Re: Bindebögen
Zitat: Ursprünglich eingetragen von Sigmar Salzburg
Sollte man nicht zwei oder drei verschiedene Bindebögen verwenden (fett, dünn, gestrichelt o.ä.), um die unterschiedliche Tendenz zur Zusammenschreibung anzudeuten? Sonst bringen die Bögen den Neuschreiblern doch nur eine Bestätigung ihrer Vorurteile. Die Chemie kennt auch unterschiedliche Affinitäten.
Die Idee ist theoretisch sachgemäß, aber praktisch undurchführbar und wäre im Ergebnis enorm kompliziert. Sachgemäß, weil es tatsächlich unterschiedliche Grade der Zusammmengehörigkeit in Zusammensetzungen oder Zusammenschreibungen gibt. Aber: Zunächst einmal ist die Verschriftung ein Kompromiß aus Differenzierung (verschiedene Buchstaben für verschiedene Laute usw.) und Vereinheitlichung (derselbe Buchstabe für verschiedene, aber fast identische Laute usw.). Man könnte für viele Buchstaben fünf oder zehn Varianten einführen, je nachdem, wie dunkel oder hell zum Beispiel ein a-Laut klingen soll, wie vokalisch oder konsonantisch ein r-Laut klingen soll, wie stimmhaft oder stimmlos ein s klingen soll. Man könnte ein halbes Fragezeichen einführen für den Fall, daß der Fragecharakter nicht ganz eindeutig ist, weiter natürlich ein Zweidrittel-Fragezeichen und ein Zehntelfragezeichen ... Frei skalierbare Großschreibung wäre auch nicht schlecht, denn bei der Frage, ob groß oder klein, gibt es auch mehrere Kriterien sowie ein jeweils sehr individuelles Zusammenwirken mehrerer Kriterien. Ein entsprechender Vorschlag wäre, die Großbuchstaben abzuschaffen und stattdessen die Möglichkeit einzuräumen, in Viertel- oder Zehntelschritten den Anfangsbuchstaben mehr oder weniger groß zu Papier zu bringen. Also: leider viel zu kompliziert.
Tatsächlich arbeitet die Verschriftung ständig mit Auf- und Abrundungen, eine absolute Entsprechung zwischen Laut und Buchstabe usw. ist unzweckmäßig. Nun kann man sich gerade bei der Getrennt- und Zusammenschreibung recht häufig kaum entscheiden, ob eher das eine oder andere angezeigt ist. Sollen wir gerade hier eine Skalierung der groben Getrennt/Zusammen-Logik einführen? Selbst wenn das beim einzelnen Schreibvorgang manchmal ein Vorteil wäre, ist es wiederum nicht (oder kaum) möglich, das bei Einträgen im Wörterbuch vorzunehmen. Denn wie schon bei der groben Getrennt/Zusammen-Differenzierung ist dies mit der Frage der Kriterien bei der GZS äußerst komplex verbunden. Wer will noch erkennen oder bestimmen, welche Bedingungen, welche Grammatik, welche Kontexte, welche Flexionsverhältnisse oder lesetechnische Umstände (vgl. zum Beispiel dasein, aber *daist) nun zu einer Zuteilung von 30 oder 40 Prozent Zusammengehörigkeit führen sollen? Geschweige denn das Problem, diese Bedingungen im Wörterbuch aufzuführen bzw. auf Nutzerseite anzuwenden und zu verinnerlichen.
In der Praxis zweckmäßig, wenn auch in vielen Einzelfällen nicht ganz befriedigend ist deshalb die Zuteilung: entweder getrennt oder zusammen. Die Lösung muß anders aussehen: Verzicht auf zu genaue Regeln, Verzicht auf Regelung bis in jeden Einzelfall hinein. Wohl aber sind solche Angaben im Wörterverzeichnis möglich, die klar zu erkennende, statistisch gesicherte Tendenzen beschreiben, zum Beispiel: meist zusammen oder in der Bedeutung [...] getrennt.
Genau wie in der Chemie: Bei der Kommunikation über bestimmte Atome bzw. Verbindungen, die sämtlich mit haargenauen Affinitätsgraden oder Zuständen ausgestattet sind, wird man auf diese Angaben in aller Regel verzichten. Man gibt statt dessen die Grobstruktur an oder einfach die Summenformel, also etwa 0=C=0 oder C02 so viel, wie zur Unterscheidung bzw. zur Erkennung des Gemeinten ausreichend ist.
Der Bogen bei der GZS bedeutet zunächst einmal nur: Es gibt bei dieser Struktur sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung; weitere Angaben, falls brauchbar, folgen in der Erläuterung. Es ist ein zweckmäßiger Kompromiß, mit dem man sich endloses und letztlich fruchtloses Differenzieren erspart und den Wörterbuchbenutzer vor Verzweiflungszuständen rettet.
Man kann aber auch ein Wörterbuch nach folgendem Prinzip aufziehen: Getrennt kann man sowieso alles mögliche nebeneinanderschreiben; was zusammengewachsen ist oder zusammengehörig auftreten kann, führt man als eigenes Wort im Wörterbuch auf. In diese Richtung ging der frühere Duden, der deshalb viel zuviel Zusammenschreibung enthielt, wenn man ihn falsch las (Aha, das MUSS also zusammengeschrieben werden). Ich habe angeregt, statt des bisher sperrigen Bogens im Ickler den feineren, engeren, tieferen und flacheren Bogen des Duden einzusetzen (im Duden hatte er eine andere Funktion). Das würde einem Kompromiß aus beiden Darstellungs- bzw. Rezeptionstechniken entsprechen. Wer liest Aha, da gibt es also getrennt oder zusammen, hat recht. Und wer liest Aha, das gibt es also als Wort (so liest bzw. überliest man den Duden-Bogen), hat ebenfalls recht. Und das intuitive (anfängliche) Sträuben gegen die scheinbare Beliebigkeit das auf dem verbreiteten Mißverständnis beruht, alles in der Sprache sei eindeutig zuzuordnen, eindeutig anzugeben oder ersatzweise eindeutig zu regeln wäre ein gutes Stück besänftigt.
|