Kleinschreibung in der Hand der Großplaner
(dritter und letzter Teil)
Dänemark
Man wird mir erwidern, daß ich ständig voraussetze, daß sich in der Lesepraxis beträchtliche Veränderungen nach der Einführung des Kleindrucks vollziehen würden. aber wird man denn nicht, so sagt man, in der Zeitung durch unwillkürliche Vereinfachung, durch Vermeidung von Schachtelsätzen, durch entsprechendes Layout dafür sorgen, daß die kleine Leseerschwerung sich wieder voll aufhebt? Und wie war es denn in Dänemark, wo die Kleinschreibung nach dem letzten Krieg stufenweise eingeführt wurde? Ich beginne mit Dänemark.
Es herrscht dort ein Kompromiß. Zwar wird dort seit langem sehr viel klein gedruckt, natürlich die Zeitung und das Schulbuch, aber es denkt dort im Ernst fast niemand daran, Andersens „Gesammelte Märchen“ oder Kierkegaards „Werke“ klein zu drucken, sie werden normal neu aufgelegt; genauer: Heute denkt niemand mehr im Ernst daran, weil zum Beispiel der Philosoph unverständlich, jedenfalls leseschwierig würde an unzähligen Stellen; man hat das ausprobiert.
Der Gebildete ist also auf zwei Systeme eingespielt. Das geht in den meisten Föllen gut. Aber bei bestimmten psychischen Verfassungen, bei Modeanfälligkeit, treten Aversionen und kleine Fixierungen auf. „Es sind Erfahrungen“, so erzählt mir in diesen Tagen ein dänischer Kollege, „wie Sie sie wohl selbst aus jener Zeit kennen, da in Deutschland die Fraktur abgeschafft und die Antiqua eingeführt wurde. Es gibt Leute, die kaufen dann partout kein altmodisches Buch mehr.“ Es entstehe manchmal eine kleine irrationale Schwellenangst vor dem „abgestandenen Alten“. Und wie steht es mit dem Zeitungslesen, wollte ich wissen, ist die Geschwindigkeit nicht herabgesetzt? „Sicher, es geht nicht mehr ganz so schnell, trotz so langjähriger Übung, trotz Einspielung von Zeitung und Leser aufeinander, ist eine Tempoverminderung eingetreten, und zwar bei jung und alt, gebildet und ungebildet, stärker natürlich bei den Ungebildeten oder Bildungsbenachteiligten.“ Er bestritt natürlich nicht die Schreiberleichterung im Ganzen, die ihm aber mit der Leseerschwerung etwas zu teuer bezahlt scheint; erst recht gälte dies fürs Deutsche! Er ist Germanist, er meint, daß das immer noch abstrakter werdende Deutsch mit seinen Nominalisierungen, mit seinen Schachtelsätzen und vor allem mit der freien Wortstellung im Satz ein ungünstigeres Objekt für die Kleinschreibung darstelle als andere Sprachen. Wie es fast alle Ausländer tun, begrüßte er die Großschreibung (Leseerleichterung); ich darf mir dieses allgemeinere Urteil erlauben, da ich mehr als zehn Jahre die Ausländerferienkurse der Universität Frankfurt gleitet habe.
Aus Menschenfreundlichkeit
Ich höre fragen (kleingedruckt könnten es sogar „Fragen“ sein): „Nun gut, aus Menschenfreundlichkeit haben es die Dänen gewagt. Wir müssen es wieder und besser wagen. Sind wir nicht, nach den letzten Jahrzehnten, im Besitz besonderer didaktischer Errungenschaften?“
Antwortend darf ich zunächst korrigieren: Die Dänen haben aus politischen Gründen den Schritt getan. Zwecks stärkerer Eingemeindung in die nordische Sprachwelt, stärkerer Abgrenzung vom Deutschen. Aber es steckt die richtige Frage darin: Was würden Schule und Presse tun, um dem Publikum die Leseerschwerung womöglich zu löschen? Was könnten überhaupt die Auswirkungen sein?
Zunächst die Presse. Ich beginne mit einer harmlosen Veranschaulichung. Nehmen wir an, daß ein zu Schachtelsätzen neigender Leitartikler plötzlich Schachtelsätze von Marx zitieren muß, die zudem die recht deutschen substantivierten philosophischen Adjektiva enthalten (das Wirkliche, das Vernünftige usw.) Dem Leser und dem Marx zuliebe wird der Redakteur den Marx-Satz wohl altmodisch setzen. Oder?
Es ist natürlich nicht nur der Periodenbau. Günter Herburger hat auf eine Umfrage in der „SZ“ am 17. November 1973 geantwortet: „ ... Ich zögere. Plötzlich bilde ich mir ein, daß dann mein Handwerkszeug, die Sprache, ein wenig stumpfer geworden wäre ... Kleingeschrieben würden sich zum Beispiel die „Bezüge“ zwischen Haupt- und Eigenschaftswörtern ändern. Man müßte dann die deutschen Sätze ein wenig anders bauen, um sie verständlich zu halten.“ Ich bedaure, die überraschungsreiche Glosse Herburgers nicht in toto bringen zu können und möchte nur darauf aufmerksam machen, wie Herburger hier die Sprache ebenso im Hör- wie im Sehraum lokalisiert und die Schrift eben nicht nur für so eine Art Notenschrift hält, sonst könnte er es nicht für möglich halten, daß durch Schriftänderung die Sprache selbst, sein „Handwerkszeug“, vielleicht stumpfer werden könnte. (Rundfrageantworten von Schriftstellern stehen in der „SZ“ am 13. Oktober und 17. November 1973, in der „Welt“ mehrmals kurz. – Wer übrigens Thomas Manns, Hesses und Dürrenmatts Ansichten zur Kleinschreibung, das heißt zu dem vom heutigen nur leise abweichenden Projekt von 1954, kennenlernen will, schlage die „Weltwoche“, Jahrgang 1954, auf: drei scharfe Ablehnungen. Sie sind allerdings durch L. Weisgeber etwas relativiert worden in: Die Verantwortung für die Schrift. 1964. Ganz ohne Änderung der Syntaxgewohnheiten und der Wortwahl wird es nicht abgehen. Aber man kann das alles vielleicht in der Schwebe lassen. Die wirkliche und unvermeidbare Gefahr taucht erst noch auf.
Sie ist vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels angedeutet worden. Ich muß weiter ausholen und folge zunächst dem Bericht über die Resolution dieses Vereins („Frankfurter Neue Presse“ vom 7. Juni 1973): „Änderungen der Schriftsprache sollen erst dann eingeführt werden, wenn stichhaltige Untersuchungen über das Verhältnis von Schreiben und Lesen sowie über die Bedeutung der Differenzierungshilfen in gedruckten und geschriebenen Texten überzeugende Ergebnisse erbracht hätten ... Dieser Resolution haben sich die Vorstände des Hauptverbandes des österreichischen Buchhandels und des Schweizerischen Buchhändler- und Verleger-Vereins angeschlossen.“ Diesem Bericht hat in eben dieser Zeitung Dieter Hoffmann folgenden Kommentar angefügt: „Die Buchhändler ahnen, daß eine radikale Veränderung der Rechtschreibung bei möglichen künftigen Lesern eine Schwellenangst vor jener Literatur aufbauen würde, die bis zum Zeitpunkt der Reform gedruckt wurde ... Soll lebendige Literatur als tote Literatur in Magazinen vergraben werden? ... Schließlich sollten auch die Schriftsteller ihre Stimme erheben; denn die politisch oder sektiererisch angeheizten Rechtschreibreformen sind nichts anderes als die modernen Scheiterhaufen der Literatur.“ Es sind Gedanken, die ich bei fast allen erfahrenen Büchermachern ähnlich gefunden habe. ... Öfter wird auf die Erfahrungen hingewiesen, die man mit der unerwartet aufgetauchten Schwellenangst vor der Fraktur gemacht habe, als die Mehrzahl der Leser die kürzlich verordnete Antiqua schick und „auf der Höhe der Zeit“, sachlicher, einfacher und schließlich „eben üblich“ und somit „richtig“ gefunden und sich an sie gewöhnt hatte. [Eine Parallele zur heutigen Heysesche s-Laut-Schreibung!] Nichts gegen die Antiqua! Ich meine halt die winzige Testerfahrung. Ich nenne sie winzig, weil ich sie mit der großen sanften Aberziehung der Leselust überhaupt vergleiche, die heute bevorstehen könnte: Das Alte wird archaisch werden und das Neue fad, weil sich eben das Lesetempo reduziert.
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt) hat dreimal recht, wenn sie an die Kultusminister schreibt: „ ... Eine verläßliche Untersuchung über die Leserichtigkeit und Leseleichtigkeit steht noch aus“ und wenn sie vor jedem schnellen Schritt warnt. Das „Verläßliche“ ist übrigens nicht so leicht zu erreichen. Es wird viele Untersuchungen geben, und viele Ergebnisse werden uns verwirrend bedrängen. Augen- und Ohrenmenschen erleben ja so verschieden, natürlich auch hier – um nur zwei Gruppen zu nennen. Um zwei faszinierende Nebengruppen anzufügen: Die Legastheniker, die immer zahlreicher werden – würden sie so furchtbar getroffen werden, wie man sagte? Wie gut, daß ausgesprochene Musikernaturen zwar auch „getroffen“ werden könnten, aber in einem Punkte „modern“ ohnedem sind: verständnisvoll nämlich für Georges (und anderer Lyriker) Kleindruck, weil sie ihn, mit Recht, als etwas der Melodielinie Dienliches verstehen. Kleine Nebenprobleme, wie gesagt; denn solche Lyriklektüre ist zehntausendmal seltener als Zeitungslektüre. Am Ende aller Untersuchungen – zum Herbst 1974 sollen die Grundschulen die Kleinschreibung haben, so forderte mit verdächtiger Eile der genannte Kongreß – steht die wichtigste aller Fragen: Wie würde sich die Kleinschreibung in der Hand unserer Lehrer gestalten? Da kann man glücklicherweise (für Hessen, wo ich lebe) schon heute manches sagen: Wir kennen die verständliche Neigung der Lehrer zu der Unterrichtserleichterung, die die Kleinschreibung bedeutet (das Schnellesen spielt ja an der Schule eine unvergleichlich geringere Rolle); wir kennen die weitgehende Radikalisierung vieler Lehrer. Man kann wohl voraussagen, daß all die vielen mehr oder minder progressistischen Lehrer Opas Zeiten schrecklich schön schildern werden, wo es ein aufstiegshemmender Makel war, die schikanöse Großschreibung und überhaupt „die Sprache der Herrschenden“, das heißt Hochsprache, nicht perfekt zu beherrschen (Rahmenrichtlinien). Die unausgesprochene Verachtung für alle großgedruckten Bücher aus der Zeit der Unterdrückung wird das Kind leicht übernehmen, besonders, wenn man ihm recht klarmacht, wie „sinnlos schwer“ damals das Schreiben gewesen sei. [Man beachte wiederum die Parallelen zur heutigen Pseudoerleichterung durch die ss-Schreibung!] Wenn es die Kinder dann, spätestens in der Pubertät, zu durchschauen beginnen, wird es zu spät sein; die Leselust wird noch bei einem Teil der Jugendlichen geweckt werden können.
Mein Fazit ist dasselbe wie das der genannten Akademie: Experimente, deren Risiko nicht abzusehen ist, darf man nicht beginnen!
Die hinderliche Literatur
Rückblick und Schlußfolgerung: Hinderlich ist der „Leser“. Schon der Zeitungsleser. Hier wird vermutlich eine Strategie entwickelt: Wenn es gelänge – es ist eine praxisanregende Utopie –, jeden Text zu einem Augenpulver und jedes Lesen zu einem Rätsellösen, einem Lesepuzzle zu machen, dann würde jede Zeitung ungelesen den Händen entsinken. Und wenn die Lust, die identifikatorische Lust an der Hochsprache richtliniengetreu sänke, so stürzte die Leserei bald nach.
In der Bundesrepublik hat sich neuerdings gezeigt, daß die Presse minder leicht zu unterwandern war als das Fernsehen. [Seit 1999 stimmt das leider nicht mehr ...] Und das Jahr 1973 hat eine nie vorhergesehene Entfremdung zwischen zahlreichen Zeitungsredakteuren und der Partei des Kanzlers gebracht (dazu etwa Bucerius in der „Zeit“ vom 14. Dezember). Eine breite pädagogische Front sucht nun den „Leser“, der so hindurch werden wird, zu schwächen. Nicht so den Fernseher. Auf verschiedenen Wegen. Ein Weg ist die Kleinschreibung.
Hinderlich ist die Literatur. Das ist das zweite strategische Feld. Ich bitte zu glauben, daß Golo Mann recht hat, wenn er sagt: „Die Literatur, versichert man uns, erhalte in den Rahmenrichtlinien nur einen neuen Stellenwert. Den erhält sie: im Mülleimer“ (SZ, 2. Juni 1973). Von den Planern wird klar gesehen, wie gefährlich heute Literatur für jedwedes eingleisig Sozialistische auf dem ganzen Erdboden wird. Die „Gefährlichkeit“ liegt in der vielleicht entsolidarisierenden, individuierenden, erotisierenden und gewissenerweckenden Wirkung auf den Leser; fast hätte ich gesagt: noch ganz abgesehen vom Inhalt – der übrigens auch so selten mit dem offiziellen Denken und seiner Amtsstuben- oder Kasernenluft in Einklang steht. Literatur ist eben entweder gute oder offizielle. „Die Dichter versuchen es, dem Menschen andere Augen einzusetzen ... Darum sind sie eigentlich staatsgefährliche Elemente, denn sie wollen ändern ...“ So Kafka zu Janouch (Taschenbuchausgabe S. 98). Ein klassisches Wort, man mag über Janouchs Zuverlässigkeit urteilen, wie man will.
Vielleicht gelingt einmal die ganz zeitgemäße, die perfekte, geruchlose Bücherverbrennung, die niemand merkt, weil es nicht einmal eine Zensur gegeben hat. Die Bücher bleiben. Der Inhalt ist herausgezaubert. Alle Literatur erlischt dem, dessen geistiges Leseorgan ertaubt.
Lesen verlangt Konzentration, Stille, fast Einsamkeit. In Hessen entstehen Schulhäuser mit einem „Großraum“, in dem soundso viele Klassen, nur durch Stellwände (schalldurchlässig) getrennt, sich befinden, ein großer Fortschritt, wie wir im Fernsehen erfahren. Der Bremer Universitätsrektor weist (rechtsverbindlich) Professoren aus ihren Dienstzimmern in einen paritätischen Großraum mit 760 Plätzen, der ein paar Binnenwände hat, die aber für Licht und Laut keine Schranke aufrichten, die der Transparenz widerspräche.
In den hellen Räumen solch milder Wohlfahrts- und „Erziehungsdemokratur“ (wie der spottlustige Wiener das ihm zugedachte Schwedische Modell manchmal nennt) gedeihen Mächte, die uns der erwähnten Ertaubung und Entpersönlichung näherführen können.
Auch wer die Kleinschreibung für gefahrlos hält sollte bedenken, daß sie von solchen Mächten gefährlich in Dienst genommen werden kann. Die historische Stunde ist aber anders als damals, als die Wiesbadener Empfehlungen das Licht der Welt der fünfziger Jahre erblickten, jene Empfehlungen, deren Verwirklichung heute zu etwas ganz anderem führen würde, als damals denkbar war.
-ENDE-
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Karin Pfeiffer-Stolz
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