Der Großschreibreformer Gallmann
Interview zur Rechtschreibung: [Auszug]
Beim Gendern geht es auch um Selbstdarstellung
Von Uwe Ebbinghaus
Mehr als 20 Jahre nach der Rechtschreibreform – Sie waren einer der Reformer – wird plötzlich an vielen Stellen der Eindruck vermittelt, die Rechtschreibung lasse immer mehr nach. Ist das auch ihr Eindruck?
Peter Gallmann: Ich glaube, das Problem besteht darin, dass wir im Alltag heute mit immer mehr geschriebener Sprache konfrontiert werden, zugleich werden die Leute durch vielerlei Tätigkeiten immer mehr abgelenkt, sodass die Gefahr, einen Text nicht bis zum Ende optimieren zu können, groß ist. Was das mit der Rechtschreibreform zu tun hat, ist mir aber nicht ganz klar. Ich glaube, da besteht kein Zusammenhang.
[Kommentar: Glaube macht selig. Bis 1996 war die sinnvoll differenzierte Groß- und Kleinschreibung allgemein anerkannt und konnte von Lernenden und Lesenden fast mit der Muttermilch aufgenommen werden. Heute hat z.B. die von Gallmann gegen die Radikalkleinschreiber durchgesetzte hypertrophe Großschreibung eine chaotische Hervorhebung des Unwichtigen bewirkt, so daß sinnvolle Regeln kaum noch erkennbar werden.]
Es gibt in der öffentlichen Debatte auch eine große Emotionalität, wenn es um das Pochen auf die Einhaltung von Rechtschreibregeln geht – sicher auch von vielen, die früher selbst Schwierigkeiten hatten.
Das ist ja in gewisser Weise auch richtig so. Aber das ist kein Spezifikum des deutschen Sprachraums. Schauen Sie mal in den angelsächsischen Sprachraum, wie sich dort über Rechtschreibfragen – wie its vs. it’s, to vs. too – ereifert wird, und dort hat sich die Rechtschreibung seit hundert Jahren nicht verändert. Dasselbe in Frankreich, wo man außer an einigen völlig tertiären Accents ebenfalls an der Rechtschreibung nichts geändert hat. Wie man sich dort echauffieren kann! Diese Fragen kommen also auf, unabhängig davon, ob man an der Rechtschreibung herumschraubt oder nicht.
[Nur die doofen Deutschen mit ihrer viel logischeren Orthographie mußten sich daran von Reformbesessenen „herumschrauben“ lassen!]
Was steckt dahinter?
Das ist eine psycholinguistische Frage, da kann ich nur Vermutungen anstellen. Der Zusammenhang von „Zu früh vermittelt, mental nicht richtig verarbeitet, nur eingedrillt“ erinnert mich manchmal an gewisse Varianten des Religionsunterrichts, in dem ewige Wahrheiten eingehämmert, aber nicht mental verarbeitet werden. Manche Menschen lösen sich auch als Erwachsene nicht davon. Sie haben immer noch das Gefühl, dass jemand von oben böse zuguckt, wenn man an einem Freitag Fleisch isst.
Bei der Diskussion um die Rechtschreibreform ging es viel auch um die Ablehnung einer befürchteten traditionsvergessenen Bevormundung. Thron ohne „H“ etwa wäre für viele ein Graus.
Ja, dieses Phänomen kannten wir aber vorher. Uns war klar, dass in Deutschland „Kaiser“, „Thron“ oder auch „Hoheit“, das auch keiner logischen Schreibung entspricht, nicht reformiert werden dürfen. Es gibt Hochwertwörter in unseren Sprachen, etwa im Bildungswortschatz wie „Philosophie“. Es gibt Tabubereiche.
Welche Tabubereiche gibt es noch im Deutschen?
Italienische Fremdwörter mit anlautendem „Gh“ sind interessant, wie „Ghetto“ oder „Ghirlande“, die im Deutschen heute nur mit einfachem „G“ geschrieben werden. Es gibt aber auch Wörter, bei denen diese Vereinfachung nicht klappen will. Diese Wörter gehören bestimmten Nischen an, unter anderem dem Bereich der Lebensmittel. Spaghetti nur mit „g“ hat zum Beispiel keine Chance. Dazu gibt es eine interessante Korpusuntersuchung, die ein kurioses Phänomen zeigt. Denn es gibt nicht nur Spaghetti zum Essen, sondern auch die „Spaghetti-Träger“. Jetzt raten Sie mal: Wie ist die Rechtschreibung hier?
Ohne „H“?
Ja genau, und zwar gar nicht so selten. Plötzlich geht die Schreibung in Ordnung, offenbar, weil man diese Spaghetti nicht isst. Aus irgendeinem Grund will jeder beweisen, dass er sich mit fremden Lebensmitteln auskennt, und wenn er sich auskennt, weiß er selbstverständlich auch, wie man sie schreibt. Das kann man den Leuten nicht nehmen, eine Änderung hätte keine Chance.
Was heißt „keine Chance“? Wie kommt man zu dieser Einschätzung?
Zuerst muss man entsprechende Korpora, Textsammlungen, untersuchen, ob man in ihnen schon spontane Andersschreibungen findet. Dann muss man auch ein bisschen rumfragen. Die Rechtschreibkommission arbeitet eng mit dem Institut für Deutsche Sprache in Mannheim zusammen, das über eine der größten Sammlungen von Textkorpora weltweit verfügt. Da kann man in strittigen grammatischen, orthographischen, syntaktischen Fragen umfangreiche Korpusuntersuchungen anstellen. So findet man heraus, was gerade der Fall ist. Man darf aber nicht nur auf zum Beispiel Pressetexte schauen, denn hinter denen stehen berufene Redakteure und ein Korrektorat, die Texte so optimieren, wie sie schon immer waren. Man muss also auch Texte untersuchen, bei denen die Leute etwas mehr als üblich frisch von der Leber weg geschrieben haben. Das heißt aber noch lange nicht, dass man deren Schreibung gleich übernimmt. Man weiß erst einmal nur, was der Fall ist.
[Jetzt kommt’s raus: Die „Reformer“ haben da gesucht und geändert, wo sie eine „Chance“ gesehen haben, den Fuß in die Tür zu kriegen oder das Einbruchswerkzeug am Fenster anzusetzen – von der singulären Bequemlichkeitsschreibung „Fotograf“ anstelle von „Photograph“ gewaltsam zu „Geograf“, „Pornograf“ und (nicht ganz durchgesetzt) „Foton“. Letzteres hinkt, weil Englisch inzwischen die Wissenschaftssprache ist und man dort das „ph“ liebt; „fat“ wird sogar zum gleichklingenden „phat“ im Jugendjargon. Die Dass-Schreibung dagegen ist ohne „Korpusuntersuchungen“ diktatorisch festgelegt worden, wie Stefan Stirnemann mit seinem Einbrecherbild treffend beschrieben hat.]
Wie geht es mit dem Gender-Stern weiter, über dessen Verwendung der Rat für Rechtschreibung kürzlich zum ersten Mal gesprochen hat?
Zunächst ist zu klären, wofür der Rat überhaupt zuständig ist: nur für die Rechtschreibung. Ob überhaupt „gegendert“ werden soll und gegebenenfalls nach welchen Kriterien, ist eine grammatische und zugleich eine gesellschaftspolitische Frage, aber noch keine der Rechtschreibung. Entsprechend sollte sich der Rat bei diesen grundsätzlichen Fragen auch nicht einmischen. Wenn hingegen eine Entscheidung zugunsten einer bestimmten Formulierungsweise gefallen ist, dann kann der Rat bei der orthographischen Umsetzung mithelfen. Zu solchen Entscheidungen ist es aber bisher noch nicht gekommen.
Welche Kriterien werden hier angelegt? So ist es ja ein großer Unterschied, ob man auf einen Gender-Stern in einem behördlichen Schreiben oder in einem Zeitungsartikel stößt, für den der Lesefluss von besonderer Bedeutung ist.
Ich vermute, dass sich strikte Versionen des „Genderns“ nur in ganz bestimmten Bereichen verbreiten werden. [...] Dabei geht es nicht nur um sachliche Eindeutigkeit, sondern auch um die Selbstdarstellung der Schreibenden und ihren Bezug zu den Lesenden.
[...]
Peter Gallmann
war Mitglied der inzwischen aufgelösten Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung. Heute ist er für die Schweiz Mitglied im Nachfolgegremium Rat für deutsche Rechtschreibung . Er war zuletzt Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Sprache der Gegenwart (Grammatik) an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, seit einigen Monaten ist er dort Seniorprofessor.
faz.net 15.6.2018
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