1984 – Kultusminister Georg Gölter
SPIEGEL Gespräch
Auch bei 20 Fehlern eine Eins im Aufsatz?
Von Harenberg, W. und Adam, P.
Kultusminister Georg Gölter (CDU) über die Rechtschreibung, ihre Reform und ihren Stellenwert in der Schule *
SPIEGEL: Nehmen Sie mal an, Herr Minister, eines Ihrer Kinder hätte Katarrh und Sie sollten die Entschuldigung für die Schule schreiben: Müßten Sie erst nachsehen, wie man Katarrh schreibt?
GÖLTER: Das bräuchte ich nicht zu tun, denn ich habe ein altsprachliches Gymnasium besucht und sechs Jahre lang Griechisch gehabt.
SPIEGEL: Beherrschen Sie auch die Groß- und Kleinschreibung, wissen Sie also, daß es zum Beispiel angst machen, aber Angst haben heißt, die zweite, aber die Zwei, die vielen, aber die Zahlreichen? Und man kann des weiteren darlegen, aber ist des Weiteren enthoben; es geht jemanden nicht das geringste an, aber das Geringste, was einen angeht, wird wieder anders geschrieben.
GÖLTER: Ob ich das alles richtig mache, ist schon die Frage; jedenfalls sind das Beispiele, mit denen für die Kleinschreibung geworben wird.
SPIEGEL: Wir werben nicht, wir fragen nur.
GÖLTER: Dann gibt es ja auch die berühmten doppeldeutigen Sätze, die gegen die Kleinschreibung sprechen sollen: Ich habe in berlin liebe genossen ...
SPIEGEL: Der Satz wäre nur bei einem SPD-Minister doppeldeutig. Ein CDU-Minister wie Sie kann ja in Berlin nur Liebe genossen, nicht liebe Genossen haben.
GÖLTER: Liebe Freunde schon, und das ist viel wichtiger.
SPIEGEL: Aber wir wollten wissen, ob Sie in der Groß- und Kleinschreibung firm sind.
GÖLTER: Im allgemeinen ist mir das schon einigermaßen präsent, da ich neben Geschichte und Politischen Wissenschaften auch Germanistik studiert habe und außerdem in der Schule tätig war, wenn auch nur eine begrenzte Zeit lang. Aber seit rund 15 Jahren bin ich ein bißchen außer Übung. Ich schreibe selbst nur noch in Ausnahmefällen, nur noch privat, und diktiere ganz überwiegend, sogar früher Briefe an meine Eltern, weil diese meine Schrift nicht mehr so gut lesen konnten.
Es kommt schon vor, daß ich gelegentlich in den Duden gucken muß, wenn meine eigenen Kinder mich auf Zweifelsfälle ansprechen.
SPIEGEL: Wir haben hier einen Diktattext von zehn Zeilen mitgebracht. Würden Sie sich zutrauen, ihn ohne Fehler zu schreiben?
GÖLTER: Oh, weh, damit habe ich nicht gerechnet. Nun gut, ich versuch''s einfach mal. (Geht an seinen Schreibtisch, läßt sich den Text diktieren, kehrt zurück.) Nun?
SPIEGEL: Sechs Fehler.
GÖLTER: Eindeutig Versagen in einer Prüfungssituation! Aber was ist damit bewiesen?
SPIEGEL: Daß die deutsche Rechtschreibung reformbedürftig ist, wenn sogar jemand, der Abiturient eines humanistischen Gymnasiums, Germanist und Kultusminister in einer Person ist, so viele Fehler macht.
GÖLTER: Was Sie mit mir als Objekt vorgeführt haben, ist ohnehin klar: Auch wer mit Sprache viel zu tun hatte und hat, auch wer im landläufigen Sinne zu den Gebildeten zählen mag, steht angesichts der Kompliziertheit der Rechtschreibung immer wieder vor Problemen. Ich beziehe mich da durchaus ein.
Manchen, die noch nicht sensibel genug sind für all das, was wir auf diesem Gebiet unseren Kindern und den Ausländern zumuten, wäre zu wünschen, daß sie ein solches Diktat schreiben und über ihren eigenen Fehlern nachdenklich werden. Weil ich die Rechtschreibung für reformbedürftig halte, habe ich dieses
_(Mit Redakteuren Werner Harenberg und )
_(Peter Adam im Mainzer Kultusministerium. )
Thema auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung der Konferenz der Kultusminister gebracht.
SPIEGEL: Soll die KMK schon am 14. und 15. Juni in Saarbrücken eine Reform beschließen?
GÖLTER: Nein, auf keinen Fall, daß ist weder notwendig noch ist es erreichbar. Es soll, das ist meine Vorstellung, beschlossen werden, eine nationale Kommission zu bilden. Bis zur ersten KMK-Sitzung nach der Sommerpause könnte dann eine Vorschlagsliste erarbeitet werden, die Kultusminister würden die Mitglieder im Herbst berufen. Nach einem angemessenen Zeitraum, etwa einem Jahr, sollte die Kommission einen Reformvorschlag vorlegen, über den die KMK zu entscheiden hätte.
SPIEGEL: Warum soll die Kultusministerkonferenz eigentlich ein zweites Mal in dieser Sache entscheiden? Sie hat doch schon im Jahre 1973 einstimmig die gemäßigte Kleinschreibung beschlossen, nach der nur noch Satzanfänge, Eigennamen, das Anredepronomen Sie und einige Abkürzungen groß geschrieben würden. Was ist eigentlich aus diesem Beschluß geworden?
GÖLTER: Nichts.
SPIEGEL: Gilt er noch?
GÖLTER: Das weiß ich nicht. In der offiziellen Sammlung der KMK-Beschlüsse steht er nicht mehr drin.
SPIEGEL: Ist denn beschlossen worden, ihn aus den Akten zu entfernen? Das müßten Sie doch wissen, für einen KMK-Beschluß könnte das doch nur die KMK selbst beschließen.
GÖLTER: Bei aller Notwendigkeit, Beschlüsse umzusetzen und einzuhalten, sollte man die KMK nicht als ein Gremium betrachten, das den rechtlichen Anforderungen gerecht werden müßte, die an Gesetzgeber, also Bundestag und Landtage, gestellt werden.
Ich werte den Beschluß von 1973 über die Rechtschreibreform als eine politische Absichtserklärung, die Reform in dieser Richtung voranzutreiben. Die Kultusminister haben ja damals nicht beschlossen, mit Beginn des nächsten Schuljahres die gemäßigte Kleinschreibung einzuführen.
SPIEGEL: Was wird am Ende der Entwicklung stehen, die Sie jetzt einleiten wollen, wieder eine Absichtserklärung, die womöglich wieder aus den Akten verschwindet?
GÖLTER: Das ist natürlich nicht meine Vorstellung. Ich bin ganz optimistisch, daß wir diesmal zu einem Beschluß kommen, der auch realisiert wird. Mein Ziel ist es, die Kompliziertheit der Rechtschreibung und die Chancen einer Reform in einer emotionsfreien Atmosphäre zu erörtern. Da sich die Diskussion in den letzten Jahren versachlicht hat, halte ich das für möglich.
SPIEGEL: Da haben wir Zweifel. Die Kommentare der anderen Unions-Kultusminister zu Ihrer Initiative waren alles andere als positiv, und sie waren auch nicht nüchtern-sachlich, sondern aggressiv.
GÖLTER: Die Kollegen haben sich nur zu einem Teilpunkt geäußert, ob die gemäßigte Kleinschreibung eingeführt werden soll. Dagegen haben sich in der Tat alle Unions-Minister geäußert, abgesehen von Herrn Oschatz, dem derzeitigen KMK-Präsidenten.
SPIEGEL: Ihre Kollegen und Parteifreunde könnten insofern aus guten Gründen gegen Ihre Initiative sein, als Sie Ihre eigene Partei, die CDU, in eine schwierige Lage bringen.
GÖLTER: Wieso?
SPIEGEL: Das beginnt schon mit der Kommission.
Entweder beschließt die KMK, jedes Bundesland entsende einen Vertreter, dann wäre zwar eine CDU/CSU-Mehrheit von sieben zu vier gesichert, doch es röche nach Manipulation, auf diese Art eine Fachkommission zu bestellen.
Oder die Kommission setzt sich wieder, wie bislang alle Rechtschreibkommissionen des In- und Auslands, aus Fachleuten der einschlägigen Institute und Verbände zusammen, dann ist eine Mehrheit für die gemäßigte Kleinschreibung, also gegen die Meinung der CDU/CSU-Minister, ziemlich sicher.
GÖLTER: Das sehe ich überhaupt nicht so. Die Länder sollten schon vertreten sein, aber je zwei oder drei aus den Unions- und aus den SPD-Ländern würden genügen. Viel wichtiger ist es, in dieser Kommission den Sachverstand zu versammeln, den es in der Bundesrepublik gibt, also jene Fachleute, die zum Teil schon seit Jahrzehnten mit dieser Frage befaßt sind und sich in der Literatur ausgewiesen haben. Und diese Fachleute sollten ohne jede Vorgabe der KMK berufen werden.
SPIEGEL: Sie fürchten nicht, daß dann die Mehrheit ...
GÖLTER: Wenn wir bei der Lösung dieses wichtigen Problems einen großen Schritt weiterkommen wollen, dann darf die Entscheidung keine Frage von Mehrheiten und Minderheiten sein.
Ich sehe die Aufgabe der Kommission darin, eine umfassende Bestandsaufnahme zu machen, also die Rechtschreibung in ihrer gesamten Breite zu überprüfen und am Ende festzustellen, über welche Reformvorschläge man sich einig ist und über welche Reformvorschläge eine Einigung nicht zu erzielen ist.
SPIEGEL: Da können wir fast ohne Risiko eine Prognose wagen. Die Kommission wird sich auf allen Gebieten einigen und eine Reform der Zeichensetzung, des Getrennt- und Zusammenschreibens, der Silbentrennung, der Fremdwortschreibung vorschlagen. Worin sich die Experten mehr oder minder einig sind oder einig werden können, haben wir zusammengestellt (siehe Kasten Seite 162). Nur in einem Punkt wird eine Minderheit die Reform ablehnen, eben wenn es um die Groß- und Kleinschreibung geht.
GÖLTER: Das wäre ein faszinierendes Ergebnis, das wäre ja sogar ein Jahrhundertergebnis. Ich nehme mich nicht wichtiger als ich bin, aber wenn der Kultusminister Georg Gölter aus dem relativ kleinen Bundesland Rheinland-Pfalz dazu einen Beitrag geleistet hat, dann kann er darauf sogar ein bißchen stolz sein. Es ist über 80 Jahre her, seit zum ersten und bislang letzten Mal ein Regelwerk für die deutsche Sprache in Kraft getreten ist. Seither gibt es nur die Bemühungen der Duden-Redaktion, dieses Werk durch immer neue Regeln und Regelungen zu aktualisieren.
SPIEGEL: Sind wir uns darüber einig, daß das, bei allem Sachverstand der Duden-Redaktion, nur Flickschusterei gewesen ist?
GÖLTER: Jedenfalls sind die Regeln immer komplizierter geworden. Die einheitliche Regelung ist durchgehalten worden, aber um den Preis eines immer schwerer durchschaubaren Regelwerks. Es hat bislang kein politisches Konzept gegeben, nach dem man anders hätte vorgehen können. Hier, meine ich, müßte die Kultusministerkonferenz handeln.
SPIEGEL: Nun ist aber die Forderung nach einer Kleinschreibung der Substantive, das ist ja der Kern der Kontroverse, fast so alt wie die Orthographiereform aus dem Jahre 1902. Schon 1908 hat Konrad Duden der Mann, dem die Reform zu verdanken ist geschrieben:
" Die Substantiv-Großschreibung schädigt durch nutzlose Gedächtnisbelastung die geistige und leibliche Gesundheit unserer Jugend, indem sie der Schule kostbare Zeit und dem Kinde Lust und Freude am Lernen raubt. Sie wirkt verdummend, indem sie unter Kraftvergeudung Verstand und Gedächtnis zu gegenseitigem Kampf zwingt. Sie erschwert die Ausbreitung der deutschen Sprache. "
GÖLTER: Noch so schöne Zitate helfen uns nicht weiter, zumal es Zitate pro wie kontra Kleinschreibung gibt.
SPIEGEL: Sicher, jede Seite kann da ganze Serien zusammenstellen. Die Kleinschreiber warten dann mit der Reihe von Jacob Grimm über Bertolt Brecht bis Heinrich Böll auf, die Großschreiber mit der Reihe von Wilhelm Grimm über Thomas Mann bis Günter Graß.
GÖLTER: Man muß die Sache ganz realistisch sehen, ob man es nun begrüßt oder bedauert: Es kann und es wird in diesem Jahrhundert in der Bundesrepublik keine Einigung über Groß- und Kleinschreibung geben.
Die Diskussion über die Rechtschreibung litt in den letzten 20 Jahren darunter, daß die Groß- oder Kleinschreibung immer der erste Punkt war, dann marschierten sofort die Bataillone auf. Deshalb meine ich, daß wir dieses Thema jetzt zum letzten Punkt machen oder ganz ausklammern, uns also sehr früh darauf einigen sollten, daß wir uns in dieser Frage nicht einigen können. Es läßt sich dann unnötiger Streit vermeiden, der uns nur hindert, die Reform in den anderen Punkten zu realisieren.
SPIEGEL: Soll die Kommission sich gar nicht mit diesem kontroversen Thema befassen?
GÖLTER: Doch, das schon, das gehört zur Bestandsaufnahme dazu.
SPIEGEL: Können Sie uns erklären, warum die Kultusminister der CDU/ CSU in dieser Sache konvertiert sind? So radikal haben sie ja sonst nur ein einziges Mal ihre Meinung geändert, als sie die Konfessionsschulen abschafften, die sie zunächst noch verteidigt hatten.
GÖLTER: Die Diskussion ist damals sehr schnell zu einer ideologischen Auseinandersetzung geworden, wenn Sie nur um ein Stichwort zu geben an die hessischen Rahmenrichtlinien denken. Da haben sich die Meinungen stark polarisiert. Man muß wohl auch ganz nüchtern feststellen, daß dieses Thema wie wenige andere geeignet ist, Emotionen auszulösen. Das galt für die sechziger und siebziger Jahre, aber das gilt wohl auch heute. Deshalb hätte ein neuer Streit um dieses Thema keinen Sinn, er führte zu nichts.
SPIEGEL: Wir würden gern Ihre eigene Meinung hören. Ihr Vorvorgänger, der heutige Ministerpräsident Bernhard Vogel, war 1974 noch für das Ersetzen von Großbuchstaben durch Kleinbuchstaben, Ihre Vorgängerin, die heutige Berliner Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien, meint 1984, daß man im Deutschen die großen Buchstaben braucht.
GÖLTER: Ich bin im Gegensatz zu manchen anderen der Auffassung, daß auch im Vergleich zu anderen Kultursprachen, etwa dem Französischen und dem Englischen, die Bedeutung der Großschreibung für die deutsche Sprache von vielen überschätzt und überbewertet wird.
SPIEGEL: An dem Kultusminister Gölter würde die gemäßigte Kleinschreibung nicht scheitern?
GÖLTER: Nein, an mir würde diese Reform nicht scheitern. Aber das ist eine Diskussion l''art pour l''art.
SPIEGEL: Wohl nicht ganz, denn das Thema wäre ja auch dann nicht aus der Welt, wenn es in der Bundesrepublik beerdigt würde. In einer Bestandsaufnahme des Rechtschreib-Experten Wolfgang Mentrup vom Mannheimer Institut für deutsche Sprache wird die Einstellung der politischen Institutionen so beschrieben: Die DDR sei einer Reform aufgeschlossen, Österreich sei freundlich-bemüht, die Schweiz verhalte sich abwartend-neutral, die Bundesrepublik reagiere abwehrend-unwillig.
Man kann es sogar noch schärfer formulieren: Die DDR ist eindeutig für die Kleinschreibung, und in Österreich hat sich der Trend dahin verstärkt.
GÖLTER: Alle Staaten haben erklärt oder deutlich zu erkennen gegeben, daß sie keinen Alleingang wollen. Man sollte auf alle Spekulationen verzichten, bis der nächste Schritt erfolgt ist und die Bundesrepublik, die bislang nicht offiziell, sondern nur durch Fachleute vertreten war, ihr offizielles Votum einbringt und Verhandlungen der vier deutschsprachigen Staaten beginnen können.
Wenn unser Konzept zwar nicht zur. Kleinschreibung, aber zu einer Vereinfachung der Regeln ohne Bruch mit der Tradition führen würde, könnte ich mir sehr gut vorstellen, daß es zu einer Übereinkunft der vier Staaten führt.
SPIEGEL: Sie würden bei einem Verzicht auf die Kleinschreibung in Kauf nehmen, daß Deutsch als Weltsprache noch schneller zurückgeht als es bei einer umfassenden Reform geschehen würde. Anne Vorderwülbecke, eine Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache an der Heidelberger Universität, meint, daß insbesondere die Groß- und Kleinschreibung den Studenten fast aller Ausgangssprachen große Schwierigkeiten macht, sie schätzt, daß hier etwa 80 Prozent aller Rechtschreibfehler liegen.
GÖLTER: Genau das ist einer der Gesichtspunkte, warum ich mich in dieser Sache so schwertue. Grundsätzlich will ich, mit Blick auf die Sprachgeschichte und die Kulturtradition, an der Großschreibung festhalten; ich sehe aber, daß dies mit Nachteilen für die deutsche Sprache, vor allem im Ausland, erkauft wird. Ich leugne nicht, daß die Verfechter der gemäßigten Kleinschreibung durchaus gewichtige Argumente ins Feld führen.
SPIEGEL: Sind nicht eigentlich alle Gegen-Argumente, welch gewaltiger Schaden durch die Kleinschreibung für
die Verlage, für die Bibliotheken, für die Schulen, für die Kultur überhaupt entstehen würden, dadurch widerlegt, daß Dänemark diese Reform im Jahre 1948 überstanden hat, ohne daß irgendjemand negative Folgen bemerkt hat?
GÖLTER: Die dänische Situation kann ich, offen gesagt, nicht beurteilen.
SPIEGEL: Herr Minister, lassen Sie uns noch über Rechtschreibung in der Schule sprechen. Halten Sie die Klagen für berechtigt, die Leistungen auf diesem Gebiet seien gesunken?
GÖLTER: Wir haben dieses Thema im Dezember vorigen Jahres auf einem Symposion hier in der Akademie der Wissenschaften erörtert. Nach all dem, was dort vorgetragen wurde, meine ich, daß die Klagen berechtigt sind.
SPIEGEL: Gibt es nach Ihrer Meinung Unterschiede zwischen den SPD- und den CDU/CSU-Ländern, machen also Schüler in Hamburg und Hessen im Schnitt mehr Fehler als in Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg?
GÖLTER: Ich bin davon überzeugt, daß das Schulwesen in den unionsgeführten Ländern insgesamt anspruchsvoller ist. Ob das aber zu unterschiedlichen Fehlerquoten in der Rechtschreibung führt, entzieht sich meiner Kenntnis.
SPIEGEL: Es hat mal jemand ausgerechnet, daß Jahr für Jahr 200 Millionen Schülerstunden und sieben Millionen Lehrerstunden für Rechtschreibung aufgewendet werden. Wie viele Stunden würden nach einer Reform, mit der ja auch bei einem Verzicht auf die Kleinschreibung vieles vereinfacht und liberalisiert würde, frei für andere Dinge?
GÖLTER: Das läßt sich nicht beziffern. Es würde vor allem Zeit frei für mehr Grundlegung in der Rechtschreibung. Ich halte es für wichtig, den jungen Menschen mehr Sicherheit im Gebrauch ihrer Sprache zu geben. Es ist dies eine Aufgabe, die zum Bereich Deutsch als Unterrichtsprinzip gehört, das heißt, es ist eine Aufgabe für alle Fächer, für die Grundschule wie für die Sekundarstufe I.
SPIEGEL: Mehr Rechtschreibung auch für die 16- und 17jährigen Schüler in den Realschulen und Gymnasien?
GÖLTER: Ja, selbstverständlich. Ich wünsche mir den Deutschlehrer, der in der neunten oder zehnten Klasse sagt: Also, Gentlemen, beim letzten Aufsatz ist mir aufgefallen, daß ihr noch Probleme mit der Rechtschreibung habt, jetzt machen wir jede zweite Woche mal 20 Minuten lang ein Kurzdiktat, und ich nehme die Mühe auf mich und korrigiere die Texte, einfach so zum Üben.
SPIEGEL: Was geschieht, wenn ein Lehrer was wir uns gut vorstellen können nichts davon hält, mit 16- und 17jährigen Schülern Diktate zu schreiben, und Ihrer Direktive nicht folgt?
GÖLTER: Ich stehe nicht in jeder Stunde hinter jedem Lehrer. Das wäre auch eine ganz unsinnige Perspektive und das Ende der Schule. So etwas kann man über Lehrpläne, Beratung, Schulaufsicht durchsetzen. Aber viel wichtiger ist das gemeinsame pädagogische Verständnis der Aufgabe, die sich in der Schule stellt. Und da bin ich sehr optimistisch.
SPIEGEL: Bedeutet mehr Rechtschreibung im Deutschunterricht der oberen Klassen nicht, daß man weniger Zeit für Literatur hat?
GÖLTER: Keinesfalls. Die Beschäftigung mit Literatur in der Schule hat steigende Tendenz, die Linguistik tritt zurück, Gott sei Dank. Es wird zwar viel über Stoffülle und über überladene Lehrpläne geklagt, aber die Schule ist heute eher in Gefahr, zuviel zu machen, und was sie macht, macht sie in vielen Fällen nicht gründlich genug.
Wir müssen die Lehrpläne entschlacken und dadurch dem einzelnen Lehrer mehr Freiraum verschaffen. Zu den wenigen Vorgaben, die ich als Minister für die neuen Lehrpläne gemacht habe, an denen hier in Rheinland-Pfalz für Grundschule und Sekundarstufe I gearbeitet wird, gehört der Leitsatz: Kein Lehrplan soll mehr für verbindlich erklären als das, was in 25 Wochen pro Jahr zu bewältigen ist. Dann hat der Lehrer 15 Wochen Zeit für Üben, für Vertiefen, für Wiederholen, für individuelles Eingehen auf die Situation der Klasse.
SPIEGEL: In Rheinland-Pfalz wie in anderen Länder ist die Regelung umstritten, nach der ein Schüler für einen Aufsatz eine Eins auch bei 10 oder 20 Rechtschreibfehlern bekommen kann. Das gilt bis Klasse 10, solange Diktate geschrieben und für die Deutsch-Gesamtnote gewertet werden. Manche wollen diese Trennung aufheben, weil eine Eins im Aufsatz bei vielen Fehlern den Stellenwert der Rechtschreibung nicht deutlich mache. Wollen Sie es bei der Trennung lassen?
GÖLTER: Ich tendiere auch hier zu einer Änderung.
SPIEGEL: Umstritten ist auch die Regelung für die Oberstufe der Gymnasien, daß die Aufsatznote wegen der Fehler in der Rechtschreibung bis zu einer Stufe herabgesetzt werden kann.
GÖLTER: Ich bin schon dafür, daß die Kenntnisse in der Rechtschreibung auf diese Weise bis hin zum Abitur in die Bewertung der Schülerleistungen einbezogen werden.
SPIEGEL: Sie haben kürzlich erklärt, man müsse aufpassen, daß nicht plötzlich die technischen Medien diktieren, wie man die Rechtschreibung vereinfacht. Wie ist das zu verstehen?
GÖLTER: Ganz einfach. Der Sprechschreiber gehört in wenigen Jahren zur Grundausstattung jedes Büros. Und ob der Sprechschreiber bereit sein wird, die letzten Feinheiten der deutschen Rechtschreibung nachzuvollziehen, das ist doch sehr die Frage. Meine Prognose ist: Vom Sprechschreiber, und der ist ja nur ein Beispiel, werden erhebliche Auswirkungen im Sinne der Vereinfachung in Zweifelsfällen ausgehen.
SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Mit Redakteuren Werner Harenberg und Peter Adam im Mainzer Kultusministerium.
spiegel.de 11.6.1984
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