Unwissenheit und Reformgläubigkeit
Rückblick
Die Rechtschreibreform wird volljährig
Ein Sorgenkind wird volljährig. Vor 18 Jahren wurde die neue Rechtschreibreform auf den Weg gebracht. Eine schwere Geburt.
Eine Mißgeburt! Aber der größte Unsinn des Artikels steht am Schluß. Zur Einstimmung sei er am Anfang zitiert:
Heute, 18 Jahre nach den ersten Gehversuchen, ist die Rechtschreibreform erwachsen geworden. Und mit ihr eine ganze Nation.
Viele Schüler mußten damit erwachsen werden. Ansonsten ist aber eine ganze Nation in ein Volk von Rechtschreibstümpern verwandelt worden.
Marburg. Manche nennen es eine Marotte, andere eine Passion, wieder andere Besserwisserei. Dr. Monika Rapp nennt es „Achtsamkeit“. Aber egal wie man die Liebe der 49-Jährigen zur Rechtschreibung bezeichnet manchmal wird die Marotte, diese kleine Spinnerei, die Achtsamkeit auch zur Grundsatzdiskussion.
In mancher Frühstückspause beispielsweise kocht in ihr der Ärger hoch. Immer dann, wenn sie ihren Joghurt [nicht „Jogurt“?] aus der Tasche zieht. „DER GROSSE BAUER“ muss es sein. Den Geschmack liebt sie, den Rechtschreibfehler auf der Becherverpackung, der ist schwer verdaulich. Und so hat sie die Firma Bauer angeschrieben. Hat immer wieder gefragt, wieso der Fehler gemacht werde, den „GROSSEN BAUER“ mit zwei „s“ zu bewerben?
„Es gäbe eben kein großes „ß“ im Deutschen, so die Antwort des Unternehmens. Ein Irrtum. „Das war niederschmetternd. Wie kann man denn die Produkte, die man verkaufen will, nicht korrekt schreiben?“, fragt Dr. Rapp.
Zum Zeitpunkt der Einführung der Rechtschreibreform gab ein großes ß überhaupt nicht. Das wurde erst geschaffen, als man den vergrößerten Widerspruch zwischen dem Schriftbild und der neuen Vokallängenabhängigkeit bemerkte und den Reformkritikern den Wind aus den Segeln nehmen wollte. Erst 2008 gibt es ein häßliches Unicode-Zeichen, das man als großes ß verwenden könnte.
Wikipedia: Die gegenwärtigen amtlichen Regeln zur neuen deutschen Rechtschreibung kennen keinen Großbuchstaben zum ß: „Jeder Buchstabe existiert als Kleinbuchstabe und als Großbuchstabe (Ausnahme ß)“. Im Versalsatz empfehlen die Regeln, das „ß“ durch „SS“ zu ersetzen: „Bei Schreibung mit Großbuchstaben schreibt man SS, zum Beispiel: Straße – STRASSE.“
Klagen unvermindert
Die 49-Jährige unterrichtet Deutsch als Fremdsprache an der Philipps-Universität.
Die armen Studenten!
Seit der Rechtschreibreform, die vor 18 Jahren beschlossen wurde, sind die Klagen ausländischer Studierender über die Tücken der deutschen Sprache nicht weniger geworden. Die Regeln aber, die sind überschaubarer. „Früher hatten wir 50 bis 70 Kommaregeln. Je nach Auslegung. Heute sind es nur noch 32. Und die sind lernbar“, sagt sie.
War nicht die Zahl der Kommaregeln durch die geniale Reform auf neun reduziert worden?
Leider, so beobachtet die Sprachexpertin, sei bei einigen Menschen ein nachlassendes Interesse vorhanden, die deutsche Rechtschreibung korrekt zu erlernen. „Der Trend scheint zu sein, dass es vielen reicht, wenn sie einigermaßen richtig schreiben können“, beobachtet Rapp.
Eine Folge der „Reform“: Durch ihre Willkürlichkeit und Zerstörung der Tradition hat sie bei sehr vielen Schreibern Lustlosigkeit hervorgerufen.
Mit der Rechtschreibreform sei zumindest die Wahrscheinlichkeit höher, dass Wörter richtig abgeleitet und Kommata richtig verteilt werden. Verstehen kann die zweifache Mutter das schwindende Interesse an einem korrekten Sprachgebrauch in Wort und Schrift nicht.
Kein Schüler leitet „Stengel“ von „Stange“ ab, kein Normalbürger hat „behende mit „Hand“ in Verbindung gebracht.
Schon die Rede vom „korrekten Sprachgebrauch“ ist Schwindel: Die traditionelle Rechtschreibung war und ist korrekt.
Frage mich manchmal ob ich zu pingelig bin
„Manchmal frage ich mich, ob ich zu pingelig bin. Ich bin in der DDR zur Schule gegangen. Da war das Erlernen der korrekten Schreibung eine Selbstverständlichkeit. An der Universität wurden wir in Sachen Rechtschreibung von einigen Dozenten richtig gedrillt.“
Sie, die promovierte Biologin, die erst nach der Geburt ihrer Kinder das Zweitstudium aufnahm, hat eine Passion für Sprache. Ihren naturwissenschaftlichen Hintergrund aber, den kann sie nicht verbergen. Sie zerlegt Sprache in ihre Elemente, versucht Regelmäßigkeiten und Muster zu erkennen. „Die neue Rechtschreibung ist einfach ein bisschen flexibler. Es gibt mehr Möglichkeiten.“
Die oft unsinnige Beliebigkeit. Dafür muß neu „zurzeit“ und es darf nicht „jedesmal“ geschrieben werden!
Das Trennen von Wörtern beispielsweise das ist einfacher geworden. So einfach, dass erneut eine Regel her musste. Denn wer ohne Verbindlichkeiten Wörter auseinander reißen kann, der kann neue erschaffen. Urin stinkt oder doch lieber Urinstinkt? Staat sex- amen? Oder Staatsexamen? Der Sinn der Worte muss nach einer Trennung erhalten bleiben auch nach der neuen Regel der Sprachreform.
Die Vermeidung von „Urin-stinkt“ ist doch erst von Zehetmair als Reformregel mißverstanden worden.
Kritik an Grass und Reich-Ranicki
Monika Rapp hat, wie Millionen Deutsche, in der Schule die alte Rechtschreibung gelernt. Mit all ihren Tücken und Fallen. Sie hat sich umgestellt. Auf die Neue. Auch auf die Neuerung der Neuen. Und auf die neue Neuerung der Neuen. Zwischendrin war sie entrüstet. Weil sie sich für ihre Arbeit als Lehrkraft immer wieder die überarbeitete Form des Dudens kaufen musste.
Als ob der Neuschrieb nicht voller Tücken und Fallen wäre!
Kritisch setzte sie sich mit Schriftstellern wie Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki auseinander. In ihren Augen Meinungsmacher, die mit ihren Protesten gegen die Neuerungen der Rechtschreibung für Unsicherheit sorgten. „Die Sprache gehört dem Volk“ forderten sie. Und das Volk weiß im Jahr 2003 nicht so recht, was es von der neuen Rechtschreibreform halten soll.
Die Mehrheit des Volkes hielt von der „Rechtschreibreform“ nichts!
Einer Reform, die vieles zwar einfacher macht, dafür aber mit liebgewonnenen Gewohnheiten zu brechen zwingt. Tageszeitungen und namhafte Magazine wie Stern und Spiegel weigern sich 2004, die neue Rechtschreibreform anzuerkennen.
Stern und Spiegel sind besonders eifrig in der Umsetzung der Rechtschreibreform. Aber sie bevorzugen, wenn die „Reform“ es zuläßt, die gefälligere traditionelle Schreibung, zum Beispiel „sogenannt“ anstelle von „so genannt“. Zwar hatte der damalige Spiegel-Chef Stefan Aust 2004 die Rückkehr zur traditionellen Rechtschreibung angekündigt, aber sich dann nicht gegen die Konzernführung und die „fortschrittlichen“ Journalistenkollegen durchsetzen können und schließlich seinen Job verloren.
Schulbücher hingegen werden bereits in Millionenauflage mit der neuen Rechtschreibung gedruckt. Verwirrung. Ablehnung. Vermischung von Alt und Neu. Heute, 18 Jahre nach den ersten Gehversuchen, ist die Rechtschreibreform erwachsen geworden. Und mit ihr eine ganze Nation.
von Marie Lisa Schulz
op-marburg.de 2.6.2014
P.S.: Theodor Ickler schreibt treffend:
Man weiß nicht, wer hier unwissender ist, die Deutschlehrerin oder die Reporterin. Und das an meiner guten alten Philipps-Universität!
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