Die 95prozentige „ss-Reform“: Hat sich der Milliarden-Aufwand gelohnt?
Der Chefredakteur des SH:Z, Stephan Richter, und sein Verlag hatten schon am 20.8.1998 durch eine von Duden unterstützte Reform-Probenummer Einfluß auf den Volksentscheid nehmen wollen. Nach dem Kotau der übrigen Presse verzögerten sie aber ihre eigene Umstellung, angeblich „aus Achtung vor dem Volksentscheid“, eher jedoch, um zu beobachten, wie die Leser des Konkurrenzblattes „Kieler Nachrichten“ auf dergleichen reagieren. Nach der unverhohlen geforderten Annullierung des Volkswillens schloß man sich dann jedoch rasch und fehlerfreudig dem angeblich Unvermeidlichen an.
Siehe auch shz 20.8.1998
Und immer noch führt Richter das große Wort des sprachlichen Wichtigtuers, der geholfen hat, die bewährte Rechtschreibung aufs Kreuz legen – gegen den Willen des Volkes. Aber er ahnt jetzt auch die zwanghaften Kräfte, die dahinter stehen:
Was der Sprachwandel über die Welt verrät
Die politische Korrektheit verlangt das Gendern – und übersieht die Verrohung beim Gebrauch der Wörter.
von Stephan Richter
26. Mai 2018, 19:30 Uhr
Groß war die Aufregung, als 2005 die deutsche Rechtschreibung geändert wurde. Vorausgegangen war ein jahrelanger Streit unter Kritikern und Befürwortern. Die Gegner machten auf allen Kanälen mobil. Dabei ging es bei der Reform des Schriftdeutschen zu 95 Prozent – so die damalige Präsidentin der Kultusminister-Konferenz [Mathematikerin Wanka] – um nur eine einzige Änderung, nämlich die Schreibung von „ss“ statt „ß“ nach kurzem Vokal. Aus dem „Kuß“ wurde der „Kuss“, aus „Kongreß“ wurde „Kongress“. Inzwischen haben sich auch jene Medien, die sich einst der Reform demonstrativ verweigerten, daran gewöhnt und schreiben die Konjunktion „dass“ nicht mehr mit „ß“. [Das Nutzloseste der „Reform“!]
Seit den Protesten gegen die „Zwangsänderungen“, wie sie damals genannt wurden, obwohl sie nur für Schulen und Behörden verbindlich waren, [das war der Kulturschurken-Trick] hat sich die gesprochene und geschriebene Sprache in viel stärkerer Form gewandelt. Die Reform der Kultusminister war dagegen nur ein laues Lüftchen. Doch keiner regt sich mehr auf. [Nach 20jähriger Zwangs-Indoktrination durch Schule und Presse ist kämpferischer Widerstand eben geistiger und physischer Selbstmord.] Im Schriftverkehr per E-Mail scheint die Rechtschreibung ohnehin nur noch Nebensache zu sein; Anglizismen sind ungebremst auf dem Vormarsch. Dazu hat sich ein eigener Netzjargon entwickelt. Die Liste der Abkürzungen, die in E-Mails auftauchen, wird immer länger. „BM“ steht für „Bis morgen“, „HGW“ für „Herzlichen Glückwunsch“. Gegrüßt wird mit „LG“ („Liebe Grüße“) oder als Steigerungsform mit „GLG“ („Ganz liebe Grüße“).
Sprache ist nicht statisch, sondern dynamisch. Das zeigt sich gerade im Internet. Neue Wortschöpfungen eingeschlossen. Wer heute etwas sucht, schlägt nicht mehr in einer Enzyklopädie nach, sondern googelt. Dabei passt sich auch die Rechtschreibung an. Internetnutzer schrieben anfangs – angelehnt an den Namen der Suchmaschine – von „googlen“, jetzt ist laut Duden „googeln“ die richtige und gängige Schreibweise.
Wer Beiträge in den sozialen Netzwerken liest, wird feststellen, wie groß die Wechselwirkungen zwischen Denken und Sprache ist. Die digitale Welt lebt vom schnellen und stetigen Datenfluss. Die ausdifferenzierte Sprache soll die Kommunikation im digitalen Zeitalter erleichtern und ist zugleich Teil eines Identifikationsprozesses. Die Internetgemeinde als eigener „Stamm“.
Zum dynamischen Wandel der Sprache hat sich nun wiederum eine Zwangsänderung gesellt, die aber nicht wie bei der Rechtschreibreform auf staatlichen Beschlüssen [verantwortungsloser, demokratiefeindlicher Politiker] basiert, sondern unter dem Modus der „politischen Korrektheit“ daherkommt [die auch von politischen Institutionen erpreßt wird]. Die Rede ist vom Gendern. Hier geht es um weit mehr als um die lebendige Weiterentwicklung der Sprache. Der Kampf gegen den alleinigen Gebrauch „männlicher“ Substantive, die für die Bezeichnung von Personengruppen beiderlei Geschlechts stehen, ist längst zur Ideologie ausgeartet. Wehe, wenn ein Politiker nur von „dem Wähler“ spricht und nicht auch von „der Wählerin“. Er muss sich dem Vorwurf aussetzen, ein ewig Gestriger zu sein und alten Rollenbildern nachzuhängen.
Sprache folgt nicht dem Wandel der Welt.
Es ist umgekehrt.
Dabei kann „der Politiker“ durchaus weiblich sein. Denn das sogenannte grammatische Geschlecht hat nichts mit dem biologischen zu tun. So versteckt sich hinter dem Gebrauch des Wortes „Leser“ keine Missachtung von „Leserinnen“. Vielmehr sind Menschen beiderlei Geschlechts als Gruppe gemeint. Die Sprachwissenschaft spricht vom „generischen Maskulinum“. Generisch bezeichnet keine spezifische Eigenschaft – hier Mann oder Frau –, sondern zielt auf eine ganze Gruppe, Gattung oder Menge ab.
Trotz dieses grammatischen Sachverhaltes wird so getan, als sei das Gendern eine Frage von Anstand und Haltung. Der sprachwissenschaftliche Hintergrund wird schlicht ignoriert. Die „politische Korrektheit“ macht Druck, und anders als bei der Zwangsänderung [ach nee!] vom „ß“ zum „ss“ gibt es keine offene Diskussion zwischen Verfechtern und Gegnern. Kaum ein Linguist wagt es, den schlichten Hinweis ins Feld zu führen, dass Wörter mit maskulinen Endungen – vor allem „er“ wie Lehrer – sprachwissenschaftlich nicht „sexusmarkiert“ sind, auch wenn ein „der“ als Artikel vor dem Substantiv steht und kein „die“ samt Endung „-in“.
Es bleibt die Ausnahme, wenn mit Helmut Glück ein emeritierter Professor für Deutsche Sprachwissenschaft in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schreibt: „Wenn das Gendern zum Programm erhoben und von Politikern, Professoren oder Pfarrern als Tugendnachweis eingefordert wird, liegen ein autoritärer Eingriff in die Sprache und ein Übergriff auf ein Bürgerrecht vor, das darin besteht, dass das Deutsche in der Öffentlichkeit ohne Gängelei und erhobenen Zeigefinger verwendet wird.“ Der Wissenschaftler aus Bamberg geht sogar noch ein Stück weiter: „Das grassierende Gendern sexualisiert die Sprache, es missbraucht die Sprache. Denn die Sprache ist weder Männchen noch Weibchen. Zum ‚kleinen Unterschied‘ trägt sie nur so viel bei, dass man über ihn sprechen und schreiben kann. Zum Schutz von Menschenrechten taugt das Gendern nicht.“
Doch die „politische Korrektheit“, die hinter dem Gendern steht, erlaubt keine Debatte. Das ist bedenklicher als jeder Eingriff der Kultusminister in die Schul- und Amtssprache, weil anstelle politischer Auseinandersetzung ein gesellschaftlicher Zwangsdruck getreten ist. So wird heute peinlich auf die korrekte Anrede der „lieben Bürgerinnen und Bürger“ geachtet, werden aus Studenten „Studierende“.
Dieses Gendern könnte den Rückschluss zulassen, dass wir sensibler geworden sind, wenn es um den Gebrauch der Sprache geht. Doch es gibt eine Schattenseite, die gerne ausgeblendet wird. Die Grenzübertretungen begannen mit der sogenannten „Hate Speech“ – der Hassrede – im Internet. Inzwischen ist die Sprache auch im gesellschaftlichen und politischen Raum aggressiver geworden. Wenn US-Präsident Donald Trump illegale Einwanderer bei einer Rede im Weißen Haus als „Tiere“ bezeichnet und ihnen damit das Menschsein abspricht, so ist das nur die Spitze des Eisbergs. Ein anderes aktuelles Beispiel: Der AfD-Fraktionschef im Bundestag, Alexander Gauland, darf ungestraft sagen, man solle die ihm nicht genehme frühere Ausländerbeauftragte der Bundesregierung „in Anatolien entsorgen“. Das ist menschenverachtend. „Entsorgt“ wird Müll.
Vielleicht hat der Kampf um das „ß“ oder der Gender-Wahn beim Sprachgebrauch den Blick verstellt für die gesellschaftlichen und politischen Entgrenzungen, die in vollem Gange sind. Denn Sprache folgt nicht dem Wandel der Welt. Es ist umgekehrt. Am Anfang stehen „Veränderungen in den Handlungsmaximen von Sprechern“, wie der Linguist Sascha Bechmann in seinem Buch „Sprachwandel – Bedeutungswandel“ schreibt. So verrät die Sprache viel über die kulturelle, gesellschaftliche und politische Entwicklung, die in vollem Gange ist.
shz.de 26.5.2015
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