Der wackere Guratzsch
Meinung 22.03.13
Gegenwartsdeutsch
Das Gefühl des Sprachverfalls trügt nicht
Das Institut für Deutsche Sprache befasste sich auf seiner Jahrestagung mit dem Sprachwandel. Die Wissenschaftler fasziniert Veränderung, für den Normalbürger jedoch bedeutet sie einen Verlust.
Von Dankwart Guratzsch
Gibt es einen Verfall der deutschen Sprache? Stirbt der Konjunktiv? Ist der Dativ dem Genitiv sein Tod? Macht das schludrige Denglisch dem reinen deutschen Idiom den Garaus? Ist die schauderhafte neue Rechtschreibung der Totengräber? Wo sind die Warner und Gesetzeshüter, die den Sprachverderbern das Mundwerk legen?
Jedenfalls nicht im Institut für deutsche Sprache in Mannheim, nicht in der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden und auch nicht in der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Der dreigeteilte Olymp der deutschen Sprachwissenschaft im Rhein-Neckardreieck ist ein Hochsitz ohne Götter, Mauern, Schwerter und Kanonen. Hier wird nur angesessen und Buch geführt. Und jedes Rascheln im Gesträuch klingt den Lauernden wie Musik in den Ohren.
Was bei solcher Pirsch herauskommt, das hat der mit großer Spannung erwartete, vor drei Wochen publizierte Bericht zur Lage der deutschen Sprache erwiesen. Das Dickicht des Gegenwartsdeutschs, so befanden die Autoren, strotzt nur so von Leben. Der deutsche Wortschatz sei heute reicher als zu Goethes Zeiten, die Grammatik werde immer einfacher, die Anglizismen ließen sich verschmerzen und selbst die hässlichen Streckverbgefüge könnten auch manchmal sogar als sinnvoll erweisen. Mit anderen Worten: Die Jagd auf Symptome von Sprachverfall kann abgeblasen werden.
Sprachwandel bedingt auch Verlust
Als jetzt das Institut für Deutsche Sprache (IDS) auch noch seine Jahrestagung in Mannheim dem Thema widmete, wurde das Halali geblasen. Es liegt im Wesen der Sprache, dass sie sich verändert, dass ihre Entwicklung in keinem Augenblick stille steht, hatte schon 1900 der große Sprachwissenschaftler Otto Behaghel gelehrt, und zu diesem Evangelium bekannten sich seine Kollegen auch in Mannheim. Denn Stillstand bedeute Tod. Zwar fiel der Verweis auf das vermeintlich tote Latein ein bisschen oberflächlich aus. Denn das lateinische Wörterbuch wird im Vatikan auch heute noch täglich um neue Wortschöpfungen ergänzt. Das Resümee der Linguistentagung berührte das jedoch nicht.
Nur wer ganz genau hinhörte, konnte wahrnehmen, dass auch auf diesem Forum von etwas ganz anderem als in der deutschen Öffentlichkeit die Rede war. Für den Sprachwissenschaftler ist ja das Faszinosum an seinem Orchideenfach gerade der Wandel, ein Richtig oder Falsch, ein Gut oder Böse, ein Schön oder Unschön gibt es für ihn nicht. Für den Normalbürger aber geht es um Fülle, Farbigkeit, Feinheit im Ausdruck. Sein Leiden am Sprachwandel ist ein Leiden am Verlust.
Werden Jugendliche in fünfzig Jahren überhaupt noch Goethe im Original lesen können? Oder sind ihnen bis dahin viele Vokabeln des Deutschen abhanden gekommen? Brauchen sie künftig Wörterbücher, um Kant, Lessing, Schiller, Kleist, Heine oder die Libretti der Wagneropern zu verstehen?
Geht ihnen – und der Sprachgemeinschaft insgesamt – der direkte Zugang zum Kosmos der großen literarischen und philosophischen Kulturleistungen in deutscher Sprache verloren?
Die Frage wurde in Mannheim nicht einmal gestellt. Dass sie eine Kernfrage des Deutschunterrichts an den Schulen ist, dessen Lehrer von denselben Linguisten ausgebildet werden, haben die Sprachwissenschaftler – um es mit einer jener neuen, bei den Fachvertretern so beliebten Wendungen zu sagen – nicht auf dem Schirm. Und das hat sehr gut nachvollziehbare Gründe.
Feinste Veränderungen in der Wortwahl
Allzu groß ist die Faszination der neuen digitalen Techniken, die ein Durchforsten der Sprache nach Erscheinungen des Wandels und der Veränderung erlauben, wie es so noch keiner Generation möglich war. Wenn zum Beispiel mit einem einzigen Tastendruck hundert Jahrgänge einer Zeitung auf eine (falsche) Wortbildung wie schwörte (für schwor) durchsucht werden können, lassen sich feinste Tendenzen des Sprachwandels und flüchtigste Schwankungen mundartlicher oder modediktierter Varietäten in Sekundenschnelle mit Beispielen belegen. Mit welchem Eifer sich die moderne Linguistik dieses neuen Werkzeugs bedient, dafür bot die Tagung mannigfache, durchaus faszinierende Belege.
Am verblüffendsten sicherlich, dass viele Erscheinungen des heute gefühlten Sprachverfalls seit Jahrhunderten beobachtet werden, ohne dass sie sich durchgesetzt hätten. Berühmt berüchtigt ist der Dativ auf wegen. Sein vermeintlicher Vormarsch, so Ludwig M. Eichinger, Direktor des IDS, ist offenbar nicht nur ins Stocken geraten, sondern bewegt sich womöglich rückwärts – zumindest im Schriftlichen. Hier standen bei einer Untersuchung 25.669 Belegen für wegen des nur 2266 für wegen dem gegenüber.
Eichinger vermutet: Wegen dem wird umgangssprachlich gebraucht, doch der Sprecher weiß sehr wohl, dass es grammatisch falsch ist. Mit anderen Worten, allem Kokettieren mit Modernität zum Trotz verwendet er die falsche Form mit schlechtem Gewissen.
Beispiele dieser Art lieferte der Kongress die Fülle. So kommt es Marc Kupietz (IDS) so vor, als kündige sich sogar schon für Anglizismen ein Abwärtstrend an. Die hätten sich im Deutschen zwar seit 1995 verdoppelt, den Scheitelpunkt jedoch, zumindest in Österreich, anscheinend schon erreicht. Überhaupt misst der Forscher nicht dem Zeitfaktor, sondern dem jeweiligen Medium und der Region die größere Bedeutung bei der Ausbildung von Sprachvarianten bei.
So verzeichnet der Sportteil der Zeitungen den mit Abstand höchsten Anteil an Anglizismen (möglicherweise unter Beteiligung der Allerweltsvokabel Team), während Parlamentsprotokolle (!) davon weitgehend frei sind.
Statt Dialekten gibt es nun Regiolekte
Reihenweise räumte auch der Engländer Martin Durrell (Manchester) mit Vorurteilen über die deutsche Sprache auf. Er hatte schon im 18. Jahrhundert einen Beleg für den – später verpönten – Konjunktiv mit würde gefunden: Ich glaubte, daß ich genug Zeit haben würde, die Hämorrhoiden zu stopfen. Erst in den 1830er Jahren hätten so prominente Sprachwissenschaftler wie Johann Christoph Adelung und Karl Wilhelm Ludwig Heyse dann den Würde-Konjunktiv aus dem Nichts heraus auf den Index gesetzt – mit geringer Wirkung selbst auf einen Sprachmeister wie Thomas Mann.
Und wie zum Beispiel steht um die Dialekte? Seit 250 Jahren, so Jürgen Erich Schmidt (Marburg), sagen Sprachkritiker ihr Absterben und damit die Einebnung regionaler Sprachvarianten voraus. Doch bei der Untersuchung des Sprachgebrauchs in 150 Orten bei drei unterschiedlichen Altersgruppen sei etwas ganz anderes herausgekommen.
Die alten Grenzen und Barrieren der Dialekte erwiesen sich auch aktuell noch höchst aktiv. Zwar seien die einstigen externen Faktoren für diese Grenzziehungen wie Religion oder staatliche Zugehörigkeit weggefallen, aber wo die Dialektkompetenz schwinde, übernähmen übergreifende Regiolekte ihre Rolle. Schmidts Folgerung klingt höchst überraschend: Die alten Grenzen wirken weiter, durch die Anlagerung neuer Gegensätze vertiefen sie sich sogar. Und schnelles Umlernen auf einen anderen Regiolekt sei schlechterdings unmöglich: Wenn ich versuchen wollte, wie Winfried Kretschmann zu sprechen, fehlten mir zehn Jahre Ausbildung.
Vokabeln der deutschen Hochsprache schwinden
Eine Erklärung für diese auffällige Beharrungstendenz von Spracheigentümlichkeiten im Deutschen will Renata Szczepaniak (Hamburg) am Beispiel der Karriere des Genitivs als Präpositionalkasus gefunden haben. Danach fungieren ambitionierte grammatische, dialektale und lexikale Formen im Deutschen vielfach als soziolinguistische Marker. Zum Beispiel werde der Genitiv in Verbindung mit Dativpräpositionen wie entgegen, entsprechend, gemäß" heute von Aufsteigern geradezu als Prestigekasus gebraucht. Ganz entgegen landläufigen Meinungen könne hier konstatiert werden: Der Genitiv ist dem Dativ sein Tod – und nicht etwa umgekehrt.
Was aus alldem rückgeschlossen werden kann, ist vor allem für die (im Mannheimer Plenum reichlich vertretenen) Sprachrevolutionäre von 1968 fatal. Ihr Kampf für Einebnung der Sprache, gegen den elaborierten Code ist genauso gescheitert wie die von ihnen angezettelte Rechtschreibreform. Was einer ganzen Generation dadurch verbaut wurde, das ist die Teilhabe an eben jenem Bildungskanon, den die Reformer mit vermeintlichen Spracherleichterungen allgemein zugänglich machen wollten.
Der Verlust an Vokabular der deutschen Hochsprache, der in Mannheim niemanden interessierte und der das alarmierendste Symptom für Sprach- (und Kultur-)verfall ist, hilft die Distanz zu diesem Bildungskanon nicht etwa überbrücken, sondern vergrößert sie noch.
Und er steht nicht zuletzt auch der Integration von Migranten in die deutsche Kulturgemeinschaft wie eine Barrikade im Wege. Unvermindert scheint dagegen zu gelten, was es nach jenen Irrlehren gar nicht mehr geben sollte: Sprachkultur dient und wird eingesetzt als Ausweis kultureller Identität.
Und deshalb kann Entwarnung in Sachen Sprachverfall, wie sie der Bericht nahelegt, keineswegs gegeben werden. Das Halali der Linguisten ist verfrüht.
welt.de 22.3.2013 (Hervorhebungen hinzugefügt)
Zu dem angeführten „Bericht“ siehe hier und da.
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