Re: Störangriffe gegen die Wortbildung
Lieber Herr Lindenthal,
vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, diese Beispiele für mich herauszusuchen. Wenn ich Sie richtig verstehe, wenden Sie legitimerweise (denn es wurde ja über zig Jahre so gelehrt) die Regeln aus dem 'alten' Duden von 1991 an, die zum Entscheidungskriterium dafür, ob etwas ein Wort ist oder eine Wortgruppe, das Vorhandensein einer eigenen bzw. übertragenen Bedeutung machen.
Ihr Argument lautet jetzt: Wenn etwas eine eigene Bedeutung hat, ist es ein eigenes Wort.
Obwohl diese Regelung sehr einfach & auf alle im Duden & die meisten von Ihnen angeführten Beispiele erfolgreich anwendbar ist, habe ich durchaus meine Probleme mit ihr.
Zunächst muss ich aber zugeben, dass mir diese Regel vor dem Bekanntwerden der sogenannten Rechtschreibreform nicht bekannt war (wie war es denn bei Ihnen?), & dass ich Wörter meistens so schrieb, wie ich sie kannte, bzw. im Zweifelsfall im Wörterverzeichnis nachschlug.
Seitdem ich die Regeln einigermaßen kenne, erscheint mir keine von beiden praktikabel, obgleich mir die bisherige sympathischer ist, eben weil sie aufgrund des semantischen Kriteriums keine Wörter vernichtet.
Michael Schneider zählt auf seiner Ihnen sicher bekannten Webseite ( http://schneid9.de/pdf/gzsalt.pdf ) einige Beispiele zusammen, die zumindest das Gefühl aufkommen lassen, dass irgendetwas neu geregelt werden muss.
Die Frage 'Neue Bedeutung oder nicht?' führt nicht immer zur richtigen (Duden-) Schreibung, wie die Beispiele 'kleinschneiden', 'geradebiegen', 'ernst nehmen' vs. 'übelnehmen', 'heiß machen', '(sich) kurz fassen' u.a. belegen.
Wendet man das Kriterium auf andere Bereiche als den der GZS an, kommt man gar zu ganz absurden Schlussfolgerungen: 'Das ist der Schlüssel zur Lösung dieses Problems!' Niemand würde auf die Idee kommen, 'Schlüssel' wegen übertragener Bedeutung anders zu schreiben.
Es stellt sich mithin für mich die Frage, ob das Kriterium 'Neue/übertragene Bedeutung' überhaupt ein praktisches Kriterium sein kann, wenn es weder alle Fälle der Getrenntschreibung noch alle Fälle der Zusammenschreibung erklären kann.
Auf der anderen Seite sehe ich wie Sie das Problem, dass man beim Lesen von nach der neuen Rechtschreibung verfassten Texten immerzu irritiert ist, weil man den auseinander geschriebenen Varianten stets eine andere Bedeutung zu entnehmen gewohnt ist als den zusammengeschriebenen ('auseinander schreiben' vs. 'zusammenschreiben' ist übrigens ein großartiges Beispiel gegen die neue Regelung).
Natürlich bedeutet 'tiefgreifend' etwas anderes als 'tief greifend'! Aber ebenso hat 'heiß machen' in 'die Suppe heiß machen' eine andere Bedeutung als in 'die Käufer heiß machen' & hat 'offenlassen' in 'das Fenster offenlassen' eine andere Bedeutung als in 'die Frage offenlassen', obwohl das nicht durch die Schreibung kenntlich gemacht wird.
Diese letzten Beispiele sollen nur zeigen, dass der normale Leser durchaus damit umzugehen weiß, wenn gleich geschriebene Ausdrücke unterschiedliche Bedeutungen haben. Es ist völlig klar, dass 'tief greifende Veränderungen' nicht wirklich _greifen_; auf diese Idee würde niemand kommen. Das ist es, was ich in einem meiner vorigen Beiträge mit Gewohnheit meinte.
Ich wollte hiermit nur zeigen, dass man eine zweifellos kritikwürdige (Neu-) Regelung nicht aus der Sicht einer ebenso kritikwürdigen alten Regelung kritisieren kann. Wenn man das macht, kommt man auf ein Feld, auf dem gar nichts mehr sicher oder klar ist.
Aus meiner Sicht spricht gegen die neue & für die alte Schreibweise bisher nur, dass sie zwar gleichermaßen inakzeptabel sind, die alte Schreibweise aber bisher praktiziert wurde.
Würde man übrigens eine Neuregelung einführen, die eher auf Zusammenschreibung als auf Getrenntschreibung zielt (eine beliebte Kritik an der Neuregelung ist ja, dass sie einem jahrhundertealten Trend entgegenwirkt), könnte man 'heißmachen', 'badengehen', 'gutstellen' & 'kurzfassen' schreiben, es wäre von da aber auch nicht weit zu Wortbildungen wie 'voneinanderfahren' (analog zum der bisherigen Regelung entsprechenden 'auseinandergehen'), 'hinundwiderlaufen', 'ausdemhausegehen' & 'berganfahren', wovor schon Adelung (1782) warnte.
Kennen Sie einen Ausweg aus diesem Dilemma?
Stefan Weise
P.S. Bevor Sie mich missverstehen: Ich will nicht der Neuregelung das Wort reden, insbesondere deshalb nicht, weil ich weiß, dass die Neuregelung in einigen Fällen tatsächlich zu Grammatikfehlern führt, wie Th. Ickler gezeigt hat.
– geändert durch Stefan Weise am 24.03.2004, 15.40 –
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