Wie wir es dann (1996) so herrlich weit gebracht ...
Wirthschaft, Thäter, Gedächtniß, Rath und Thür
Peter Schmachthagen
Deutschstunde: Als die erste Ausgabe der Berliner Morgenpost erschien, gab es noch keine amtlich einheitliche Orthografie.
Berlin. Wer das allererste Exemplar der Berliner Morgenpost betrachtet, nämlich die Ausgabe vom 20. September 1898, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Unsere heutige digitale Jugend wird sich zwar mehr über den Preis des neuen iPhones aufregen und ein vergilbtes Zeitungsblatt mit Schulterzucken quittieren, doch wir Fachleute bekommen große Augen, als Erstes über den Bezugspreis. Dieses Lokalblatt war für zehn Pfennig zu beziehen – nein, nicht am Tag (das schaffte die „Bild“-Zeitung 1952 auch), sondern in der ganzen Woche einschließlich des Sonntags „frei in’s Haus“! Wer gleich für ein Vierteljahr „abonnirte“, zahlte nur 1,30 Mark. Trotz der damals weitaus geringeren Löhne und Einkommen waren das Beträge, die heute ein sehnsuchtsvolles Seufzen hervorlocken.
Dann erstaunt die Schriftart. Die Zeitung ist in Fraktur gedruckt, die jetzt nur noch die Älteren lesen können. Alle Zeitungen und Bücher erschienen bis in den Zweiten Weltkrieg hinein in dieser barocken „gebrochenen“ Schrift, die so typisch deutsch anmutet, dass einige uninformierte Kommentatoren vorschnell von der „Nazi-Schrift“ sprechen. Allerdings erschienen Flugblätter und Plakate der SPD und sogar der Kommunisten in der Weimarer Republik ebenfalls in Fraktur. Hitler war es selbst, der am 2. Januar 1941 alle Fraktur-Druckschriften als „Schwabacher Judenlettern“ sowie die Sütterlin-Schreibschrift verbieten und durch die Antiqua und in der Schule durch lateinische Buchstaben ersetzen ließ.
Doch zurück zu unserer Erstausgabe. Ich stelle erfreut fest, dass der Sonnabend in der Morgenpost „Sonnabend“ genannt wird, wie es für den Norden und Osten korrekt ist und noch heute für ganz Berlin gelten sollte. Vorhanden war auch ein Leitartikel auf Seite 1, der in den Jahren, als ein junger Kaiser sein Volk „herrlichen Zeiten“ entgegenführen wollte, ins Horn der Jugend blies. Er forderte, die passive Wählbarkeit bei ca. 60 Jahren aufzuheben: „Dann würden unsere Parteivertretungen nicht mehr von Mummelgreisen geleitet sein, die der nothwendigen Entwicklung des Volkslebens den Hemmschuh anlegen. Junge Kräfte brauchen wir überall an der Spitze mit jungen Gehirnen und modernen Begriffen statt der feierlichen alten Herren mit ihren vorsintfluth¬lichen Anschauungen.“ Ließen sich diese Forderungen heute, 120 Jahre später, durchsetzen, würde sich der Bundestag stark lichten.
Um von der Geschichtsstunde zur Deutschstunde zu kommen, betrachten wir die Orthografie (oder die „Orthographie“, wie es damals hieß [und auch heute noch kultiviert und richtig ist]). Wir finden in der Morgenpost so antiquierte Schreibungen wie „roth“, „Wirthschaft“, „Thäter“, „Gedächtniß“, „Rath“ oder „Thür“. 1898 gab es noch keine amtlich einheitliche Orthografie [und heute gibt's trotz „amtlich“ keine einheitliche mehr]. Die deutsche Rechtschreibung ist ein Kompromiss aus phonetischen, historischen und etymologischen (wortgeschichtlichen) Elementen. Sie ist über Jahrhunderte gewachsen. Noch im 19. Jahrhundert pflegte jede Buchdruckerei, Kanzlei und Behörde ihre eigenen Schreibweisen. Selbst die Lehrer desselben Kollegiums hatten unterschiedliche Ansichten über die Orthografie, was den Schülern von Stunde zu Stunde eine große Anpassungsfähigkeit abverlangte [reichlich übertrieben].
Schließlich setzte sich der Direktor des Königlichen Gymnasiums zu Hersfeld hin und gab in Jahre 1880 ein „Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ heraus. Sie kennen alle seinen Namen. Es handelte sich um Konrad Duden. Sein 214 Seiten starker „Urduden“, kartoniert für eine Mark vom Bibliographischen Institut in Leipzig angeboten, trug wie kein zweiter zur Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung bei.
Er diente auch als Vorlage für die Beschlüsse der Staatlichen Orthographiekonferenz in Berlin vom Jahre 1901, die eine amtlich geregelte, weitgehend einheitliche Rechtschreibung festlegte – jedenfalls für die Bereiche, auf die der Staat Zugriff hatte: auf Schulen und Behörden. Privatpersonen wie mein Großvater schrieben weiterhin in steilen deutschen Buchstaben „Rath“ und „Thür“. Die Konferenz kam nur zu einem Abschluss, weil sie mancherlei Kompromisse schloss. Es war damals nicht anders als heute: Wenn sich zwei Professoren über die Schreibweise eines Wortes streiten, werden am Ende drei Möglichkeiten erlaubt.
Es war Konrad Duden selbst, der gleich nach der Konferenz eine Reform der Beschlüsse forderte. Es dauerte aber 95 Jahre, bis eine solche [völlig nichtnutzige!] Rechtschreibreform beschlossen werden konnte. Am 1. Juli 1996 unterzeichneten Deutschland, Österreich, die Schweiz, Liechtenstein und einige benachbarte Länder mit deutschsprachigen Bevölkerungsteilen eine zwischenstaatliche Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung.
Davor hatte es im Jahresrhythmus Reformvorschläge gegeben, die fast alle – Pardon! – an Dämlichkeit nicht zu überbieten waren [wie heute: „Tollpatsch wie Töllpel“!]. So sollte nach den Stuttgarter Empfehlungen von 1954 neben der Großschreibung das Dehnungs-h, das Längen-e und die Vokaldoppelung abgeschafft werden. Das hätte zu „zan, wise, libe“ und „bot“ geführt. [ „dass“ statt „daß“ nützt auch niemand! ]
Hinzu kam, dass die Kulturhoheit mit dem Grundgesetz auf die Bundesländer übergangen war. Die Kultusminister und Schulsenatoren, vielfach Ministerinnen und Senatorinnen, verstanden sich häufig mehr als Ideologen denn als Pädagogen. Sie treffen sich in der Kultusministerkonferenz, die doch 1973 tatsächlich den Beschluss zustande brachte, durchgehend die Kleinschreibung einzuführen. Die deutsche Teilung bewahrte uns davor, dass dieser Beschluss umgesetzt wurde, da mit einem Entgegenkommen der DDR nicht zu rechnen war. Eine getrennte Rechtschreibung in Kreuzberg und in Friedrichshain diesseits und jenseits der Mauer wollte man nun doch nicht riskieren. [...]
morgenpost.de 20.9.2018
|