Re: allein erziehend
Zitat: Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Bei Google findet man ungefähr 100.000 Belege für alleinerziehend. Darunter befinden sich natürlich auch die Substantivierungen, für die nach übereinstimmender Interpretation der reformierten Wörterbücher auch Zusammenschreibung möglich sein soll, offenbar nach dem Vorbild " allein stehend, die allein Stehenden/Alleinstehenden" aus dem amtlichen Wörterverzeichnis. Jeder Grammatiker wird aber zugeben, und die Reformer Gallmann und Sitta haben es ausdrücklich klargestellt, daß ein grammatisch einwandfreier Übergang von allein stehend zu Alleinstehende nicht möglich ist. Substantiviert wird nur der zweite Teil, andernfalls ist zwingend auch alleinstehend anzusetzen.
Was haben Gallmann und Sitta dazu genau zu sagen? Dies findet sich im Strang "Orthographie, Literatur und Wirklichkeit" im Beitrag "Selbstverleugnung", den ich wegen des Themenbezuges (um die Fußnotenkennung 1 ergänzt) hierherkopiere: Im Duden-Taschenbuch Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung von Gallmann und Sitta, den einzigen Kommissionsmitgliedern, die nach dem Weggang Peter Eisenbergs noch etwas von Grammatik verstehen, heißt es:
Bei Adjektiv- und Partizipgruppen wird nur das Adjektiv selbst substantiviert, die Getrennt- und Zusammenschreibung entspricht also derjenigen beim attributiven Gebrauch (Stellung vor einem Substantativ). Es entsteht KEINE substantivische Zusammensetzung:1
etwas schwer Verdauliches (wie: ein schwer verdauliches Essen), jemand riesig Großes (wie: eine riesig große Person), das abhanden Gekommene (wie: die abhanden gekommen[e] Ware).
In [der] Fußnote liest man:
1 Dieser Fall wird in der Neuregelung nicht explizit aufgeführt; die Regelung ist jedoch aus der Wörterliste rekonstruierbar. Er entspricht übrigens auch der Tradition vor der Neuregelung.
(Ähnlich in ihrem Handbuch Rechtschreiben, Zürich 1996, S. 102)
Eine grammatische Trivialitä[t]; trotzdem hat die Kommission unter Schaeders Einfluß das Gegenteil beschlossen und in die Wörterbücher eingeführt. Es ist nicht bekannt, daß Gallmann und Sitta gegen diesen Unfug protestiert hätten, im Gegenteil: beide stehen bei Duden unter Vertrag und haben die Dudengrammatik sowie zahlreiche weitere Bücher (mit)verfaßt, in denen die grammatischen Tatsachen in der hier verurteilten Weise verbogen werden.
(Th. Ickler) Der Punkt scheint mir zu sein, daß es bei der grammatischen Tatsache, die in der hier verurteilten Weise verbogen wird, im Kern um die Ableitungsrichtung geht: Ausgehend vom Prinzip der Substantivierung kommt es bei der Wortbildung nur darauf an, wie die Adjektiv- bzw. Partizipgruppe geschrieben wird -- eine Art Rückbildung von einem Substantiv zu einem Adjektiv durch Weglassen der für eine Substantivierung charakteristischen Endung ist nicht möglich, wenn man damit etwas rückgängig macht, was vorher garnicht stattgefunden hat.
Nur wenn man auf dieses Prinzip achtet und es betont (Gallmann und Sitta: »[Dieser Fall] entspricht übrigens auch der Tradition vor der Neuregelung.«), wird klar, worin das Problem besteht: Es ist Quatsch, willkürlich eine Substantivierung einzuführen, ohne daß es die zugehörige Ausgangsform gibt (wie bei die Alleinstehenden -- solange es alleinstehend nicht gibt, kann es ersteres auch nicht geben). Um es etwas weniger fachsprachlich auszudrücken: Man sieht dem Wort Alleinstehenden ja direkt an, daß es von alleinstehend kommen muß -- das Wort aber soll es nach den reformierten Regeln nicht geben. Diese Inkonsistenz ist der Unfug, gegen den Gallmann und Sitta nicht wirklich protestiert haben -- richtig?
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Jan-Martin Wagner
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