Antiquiertheit der Neuregelung
Hier ist, als Argumentationshilfe für verschiedene Gelegenheiten, ein kurzer Text, den ich heute morgen verfaßt habe:
Die Antiquiertheit der Reformorthographie
Die Urheber der Rechtschreibreform gelangten schon vor deren Inkrafttreten zu der Einsicht, daß Korrekturen an den neuen Regeln unumgänglich notwendig seien. Ihre Vorschläge scheiterten am Einspruch der verantwortlichen Politiker, die nach der vorfristigen Einführung an den meisten deutschen Schulen fürchteten, neue Unruhe und Ablehnung in der betroffenen Bevölkerung und wirtschaftliche Schäden bei den Schul- und Kinderbuchverlagen zu erzeugen. Bis die Übergangsfrist im Sommer 2005 abläuft, müßten jedoch die schlimmsten Irrtümer der Reform korrigiert werden; das wird auch in den Berichten der Zwischenstaatlichen Kommission angekündigt. Im Laufe der Jahre sind auch von Außenstehenden eigene Revisionsvorschläge unterbreitet worden, vor allem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, deren Kompromißvorschlag allerdings mehr Probleme aufwirft, als er löst. Eine überzeugende Neufassung der gesamten Reform ist bisher nicht in Sicht.
Es fragt sich, ob die Neuregelung überhaupt repariert werden kann. Zweifel werden wach, wenn man sich die Entstehungsgeschichte vergegenwärtigt. Die Neuregelung fordert in zentralen Bereichen das Gegenteil von dem, was ihre Urheber eigentlich für richtig hielten und weiterhin halten. Diese Selbstverleugnung ist ihnen durch die Kultusministerien aufgenötigt worden, und zwar geschah die entscheidende Wende wohl zwischen einer Anhörung im Jahre 1993 und den abschließenden Wiener Gesprächen 1994, also in verhältnismäßig großer Eile. Es ist schwer zu begreifen, daß die Reformer nach dem Scheitern ihrer Hauptforderungen (gemäßigte Kleinschreibung, Tilgung der Dehnungszeichen, Einheitsschreibung das auch für die Konjunktion, Fremdworteindeutschung) überhaupt weitermachten und sich mit einer gänzlich anderen Reform abfanden. Jedenfalls erklärt die verschlungene Entstehungsgeschichte, daß das Gesamtwerk nicht aus einem Guß sein konnte und mancherlei lustlos und hastig zusammengewürfelte Einzelheiten enthält.
Jedem, der zum erstenmal mit den neuen Regeln bekannt wird, fällt wohl eine gewisse Rückwärtsgewandtheit auf. Nachdem jahrzehntelang die Kleinschreibung der Substantive als gesellschaftspolitisch äußerst wichtige Reform gefordert worden war, soll nun überraschenderweise sogar eine vermehrte Großschreibung gelten: des Öfteren, Leid tun usw. Man erinnert sich, daß ein solcher Vorschlag schon vor langer Zeit von dem österreichischen Ingenieur und Hobby-Linguisten Eugen Wüster gemacht, von den heute noch tätigen Reformern jedoch als untauglich zurückgewiesen worden war.
Die vermehrte Großschreibung ist teilweise grammatisch falsch, wie bei Leid tun, wo die Reformer wohl aus Unkenntnis ein Adverb mit einem gleichlautenden Substantiv verwechselt haben. Im Falle von Recht haben übersahen sie die nachweisbare Desubstantivierung, vgl. wie recht du hattest usw. (hier wäre die Großschreibung ebenfalls grammatisch falsch). Noch eindeutiger archaisierend sind die Großschreibungen des Öfteren, im Allgemeinen usw. Sie waren im Laufe des 19. Jahrhunderts weithin üblich geworden, wahrscheinlich unter dem Einfluß der Volksschullehrer, die auch heute noch recht gern mit der mechanischen Artikelprobe arbeiten, um den substantivischen, zur Großschreibung führenden Charakter eines Wortes aufzudecken. Aber Wilmanns und andere Orthographen bezeichneten diese Tendenz schon damals als übertrieben und votierten für die textsemantisch sinnvollere Kleinschreibung in adverbialen Wendungen.
Für die wiedereingeführte Großschreibung der Tageszeiten (heute Abend) läßt sich nicht einmal die Artikelprobe anführen. Es waren die Reformer selbst, die nachgewiesen haben, daß syntaktisch an dieser Stelle überhaupt kein Substantiv stehen kann. (Die Wörterbuchverlage sind inzwischen sogar angewiesen worden, auch die Variante heute Früh noch in ihre Wörterverzeichnisse aufzunehmen, die von den Reformkritikern eigentlich nur als Reductio ad absurdum ins Spiel gebracht worden war.)
Ebenso überholt wirkt die vermehrte Getrenntschreibung. Hier verfügen wir sogar über den mehrmals ausdrücklich verkündeten Vorsatz der Reformer, einer Tendenz der Sprachgemeinschaft zur Zusammenschreibung entgegenzuwirken (Augst et al. (Hg.) 1997, S. 203. Internationaler Arbeitskreis für Orthographie 1992, S. 146). Diese Tendenz gibt es seit mehreren Jahrhunderten, und es fragt sich, ob die Reformer den Sinn einer solchen Entwicklung überhaupt erkannt hatten, als sie sich entschlossen, ihr entgegenzuwirken. Bei Verben unterscheidet man mit der Zusammenschreibung den Verbzusatz vom Adverbial: aneinanderhängen vs. aneinander hängen usw.; bei Partizipien erfordert die Grammatik in vielen Fällen zwingend die Zusammenschreibung der adjektivisch zu deutenden Komposita: sehr aufsehenerregend usw.; die verordnete Neuschreibung sehr Aufsehen erregend ist grammatisch falsch und wurde bereits unterderhand (neu: unter der Hand, auch dies ein Archaismus) wieder zurückgenommen.
Die Aufspaltung guter alter Wörter wie Handvoll und sogenannt ist gänzlich rückwärtsgewandt. Wie man im Grimmschen Wörterbuch nachlesen kann, sind Zusammenrückungen wie Handvoll, Mundvoll, Armvoll usw. seit Jahrhunderten in Gebrauch und in den Mundarten längst zu Hampfel, Hämpfele, Mumpfel, Arfel usw. verschmolzen.
Auffallendstes Kennzeichen der Neuregelung ist bekanntlich die ss-Schreibung (Kuss); in manchen Verlagen und Redaktionen beschränkt man sich darauf, diese Regel zu übernehmen, um zu zeigen, daß man die Rechtschreibreform nicht grundsätzlich ablehnt (wie die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung diagnostizierte). Es handelt sich um die Heysesche s-Schreibung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Österreich eingeführt war, bis sie 1901 der gesamtdeutschen Einigung auf die Adelungsche Schreibweise zum Opfer fiel. Der Verzicht fiel leicht, weil die Heysesche Schreibung, wie schon anläßlich der Ersten Orthographischen Konferenz 1876 berichtet wurde, in Österreich keineswegs beliebt war. Neuerdings hat sie sich nochmals als besonders fehlerträchtig erwiesen, und die Reformer wollten sie ursprünglich auch gar nicht wiederbeleben, sondern sich auf die Einheitsschreibung das (für das und daß) beschränken.
Daß in Zusammensetzungen drei gleiche Buchstaben aufeinanderfolgen können (Kammmolch), ist logischerweise vorauszusehen, aber schon Jacob Grimm rechnete es zum Pedantischen in der deutschen Sprache, einen Laut, der nur einmal gesprochen wird, in der Schrift dreimal zu bezeichnen, und die bayerische Schulorthographie hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits die durchgehende Vereinfachung zu zwei Buchstaben eingeführt, also auch in Sauerstofflasche. Später kam es zu dem bekannten Kompromiß, aber es war doch ein überraschender Rückgriff, als die Reformer die durchgehende Dreifachschreibung wiedereinführten. Besonders in Verbindung mit der Heyseschen s-Schreibung ergeben sich nun sehr viele lesepsychologisch und ästhetisch unbefriedigende, in anderen Sprachen gemiedene Schreibungen wie Schlusssatz usw.
Die Abtrennbarkeit einzelner Buchstaben (A-bend, O-bacht, Lesee-cke, Ruma-roma) ist seit dem Barock nicht mehr üblich gewesen; gegen ihre Wiedereinführung sprechen ästhetische und psychologische Gründe, und sogar die Reformer selbst raten von der Anwendung dieser Möglichkeit ab. Sie ist nur deshalb wiedereingeführt worden, damit entsprechende Trennungen in Schüleraufsätzen keine Fehler mehr sind. Schüler wären gleichwohl auf das Ungeschickte solcher Schreibweisen aufmerksam zu machen. Ihre Neubelebung scheint unnötig.
Diese Beispiele zeigen, daß die Neuregelung bereits in ihrer grundsätzlichen Orientierung weder den Erfordernissen einer modernen Orthographie genügt noch die tatsächliche Entwicklung der geschriebenen Sprache hinreichend berücksichtigt. Eine Revision wäre deshalb schwerer durchzuführen als das schlichte Weitergeltenlassen der bisherigen, in Jahrhunderten entstandenen und, wenn man von einigen leicht behebbaren Duden-Haarspaltereien absieht, bewährten leserfreundlichen Orthographie.
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Th. Ickler
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