivgroßschreibung deutlich ausgebaut. Daneben besteht aber natürlich (!) weiterhin die Möglichkeit der Schreibung als Zitatwort oder partielles Zitatwort.“ (S. 36)

Die Möglichkeit des „partiellen Zitatwortes“ besteht nach der Neuregelung keineswegs! Diese kennt vielmehr nur das Zitatwort und das eingedeutschte Wort. [Nachtrag: So sieht es auch das Bundesverfassungsgericht (s. u.).]

Das neue Beispiel Ecce-Homo ist schwer interpretierbar. Sollte eine Art von Homo gemeint sein?

Die im Entwurf vorgeschlagene Regeländerung zu § 55 (3), zweiter Absatz, wird nun nicht mehr für nötig gehalten.

Auf S. 39 sind die beiden ersten Absätze der vorgeschlagenen Erläuterung gestrichen.

Auf S. 41 ist die vorgeschlagene Umformulierung gestrichen, entsprechend auch deren Ankündigung am Ende von S. 40.

S. 41, letzter Absatz: In der ersten Zeile ist vor „entlehnten“ eingefügt „meist aus dem Englischen“.

Zur Zeichensetzung wird angekündigt: „Im Wesentlichen wird es um eine Interpretation der stilistischen Freiräume gehen, die die Paragraphen 76 bis 78 einräumen.“ Es bleibt bei der falschen Behauptung, daß „die Neuregelung der Zeichensetzung fast ausschließllich nur neue Freiräume schafft“. In diesem „fast“ stecken bekanntlich die beiden neuen obligatorischen Kommas nach Vorgreifer-s und nach wörtlicher Rede, die sehr große neue Schwierigkeiten verursachen.

Der Vorschlag zweier neuer Erläuterungen zu § 107 (S. 46 des Entwurfs) ist gestrichen, doch bleibt die Andeutung, daß ein Kommentar für nötig gehalten wird.

S. 50: Die Zeile zur Trennung von Po-wer, To-wer, Intervie-wer ist gestrichen. Der Satz „Die Kommission empfiehlt die Aufnahme des Beispiels Telto-wer in § 108“ ist gestrichen.

S. 61: Die „Entscheidung“, in § 112 die Beispiele ano-nym / an-onym, Res-pekt / Re-spekt, Ini-tial / In-itial aufzunehmen, ist ersetzt durch den allgemein gehaltenen Vorschlag, weitere Beispiele aufzunehmen.

Soweit der ergänzende Kommentar, der u. a. der Kommission und dem Sekretariat der KMK zugeleitet wurde. Die weitere Entwicklung verlief überraschend6* und führte zu einer außerordentlich kritischen Situation:

Die Amtschefskonferenz der Kultusministerien usw. beriet am 6. Februar 1998 unter Vorsitz von Staatsekretär Besch und Ministerialdirektor Hoderlein über die Änderungsvorschläge und empfahl anschließend den Kultusministern, die Korrekturvorschläge der Kommission nicht zu übernehmen, sondern die unkorrigierte Neuregelung von 1996 am 1. August 1998 in Kraft treten zu lassen.

Die Kultusminister selbst beschlossen bei ihrer Jubiläums-Plenarsitzung am 26./27.2.1998, sich dem Rat der Amtschefs anzuschließen. In der KMK-Pressemitteilung heißt es, die Neuregelung halte einer kritischen Überprüfung bzw. kritischen Einwendungen stand. Sie hält nach Ansicht der Politiker also auch der Kritik durch die Kommission stand, die überwiegend mit den Verfassern der Neuregelung selbst besetzt ist. Übrigens hatte die Kommission ihre Änderungsvorschläge einstimmig gefaßt (Mitteilung eines Mitglieds).

Das Kommissionsmitglied Eisenberg sprach daraufhin im „Focus“ (8/1998) von Rücktrittsabsichten, Kommissionsmitglied Blüml fühlte sich ohnehin „verheizt“ (so schon im „Standard“ vom 31.1.1998). Anläßlich einer vorgezogenen Sitzung der Kommission am 13.3.1998 trat Eisenberg tatsächlich aus; er begründete seinen Schritt ausführlich in der F.A.Z. vom 18.3.1998.

Die Pressemitteilung der KMK vom 12.2.1998 hat folgenden Wortlaut:

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Amtschefskommission rät:

Regelwerk für die neue Rechtschreibung nicht ändern

Nach dem einvernehmlichen Ergebnis einer Beratung der Amtschefskommission der KMK zur neuen Rechtschreibung gemeinsam mit Vertretern aus Österreich der Schweiz und Liechtenstein sowie dem Bundesministerium des Innern soll das neue Regelwerk derzeit nicht geändert werden, weil es einer kritischen Überprüfung standhält.

Die Amtschefskommission hat Vorschläge einer internationalen Wissenschaftlerkommission beraten, die das Regelwerk im Auftrag der KMK kritisch überprüft hatte. Die Präsidentin der KMK, Ministerin Anke Brunn (Nordrhein-Westfalen), hat ihre Kolleginnen und Kollegen in der KMK über das Ergebnis der Beratungen informiert.

Der Wortlaut des in der Amtschefskommission zusammen mit Österreich, Liechtenstein und der Schweiz erzielten Beratungsergebnisses ist zu Ihrer Information beigefügt.

Keine Änderung der beschlossenen Regeln zum jetzigen Zeitpunkt

Vertreter Österreichs, des Fürstentums Liechtenstein, der Schweiz, des Bundesministers des Innern und der Kultusministerkonferenz haben am 06.02.1998 unter Vorsitz von Staatssekretär Dr. Besch (NRW) und Ministerialdirektor Hoderlein (Bayern) den „Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für die deutsche Rechtschreibung“ beraten.

Die Beratungen führten zu folgendem einvernehmlichen Ergebnis:

1. Die Kommission erfüllt ihre Aufgaben im Zusammenhang mit der Einführung der Neuregelung mit großer Sorgfalt. Sie hat sich mit der Kritik am Regelwerk gründlich auseinandergesetzt. Ihre Erläuterungen zur einheitlichen Auslegung und Anwendung des neuen Regelwerks sind sehr hilfreich; dies gilt insbesondere für die Kommentare, die dazu dienen, die dem Regelwerk zugrunde liegenden Prinzipien einer breiteren Öffentlichkeit verständlich zu machen. Nachdrücklich begrüßt werden die Absprachen der Kommission mit den einschlägigen Wörterbuchverlagen, bei denen u.a. eine stärkere Vereinheitlichung der Wörterbucheinträge besprochen wurde.

2. Die Beratungen der Kommission haben ergeben, dass das neue Regelwerk den kritischen Einwendungen standhält. Sie erachtet in Übereinstimmung mit der weit überwiegenden Mehrheit der an der Anhörung vom 23.01.1998 beteiligten Verbände und Institutionen die Neuregelung vom 01.12.1995 für wesentlich besser als die vorherige. Nach dieser Anhörung schlägt die Kommission nur noch drei Änderungen vor:

a) Eine Neufassung von zwei Paragrafen zur Getrennt- und Zusammenschreibung (§ 34 bei Zusammensetzungen mit Verben; § 36 bei Zusammensetzungen mit Adjektiven und Partizipien). Im Kern schlägt sie vor, als zusätzliches Kriterium für Getrennt- und Zusammenschreibung neben „Erweiterbarkeit“ und „Steigerbarkeit“ die „Betonung“ aufzunehmen.

Der Änderungsvorschlag der Kommission stellt einen Kompromissversuch dar, der einen Teil der jetzt diskutierten Streitfälle lösen, andererseits aber zu durch Bedeutungsunterschiede nicht gerechtfertigten Varianten führen und dadurch möglicherweise neue Unsicherheiten schaffen würde.

Das liegt daran, dass die Getrennt- und Zusammenschreibung einer der schwierigsten Bereiche der deutschen Rechtschreibung ist. Im Regelwerk von 1901 wurde daher auf ihre Normierung sogar ganz verzichtet.

In der Schreibwirklichkeit dagegen hat die Getrennt- und Zusammenschreibung nur eine geringe Bedeutung; die Schulen kommen mit der Neuregelung gut zurecht.

Bei der Anhörung durch die Kommission wurde deutlich, dass die schärfsten Kritiker der Rechtschreibreform in dem jetzt unterbreiteten Kommissionsvorschlag keine Kompromisslinie sehen.

Die Mehrzahl der Fachleute aus Schulen und Wörterbuchredaktionen hat vor übereilten Änderungen der Neuregelung gewarnt. („Die Zusammen- und Getrenntschreibung ist so komplex, dass die Dudenredaktion davor warnt, auf die Schnelle Regeln zu ändern oder zu modifizieren.“) Dem sollte gefolgt werden. Allerdings ist es notwendig, den Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung in den kommenden Jahren sorgfältig zu beobachten. Ob und welche Änderungen sinnvoll sind, kann rechtzeitig vor Ende der Übergangszeit (im Jahr 2005) entschieden werden.

b) Die zweite von der Kommission vorgeschlagene Änderung betrifft die Regel, nach einem Doppelpunkt das erste Wort eines Ganzsatzes großzuschreiben (§ 54). Die vorgeschlagene Änderung hat jedoch so marginale Bedeutung, dass sie keine förmliche Änderung des Regelwerks rechtfertigt. Das Problem ist im übrigen bereits an anderer Stelle des Regelwerks hinreichend deutlich gelöst (§ 81).

c) Die Kommission schlägt drittens vor, bei einigen Wörtern Schreibvarianten zuzulassen (z. B. Quäntchen / Quentchen, Tollpatsch / Tolpatsch, belämmert / belämmert, einbläuen / einbleuen, Pleite gehen / pleite gehen). Dieser Vorschlag betrifft nur einige wenige selten geschriebene Wörter. Eine förmliche Änderung des Regelwerks in diesem Punkt ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon deswegen entbehrlich, weil die meisten dieser Variantenschreibungen bis zum Ende der Übergangszeit ohnehin möglich sind.

3. Sofortige Änderungen des Regelwerks sind aus den dargestellten Gründen nicht erforderlich. Von daher steht dem allgemeinen Inkrafttreten des beschlossenen Regelwerks am 1. August 1998 in Schule und Verwaltung nichts entgegen; einer erneuten Beschlussfassung bedarf es nicht. Dies ist auch die nachdrücklich vorgetragene Auffassung der Vertreter Österreichs, des Fürstentum Liechtensteins und der Schweiz.

Die gründliche Auseinandersetzung mit der Kritik an der Neuregelung hat deutlich gemacht, dass das beschlossene Regelwerk besser durchdacht und solider gearbeitet ist, als das in der öffentlichen Diskussion oft dargestellt wird. Tausende von Schulbüchern, aber auch Presseorgane, die die neue Schreibung anwenden und ohne die geringsten Probleme gelesen werden, sind der Beweis dafür, dass die Neuregelung praktikabel ist.

4. Die Kommission wird gebeten, die Klärung von Zweifelsfällen fortzuführen und die Umsetzung der Neuregelung weiterhin zu beobachten.

Sie wird ermuntert, die Ergebnisse ihrer Beratungen in einem Kommentar zusammenzufassen und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

5. Die Vertreter der deutschsprachigen Länder sind der Auffassung, dass die Arbeit der Kommission in Zukunft durch einen Beirat begleitet werden sollte, in dem z. B. Schriftsteller, Journalisten, Publizisten u. ä. vertreten sein könnten.

Das Sekretariat der KMK wird gebeten, mit den Partnern der Wiener Absichtserklärung vom 01.07.1996 in dieser Frage Kontakt aufzunehmen und der Kultusministerkonferenz zu gegebener Zeit einen Entscheidungsvorschlag vorzulegen.

    *

Ich habe daraufhin der KMK den folgenden Kommentar7* zugesandt:

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Kommentar zur Pressemitteilung der KMK vom 12.2.1998

Wie das Sekretariat der KMK mitteilt, haben die Kultusminister in ihrer Plenarsitzung vom 26./27.2.1998 das Beratungsergebnis der Amtschefskommission vom 6.2.1998 bestätigt.

Hatte die KMK, voran die neue Vorsitzende Anke Brunn, noch wenige Wochen zuvor die Korrekturvorschläge der Zwischenstaatlichen Kommission ausdrücklich begrüßt, so bekennt sie sich nun zu der unkorrigierten Neuregelung. Dieser Sinneswandel ist in der Öffentlichkeit mit Überraschung zur Kenntnis genommen worden.

Der Text des Beratungsergebnisses ist in neuer Rechtschreibung gehalten. Er enthält fünf orthographische Fehler. Auf der ersten Seite (nach Österreich) fehlt ein Komma. Die Großschreibung des ersten Wortes von Absatz 2.a) ist falsch, da auf den Doppelpunkt kein Ganzsatz folgt. In Absatz 1 steht auseinandergesetzt. Das ist nach der Neuregelung getrennt zu schreiben. Bei im übrigen (Abs. 2.b)) ist neuerdings Großschreibung vorgeschrieben. Die Abkürzung u. ä. im 5. Absatz ist ebenfalls nicht mehr zulässig; laut amtl. Wörterverzeichnis muß es heißen u. Ä. Da die Zeichensetzung vollkommen konservativ ist, kann man feststellen, daß die Verfasser (abgesehen von Paragraf, was übrigens die Nebenvariante ist) von der Neuregelung offenbar nur die ss-Schreibung verstanden haben. Der Text zeigt also in durchaus typischer Weise, wie schwer die Neuregelung zu befolgen ist. Mir ist überhaupt kein längerer Text – sei es ein Schulbuch, ein Kinderbuch oder ein Periodikum – bekannt, der die Neuschreibung wirklich korrekt umsetzte. Beim vorliegenden Text ist die Fehlerhaftigkeit aber besonders bemerkenswert, weil er nach der Fachkonferenz am 4.2. auch die Amtschefskonferenz am 6.2. und die Jubiläumskonferenz der Kultusminister am 26./27.2. unbeanstandet passiert haben muß.

Eine „übereilte“ Änderung der Neuregelung kann selbstverständlich niemand befürworten, das verbietet sich schon aus begrifflichen Gründen. Es fragt sich nur, ob Änderungen, die von der Kommission selbst in monatelanger Arbeit und gewissermaßen unter Zähneknirschen (da gegen den Auftrag und gegen die eigenen Intentionen gerichtet) für unumgänglich befunden worden sind, als „übereilt“ bezeichnet werden können. „Übereilt“ im strengsten Sinne des Wortes war die vorgezogene Einführung der neuen Rechtschreibung an den Schulen - ein Fehler, dessen Korrektur gar nicht eilig genug vorgenommen werden kann. „Übereilt“ scheint auch die Herstellung der endgültigen Fassung des Kommissionsberichts verlaufen zu sein.

Das Lob der Kommissionsarbeit steht im Widerspruch zur faktischen Zurückweisung ihrer Ergebnisse. Der Bericht wird im wesentlichen auf die Kommentarfunktion reduziert. In der Öffentlichkeit ist jedoch hauptsächlich der kaum noch für möglich gehaltene Schritt der Regeländerung wahrgenommen worden; das gilt auch für die Mannheimer Anhörung. Immerhin hatten KMK, IDS und Kommission ständig behauptet, eine Regeländerung sei vorerst nicht möglich (vgl. z. B. „Informationen zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“, hg. vom Sekretariat der KMK, Stand 28.8.1997); die Kommission war bei ihrer konstituierenden Sitzung vom damaligen KMK-Vorsitzenden Wernstedt geradezu darauf eingeschworen worden, die Regeln nicht anzutasten. Die Behauptung, es sei gelungen, „die dem Regelwerk zugrunde liegenden Prinzipien einer breiteren Öffentlichkeit verständlich zu machen“, ist lächerlich, da der Bericht nur wenigen Personen zugestellt worden ist. Nicht einmal alle Teilnehmer der Anhörung haben ihn bisher erhalten. Auch sollte man das bombastische Gerede von den „Prinzipien“ der Neuregelung allmählich aufgeben, da die „haarsträubende Unsystematik“ der Neuregelung – wie Werner H. Veith es nennt8* – inzwischen hinreichend bekannt ist.

Zum 2. Absatz: Die Betonung wird nicht als „zusätzliches“ Kriterium vorgeschlagen, sondern als nunmehr entscheidendes; dagegen ist die Rolle der Erweiter- und Steigerbarkeit nicht mehr genau zu erkennen. Näheres in meiner ausführlichen Stellungnahme zum Bericht der Kommission.

Es fällt auf, daß „Bedeutungsunterschiede“ zur Rechtfertigung unterschiedlicher Schreibungen herangezogen werden sollen. Die Neuregelung selbst sieht bekanntlich von Bedeutungsunterschieden weitestgehend ab.

Wenn die Getrennt- und Zusammenschreibung in der Schreibwirklichkeit nur „eine geringe Bedeutung“ hat – weshalb mußte sie dann überhaupt geändert werden? Nach übereinstimmendem Urteil aller Sprachwissenschaftler ist die Neuregelung dieses Bereichs das eigentliche „Kuckucksei“ der Reform, der am deutlichsten mißlungene Teil, bei dem daher auch nach dem Urteil der Zwischenstaatlichen Kommission „die Notwendigkeit eines Eingriffs ... unumgänglich“ ist (Entwurf des Berichts, S. III; in der Endfassung weggefallen, doch die Stilblüte ist noch in frischer Erinnerung). Es überrascht daher, daß die KMK nunmehr die Einwände ihrer eigenen Kommission als unbeachtlich beiseite wischt. Die Fachbeamten und Amtschefs scheinen sich selbst für die kompetenteren Experten zu halten, sonst würden sie sich nicht über das Urteil der eigens berufenen Fachleute hinwegsetzen. (Nach Auskunft von Insidern haben sie das allerdings schon immer getan.)

Die Neuregelung führt bei der forcierten, erklärtermaßen gegen eine Entwicklungstendenz des Deutschen gerichteten Getrenntschreibung teils zu ungrammatischen Schreibweisen, teils zur Beseitigung von mehreren hundert, wahrscheinlich sogar einigen tausend Komposita aus dem deutschen Wortschatz (vgl. P. Eisenberg in Mitt. d. Dt. Germanistenverbandes 4/97). Das ist selbst für eine Übergangszeit nicht hinnehmbar. Das geschäftliche Interesse des ausdrücklich zitierten Hauses Duden an einer Beibehaltung der unkorrigierten Neuregelung kann demgegenüber nur als nachrangig gelten.

Die KMK meint feststellen zu können, „dass die schärfsten Kritiker der Rechtschreibreform in dem jetzt unterbreiteten Kommissionsvorschlag keine Kompromisslinie“ sehen (Hervorhebung im Original). Dies soll offenbar – freilich in sehr verkürzter Form – als weitere Begründung dafür dienen, die Regeln vorerst nicht zu korrigieren. Die KMK geht ebenso wie die Verfasser der Neuregelung seit langem davon aus, daß die Rechtschreibreform – scheinbar gut „demokratisch“ – auf dem Wege eines „Kompromisses“ zustande kommen müsse, und zwar auf den verschiedensten Ebenen:

• Einerseits mußten die beteiligten Wissenschaftler, wie sie oft beklagt haben, „Kompromisse“ mit den Kultusbeamten und -bürokraten eingehen. Das ging bis zur Selbstverleugnung, denn gerade die zentralen Zielvorstellungen der Reformer, also die Kleinschreibung der Substantive, die orthographische Fremdworteindeutschung und die Beseitigung der Dehnungszeichen, mußten im Zuge dieses Kompromisses aufgegeben werden.9*

• Dann wurden unter den Mitgliedern des Internationalen Arbeitskreises „Kompromisse“ geschlossen; Heller, Gallmann, Sitta, Zabel u. a. haben es oft betont und eine Reihe Unstimmigkeiten und Mängel der Reform darauf zurückgeführt. Ihre „Abstimmungen“ untereinander wurden auch als Kennzeichen des „demokratischen“ Charakters der Neuregelung gepriesen, obwohl Mehrheitsentscheidungen innerhalb irgendwelcher Gremien nur wenig über die demokratische Legitimation des gesamten Unternehmens aussagen.

• Seit der Verabschiedung der Reform werden den externen Kritikern „Kompromisse“ angeboten, es werden ausdrücklich auch „Angebote“ unterbreitet (so zum Beispiel die Zurücknahme der Großschreibung von Spinnefeind). Man reagiert enttäuscht, wenn die Kritiker sich nicht darauf einlassen, und wirft ihnen Starrsinn und fanatische Verbohrtheit vor. Es wird offenbar nicht verstanden, daß es hier gar nicht um Kompromisse gehen kann. Entweder die bisherige Norm ist defekt, dann muß sie repariert werden. Oder sie ist es nicht, dann ist auch keine Reform nötig. Jeder Kompromiß kann hier nur ein fauler sein; jede mühsam ausgehandelte halbe Reform kostet materiell und ideell ebensoviel wie eine ganze und ist daher zu verwerfen. (Die meisten Kritiker – und gerade die „schärfsten“ – sehen ja überhaupt keinen Handlungsbedarf und setzen mehr auf verbesserte Rechtschreibdidaktik und natürlichen Wandel der Orthographie als auf eine Reform.) Auch steht der Ruf nach einem Kompromiß im Widerspruch zu der oft betonten Wissenschaftlichkeit des ganzen Reformunternehmens. Über das grammatisch falsche Leid tun, wie Recht du hast, das Aufsehen Erregendste usw. ist so wenig ein Verhandeln möglich wie über eine falsche Quadratwurzel.

Mit ihrer Behauptung „Die Mehrzahl der Fachleute aus Schulen und Wörterbuchredaktionen hat vor übereilten Änderungen der Neuregelung gewarnt“ kann sich die KMK nicht auf die Mannheimer Anhörung beziehen, denn dort war der Vergleich zwischen bisheriger und geplanter Rechtschreibnorm kein Thema. Diskutiert wurden vielmehr, wie vorgesehen, die Problematik des Kommissionsberichts sowie die erwartbaren Folgen seiner Umsetzung.

Das Problem der Großschreibung nach einem Doppelpunkt ist in der Tat so marginal, daß seine ausführliche Behandlung im Bericht der Kommission kaum verständlich ist; soweit ich weiß, hatte die Kritik hierzu auch nichts Wesentliches gesagt. Dieser Punkt scheint mehr der Ablenkung von den wirklich wichtigen, im Bericht aber kaum oder gar nicht behandelten Einwänden zu dienen, zum Beispiel zur Groß- und Kleinschreibung. Außerdem trifft es nicht zu, daß die Frage der Großschreibung nach Doppelpunkt in § 81 „hinreichend deutlich gelöst“ sei. Dort wird vielmehr lediglich auf den fraglichen § 54 zurückverwiesen und im übrigen eine Reihe weiterer Beispiele geboten, die das Problem aber eher komplizieren, da sie (vor allem unter 3) den Begriff des „Ganzsatzes“ noch verschwommener machen, als er ohnehin ist.

Was die Varianten betrifft, die der etymologisierenden und volksetymologisierenden Neuschreibung die Spitze nehmen sollen, so ist es zweierlei, ob die Neuregelung selbst Varianten freistellt oder ob sie lediglich wegen der vorgesehenen Übergangszeit noch keinen Zwang auszuüben vermag. Die Vorzüge der bisherigen, zum Glück noch weitergeltenden Rechtschreibung sollen offenbar dazu herhalten, die Mängel der geplanten zu entschärfen. Wiederum ist auch zu fragen, warum „einige wenige selten geschriebene Wörter“ überhaupt geändert werden mußten. Dadurch war es zwar notwendig, Wörter- und Schulbücher neu zu drucken, eine nennenswerte Erleichterung für Schüler kann sich so aber nicht ergeben. Die Neuregelung insgesamt scheint sich vorzugsweise mit marginalen Erscheinungen der deutschen Orthographie beschäftigt zu haben. Dieses Eingeständnis ist bemerkenswert.

Das allgemeine Lob der Neuregelung und der Kommission ist schon deshalb unbeachtlich, weil es weitgehend Eigenlob ist, denn die Kommission besteht überwiegend aus den Urhebern des Reformwerks, und die urteilenden und lobenden Kultusbeamten waren ebenfalls zum Teil an der Ausarbeitung der Reform beteiligt. Daher klingt es seltsam, wenn von einer „kritischen Überprüfung“ der Neuregelung gesprochen wird – sind es doch weitestgehend die Verfasser selbst (sieben von elf Mitgliedern, laut Auskunft des Vorsitzenden), die ihr eigenes Werk kritisch überprüfen und die Kritik Außenstehender würdigen. Daß sie externe Kritik unerheblich finden, ist unter solchen Voraussetzungen kein Wunder. Im übrigen handelt es sich um bloße Behauptungen. In Wirklichkeit ist keiner der Einwände, die zum Beispiel in meinem „Kritischen Kommentar“ vorgetragen werden, widerlegt worden.

Zwischen der Mannheimer Anhörung am 23. Januar 1998 und der Vorlage der endgültigen, ebenfalls auf „Januar 1998“ datierten Fassung des Kommissionsberichts lagen nur wenige Tage. Bedenkt man, daß allein die von mir am Tag der Anhörung vorgelegte Stellungnahme mehrere hundert Seiten umfaßt, so scheint es undenkbar, daß die Kommission sich mit der Kritik so gründlich auseinandergesetzt haben sollte, wie die KMK behauptet. Die Endfassung des Berichts zeigt denn auch – bis auf die Ausbesserung von einigen Versehen, auf die ich die Kommission bereits vorab schriftlich hingewiesen hatte – keine spezifische Auswirkung der Anhörung auf die Kommissionsarbeit. Auch aus diesem Grunde und nicht nur wegen der gezielt selektiven Einladung einer überwältigenden Mehrheit von Reformbefürwortern erscheint die Anhörung nachträglich als gänzlich überflüssige Alibi-Veranstaltung.10*

Der Kommentar, zu dessen Ausarbeitung die Kommission ermuntert wird, ist schon seit Jahren angekündigt, seit einem Jahr auch eine Liste der Zweifelsfälle. Die von der KMK ausdrücklich gewürdigten „Absprachen der Kommission mit den einschlägigen Wörterbuchverlagen“ sind auch rechtlich bedenklich. An die Stelle des rechtlich immerhin noch einigermaßen abgesicherten Dudenprivilegs tritt hier offenbar die informelle Privilegierung einer kleinen Gruppe von Wörterbuchverlagen.

Wozu ist die Einrichtung eines „Beirates“ erforderlich, wenn die Kommission so vorzügliche Arbeit leistet, wie es behauptet wird? Wer wird ihn berufen – wenn nicht die auf jeden Fall zur Reform der Orthographie entschlossenen Kultusminister? Warum ist nicht an eine Prüfung der Reform durch unabhängige Sprachwissenschaftler gedacht? Schon die Arbeitskreise, die sich seinerzeit „den politischen Auftrag holten“, die Rechtschreibung zu reformieren, bestanden ja ausschließlich aus unbedingt Reformwilligen – ein oft beklagter Geburtsfehler des gegenwärtigen Unternehmens, den man als die Ursache der meisten gegenwärtigen Schwierigkeiten bezeichnen kann. Abschließend sei einer der besten Kenner der Materie zitiert:

Die Repräsentanten der Kultusministerkonferenz „schrecken auch nicht vor der Unverfrorenheit zurück, die mühsam erarbeiteten Korrekturvorschläge der eigens eingesetzten zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission schlichtweg zu verwerfen und frech zu behaupten, die Rechtschreibreform halte allen Einwendungen stand. Mit dieser Auffassung steht sie allein.“ (Horst H. Munske, F.A.Z. vom 4.3.1998)

1* Zulässig sollte die Getrenntschreibung – bis auf eine kleine Gruppe von Verbzusätzen, die praktisch nie getrennt geschrieben werden – allerdings sein, dann aber natürlich unabhängig von der -ig-Bildung.

2* Später wird die KMK die „Erläuterungen zur einheitlichen Auslegung und Anwendung des neuen Regelwerks sehr hilfreich“ finden und „insbesondere“ die Kommentare loben, „die dazu dienen, die dem Regelwerk zugrunde liegenden Prinzipien einer breiteren Öffentlichkeit verständlich zu machen“! Näheres s. u. zur Pressemitteilung der KMK.

3* Hier müßte ein Semikolon stehen.

4* Die Neuregelung ist dagegen nicht zufriedenstellend programmierbar, und zwar wegen der Fülle der Varianten, zwischen denen der Schreibende je nach Bildungsstand wählen kann, der PC aber nicht.

5* Dieser Vorschlag geht sicher auf Gallmann zurück, der schon 1985 (Gallmann 1985, S. 235 und 237) Telto-wer Rübchen trennen wollte, wobei vielleicht seine schweizerdeutsche Unvertrautheit mit diesem Gemüse eine Rolle spielte.

6* Natürlich nur für Außenstehende. Es ist anzunehmen, daß der Kommissionsvorsitzende und seine engsten Verbündeten von Anfang an wußten, wie ihre Alibiveranstaltung „Bericht + Anhörung“ ausgehen würde.

7* Hier in leicht überarbeiteter Fassung.

8* Eroms/Munske [Hg.], 1997, S. 246.

9* Mit welcher Leichtfertigkeit auch die radikalsten Reformvorschläge als bloße Spielmarken für allfällige „Kompromisse“ in die Diskussion gebracht wurden, kann man nachlesen: „Die Kommission für Rechtschreibfragen konnte sich diesen Vorschlägen“ (sc. Einheitsschreibung das) „(noch) nicht anschließen. Sie entschied sich einerseits, eine entsprechende Beschlußfassung zu einem späteren Zeitpunkt unter Berücksichtigung der Gesamtregelung vorzunehmen. Dies bedeutet, daß sie auf eine Neuregelung in diesem Bereich verzichten könnte, wenn dadurch andere Maßnahmen ermöglicht würden. Andererseits wäre es sinnvoll, zur Vereinfachung der Regeln diesen Vorschlag durchzusetzen, wenn sich die Realisierung anderer Vorschläge als utopisch erweisen sollte. Die Stellungnahme der Kommission geht von der durch das Protokoll der II. Orthographischen Konferenz von 1901 belegten Tatsache aus, daß Beschlüsse zur Orthographiereform ohne die Bereitschaft zum Kompromiß kaum möglich sind.“ (Die Rechtschreibung des Deutschen und ihre Neuregelung. Hg. v. d. Kommission für Rechtschreibfragen. Düsseldorf 1985, S. 164)

10* Da schon vor der Mannheimer Veranstaltung die empörend einseitige Einladungspolitik der Kommission zu kritisieren war, hätten die Kultusminister sich keinesfalls auf eine „weit überwiegende Mehrheit der an der Anhörung beteiligten Verbände“ berufen dürfen, ohne vollends ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen.