Dritter Bericht (Kommentar)
Dritter Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung (Vorläufige Fassung vom 30. 10. 2001)
An dieser Stelle werde ich nun nach und nach den dritten Bericht der Rechtschreibkommission kommentieren. Wahrscheinlich wird unter den Dokumenten bald der gesamte Text (in der endgültigen Fassung, die zur Zeit den Auftraggebern vorliegt) dargeboten werden; er ist noch nicht eingescannt, und die vorläufige Fassung eignet sich dazu gar nicht.
Die unkorrigierte vorläufige Fassung des Berichts hat den Vorteil, daß man noch die Spuren der Bearbeitung erkennen kann. So hatte Augst gegen Ende der Zusammenfassung hineingeschrieben: Die Neuregelung ist weder ein 'menschenverachtendes Massenexperiment' noch gehört sie auf den 'Müllhaufen der Gechichte'. (Das erste ist ein Zitat aus einem Brief von mir, das zweite stammt von Peter Eisenberg.) Diesen Satz haben die Kollegen jedoch herausgestrichen. Gelassen hat man Augst das übliche Lamento über die Verunglimpfungen, denen die Reformer von seiten einiger Kritiker ausgesetzt waren:
Auffällig ist, dass manche Reformgegner, auch wenn ihr Beruf die Wissenschaft ist, äußerst emotional und teilweise in höchstem Maße verunglimpfend arbeiten. Besonders sticht hier die Auftragsarbeit des Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung hervor, in der schon im Titel ein Zusammenhang zwischen 'Rechtschreibreform und Nationalsozialismus' hergestellt wird.
Ich selbst bekomme ein eigenes Kapitel im Anhang: Stellungnahme zu den Vorwürfen Th. Icklers, die 22. Auflage des Duden würde vom amtlichen Regelwerk abweichen (30. August 2000)". Auf den Inhalt gehe ich später ein, hier sei nur schon einmal bemerkt, daß der Titel irreführend ist, denn ich mache dem Duden keinen Vorwurf, sondern stelle in meiner Rezension schlicht fest, daß die Neubearbeitung in vielen wichtigen Punkten von der früheren Auflage und vom amtlichen Regelwerk abweicht durchaus in Absprache mit der Kommission. Daß die als Empfehlungen getarnten Beschlüsse der Kommission seit der Mannheimer Anhörung 1998 es waren, die eine Neubearbeitung der Wörterbücher 1999 bzw. 2000 erforderlich machten, haben Duden und Bertelsmann seither mehr oder weniger klar bestätigt.
In der Zusammenfassung wird unter Hinweis auf mein Wörterbuch behauptet, ich sei als Kritiker der Neuregelung diskreditiert und zwar in den Augen der Herren Schoebe und Kürschner. (Beide sind in die Vermarktung der Reform verwickelt. Andere Wissenschaftler und Rezensenten außerhalb der Kommission werden nicht erwähnt.)
Aus der Einleitung erfährt man, daß die Kommission im Berichtszeitraum neunmal zu zwei- bis dreitägigen Sitzungen zusammengetreten ist, sechsmal in Mannheim und je einmal in Salzburg, Eupen und Berlin. Mitglieder der Kommission haben auch an Sitzungen des Beirats für deutsche Rechtschreibung teilgenommen, und zwar am 8. 2. 2001 in Mannheim und am 25./26. 9. 2001 in Berlin.
Die erste Hälfte des 138 Seiten starken Berichts enthält Darstellungen zur Umsetzung der Reform, die, wie man erfährt an den Schulen problemlos und insgesamt sehr gut und mit viel Zustimmung verlaufen sei.
Die zweite Hälfte diskutiert Einzelprobleme, die sich bei der Umsetzung oder in der öffentlichen Kritik herausgestellt haben.
Die Diskussion der Einzelpunkte endet jeweils mit einem Pro und Kontra, vorläufig ohne Entscheidung. Trotzdem zeichnet sich in vielen Fällen ab, mit welchen Änderungen mittel- und langfristig gerechnet werden muß.
Unter 1.2 wird der Fall Leid tun, Recht haben Not tun erörtert. Stillschweigend setzen die Verfasser wie auch an anderen Stellen eine Maxime voraus, die im amtlichen Regelwerk nicht ausgesprochen , aber trotzdem wirksam ist und aus einer früheren Diskussion stammt: Entweder klein und zusammen oder groß und getrennt! Demnach wird als Alternative zu Leid tun lediglich leidtun ins Auge gefaßt, nicht aber die bisher allein gebräuchliche Schreibweise leid tun. (Dies hat der Reformer Gallmann bereits vorgeschlagen, vgl. Zeitschrift f. Sprachwissenschaft 18, 1999. Ähnlich soll ja laut Neuregelung die bisher übliche Schreibweise von seiten verboten und durch zwei bisher weniger übliche Schreibweisen, vonseiten und von Seiten ersetzt werden.)
Die Diskussion über die Wortart ist verhältnismäßig breit, geht aber leider nicht auf das zwingende Hauptargument ein, das den Reformern seit mindestens sechs Jahren bekannt ist, also die Intensivierbarkeit: so Leid es mir tut und wie Recht du hast sind schlicht grammatisch falsch.
Bei Not tun behaupten sie, die Wortart von Not (besser not) sei unklar und der adjektivische Gebrauch wie in not sein, Schiffahrt ist not sei obsolet; aber sie erwägen immerhin, neben der Großschreibung auch nottun zuzulassenund in die geschlossene Liste § 34 (3) aufzunehmen. Jedoch: Die frühere Schreibung not tun (getrennt und klein) sollte nicht wiederbelebt werden. Warum nicht, wenn sie doch bisher üblich war? Die Anwort ist wieder in der genannten, niemals ausgesprochenen Superregel zu suchen.
Bei Pleite gehen und Bankrott gehen wird zunächst die Behauptung wiederholt, dies könne als Verkürzung einer Präpositionalphrase interpretiert werden: in die Pleite gehen > Pleite gehen (bzw. in den Bankrott gehen usw.). Das ist absurd. Es handelt sich jeweils um die Adjektive, und die Konstruktion ist genauso zu deuten wie bei kaputt, verloren und anderen Adjektiven, die sich im Gegensatz zu Substantiven mit gehen verbinden lassen. Auch auf dieses ihnen bekannte Argument gehen die Verfasser nicht ein. Sie schlagen weitere Variantenschreibung vor: pleitegehen oder Pleite gehen. Als Vorzug dieser Lösung wird in diesen und ähnlichen Fällen jeweils angegeben, sie verhindere, dass Wörterbücher plötzlich 'falsche' Einträge enthalten. Die Rücksichtnahme auf die bereits reformierten Wörterbücher wird also ganz offen in Anschlag gebracht, eine direkte Rücknahme des gequält zugegebenen Mißgriffs aus diesem Grunde für untunlich gehalten. Noch krasser kommt die Interessenverflechtung mit den Wörterbuchverlagen in der folgenden zynischen Bemerkung zum Ausdruck:
Die Sprachgemeinschaft hat sich nach anfänglichem Zögern an die Schreibung Leid tun mit substantivischer Interpretation von Leid gewöhnt. Eine neuerliche Änderung verunsichert unnötig und bringt die Wörterbuchverlage in Schwierigkeiten.
Die Problemerörterung wird naturgemäß eröffnet mit dem mißlungensten Teil der Neuregelung, der von Schaeder ausgearbeiteten Getrennt- und Zusammenschreibung.
Zunächst wird behauptet, der Komparativ gewinnbringender müsse laut Neuregelung ohnehin zusammengeschrieben werden, weil es keinen zugehörigen einfachen Komparativ bringender gebe. Der Hinwies auf den Komparativ (und Superlativ) stammt eigentlich von den Kritikern und wird seit einiger Zeit von den Reformern als eigene Einsicht beansprucht. Aus dem Regelwerk geht keineswegs hervor, daß erst das Nichtvorkommen der Steigerungsform die Getrenntschreibung ausschließen soll. Vielmehr handelte es sich bei § 36 (2) um solche Fälle wie großspurig, kleinmütig usw. Auch ist das Beispiel gewinnbringend denkbar ungeeignet, denn es bildet zusammen mit grauenerregend die erratischen Einzelfälle des amtlichen Wörterverzeichnisses, deren Herleitung aus den Regeln immer unklar war. Neuerdings weiten die Reformer diese Beispiel so aus, daß man annehmen soll, alle vergleichbaren Fälle würden selbstverständlich im Falle der Steigerung zusammengeschrieben. (Allerdings fehlt dann der Positiv, es ergibt sich die befremdliche Reihe Besorgnis erregend, sehr besorgniserregend, noch besorgniserregender ...; s. u. zu 1.1.2. Auf S. 110 wird in widersprüchlicher Weise behauptet, aus dem Regelwerk ließen sich zwei Formen des Positivs ableiten: Gewinn bringend und gewinnbringend, schwer wiegend und schwerwiegend; nach dem Kriterium des selbständigen Vorkommens ist das jedoch ausgeschlossen.) Daß die Reformurheber das gedacht haben, läßt sich nicht widerlegen, gesagt haben sie es jedenfalls nicht. Das geben sie auch zu:
Die genannten Möglichkeiten werden im Regelteil nirgends explizit vorgeführt. Es lässt sich höchstens aus ein paar Einträgen im Wörterverzeichnis rekonstruieren, dass beide logisch denkbaren Schreibungen tatsächlich zugelassen sind. Dies widerspricht aber der Grundintention der Neuregelung, außerhalb bestimmter Teile der Wortschreibung keine Regelung über das Wörterverzeichnis vorzunehmen.
(Die endgültige Fassung des Berichts hat hier noch einige abmildernde Änderungen vorgenommen.)
Unter 1.1.2 wird erstmals soweit ich weiß das Argument des prädikativen Gebrauchs berücksichtigt, also jenes unter meinen vier Arguemten gegen die neue Getrenntschreibung, das die Reformer noch bei der Mannheimer Anhörung überhaupt nicht beantwortet hatten. Erstmals sehen sie nun ein, daß Diese Investition ist Gewinn bringend kaum akzeptierbar ist. Folglich trete hier Univerbierung zum komplexen Adjektiv ein. Deshalb wird die Wiederzulassung von gewinnbringend auch im Positiv und nicht erst bei tatsächlicher Steigerung erwogen. Dies wird zweifellos kommen und erfaßt dann mehrere Dutzend ganz geläufige Wörter (zum Teil in den neuesten Wörterbüchern schon so geschrieben.)
Wenn es aber (wie der Text stellenweise nahelegt) seit je so gemeint war was bedeuten dann die Sternchen (für Neuschreibung) im amtlichen Wörterverzeichnis? (großen) Gewinn bringend, sehr gewinnbringend, noch gewinnbringender usw. das ist doch genau die bisherige Schreibweise! Auf diese Frage sind die Reformer bisher jede Antwort. Stattdessen verkleiden sie den sich abzeichnenden Umsturz mit folgenden wohlgesetzten Worten:
Im hier diskutierten Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung ist in Fällen wie Gewinn bringend oder gewinnbringend also eine Toleranz-Metaregel anzusetzen. Dieser komplizierte Sachverhalt muss im amtlichen Regelwerk so nicht explizit aufgezeigt werden, er sollte aber wenigsten indirekt in einer passenden Erläuterung ein Äquivalent haben.
Wie steht es aber mit der kritisierten Getrenntschreibung bei Fällen, die überhaupt nicht gesteigert werden können: allein stehend usw.?
Während die Komparierbarkeit zu Schreibvarianten wie gewinnbringend vs. Gewinn bringend und schwerwiegend vs. schwer wiegend führt, lässt sich für nichtkomparierbare Fügungen aus dem amtlichen Regelwerk nur eine einzige Schreibung ableiten, also beispielsweise nur allein stehend (und nicht auch alleinstehend). Aus grammatischer Sicht ist allerdings zu vermuten, dass auch in solchen Verbindungen eine Varianz zwischen zwei Arten von Lexikalisierung vorliegt, nämlich Lexikalisierung mit und ohne Univerbierung (im ersten Fall liegt ein einzelnes, morphologisch komplexes syntaktisches Wort vor, im zweiten Fall handelt es sich um eine lexikalisierte Phrase, um einen Phraseologismus aus mehreren syntaktisch selbstständigen Wörtern.)" (S. 65)
Die hier eingeführte ominöse grammatische Sicht ist etwas völlig Neues, dem amtlichen Regelwerk Fremdes. Neu ist, daß der Verfasser es ist offensichtlich Peter Gallmann die Sprachwirklichkeit gegen die Neuregelung in Stellung bringt. In der für ihn typischen Art (vgl. den ersten Bericht!) erzeugt er einen terminologischen Nebel, der die schlichte Tatsache verhüllt, daß es im Deutschen eben beide Schreibweisen gibt und daß sie in scharfem Gegensatz zum Regelwerk beide ihre Berechtigung haben. Damit ist aber das Tor geöffnet, durch das auch die Zusammenschreibung, d. h. die Zusammensetzung (alleinstehend) wieder hereinspazieren wird.
Zur Groß- und Kleinschreibung:
Im Protokoll zur gemeinsamen Sitzung mit dem Beirat vom September 2001 wird eine behutsame Weiterentwicklung in Richtung auf eine noch stärkere Systematisierung der Regeln ins Auge gefaßt. Ausnahmen erschweren die Erlernbarkeit der Rechtschreibung. Insofern die Sprachgemeinschaft die interiorisierten Regeln per Analogiebildung auf bestehende Ausnahmen ausweitet, istdas Regelwerk an den beobachtbaren Schreibgebrauch anzupassen. Entsprechende Tendenzen zeichnen sich z. . bei der Schreibung von Zahladjektiven wie *der Eine, *der Andere und *die Meisten ab.
In der Tat kommen solche Übergeneralisierungen der neuen Regeln vor. Besonders der Schweizer Reformer Gallmann ist dafür bekannt, daß er einem reinen formalen Begriff von Substantivierung zuneigt und daher am liebsten zu den genannten Schreibweisen zurückkehren möchte, die schon im 19. Jahrhundert als "übertrieben empfunden und nach und nach durch die modernere, textsemantisch motivierte Kleinschreibung verdrängt wurden. Solche Erwägungen kommen jedoch in den Schriften der Reformer nie vor und fehlen auch im vorliegenden dritten Bericht. Er hält strikt am Begriff der Substantivgroßschreibung fest.
Zu Acht geben schreiben die Verfasser u. a.:
Die Rückkehr zur früheren Zusammenschreibung achtgeben ist nur dann sinnvoll, wenn für die anderen Wendungen (außer derjenigen mit dem Indefinitum aller) zumindest fakultativ auch die Zusammenschreibung nach § 39 E3 (1) vorgesehen wird: achtgeben (ich gebe acht), sich inacht nehmen, (ich nehme mich inacht), außeracht lassen (ich lasse außeracht); vgl. Verbindungen wie infrage stellen, instand setzen (neben: in Frage stellen, in Stand setzen). Die Rückkehr zu den alten Schreibungen sich in acht nehmen, außer acht lassen ist abzulehnen, da bei ursprünglich substantivischen Bestandteilen die zwitterhafte Kombination von Getrennt- und Kleinschreibung in der Neuregelung systematisch beseitigt worden ist. (S. 74)
Gerade dies war ein Kardinalfehler der Neuregelung, geboren aus jenem früh gefaßten Vorurteil von der zwitterhaften Kombination, die gerade die im Deutschen seit langem übliche war. Die Reformer erweisen sich hier als Gefangene ihrer willkürlichen, den Schreibgebrauch mißachtenden Festlegung, die niemals mehr zur Disposition gestellt wurde. In dieser selbstverschuldeten Zwangslage sehen sie sich dann genötigt, die völlig unerhörten Zusammenschreibungen inacht, außeracht usw. als Alternative zu erwägen.
Sehr sonderbar beginnen die Ausführungen zu Recht haben:
Die französische Entsprechung avoir raison legt es nahe, dass in dieser Verbindung das Substantiv (das) Recht und nicht das Adjektiv recht vorliegt.
Wozu dieser Ausflug ins Französische, wo doch das Deutsche selbst klar zeigt, daß es sich nicht (mehr) um das Substantiv handeln kann: wie recht du damit hast usw.?
Unter 1.1.3 wird endlich mit der falschen Behauptung aufgeräumt, daß Substantivierung von erweiterten Partizipien zur Zusammenschreibung führe. Schaeder hat jahrelang diese These vertreten: Wie die Wortgruppe Bus fahren durch Substantivierung zu Busfahren werde, so werde aus Arbeit suchend der Arbeitsuchende, aus oben genannt das Obengenannte. Die Schweizer Mitreformer Gallmann und Sitta haben seit 1996 (Handbuch Rechtschreiben; Duden-Taschenbuch) darauf hingewiesen, daß dies nicht zutrifft: substantiviert wird stets nur das Partizip: der Arbeit Suchende, das oben Genannte usw. eigentlich eine grammatische Trivialität. Nun scheinen sich die Schweizer Grammatiker endlich durchgesetzt zu haben, denn der Bericht räumt mit der falschen Ansicht auf und stellt kühl fest:
Dass in Verbindungen wie die Alleinstehenden oder das Kleingedruckte [hier ist im Original die Kursivierung vergessen worden] eine Neigung zur Zusammenschreibung besteht, hat also nichts mit Substantivierung zu tun, es ist vielmehr Univerbierung schon im zugrunde liegenden attributiven Gebrauch anzunehmen. (S. 66)
(Sind sich die Reformer darüber im klaren, daß sie damit entgegen der Neuregelung auch Komposita wie kleingedruckt wiedereinführen? An dieser Stelle ist das nicht ganz deutlich.)
Hat man die neuen Einsichten der Kommission über die Regeln der Substantivierung vor Augen, dann ist es geradezu erheiternd, in jenem mir gewidmeten Anhang folgendes zu lesen:
Ickler behauptet [später geändert zu: "Es wird behauptet"], dass Schreibungen wie der Schwerverletzte, die Schwerbewaffneten durch das Regelwerk nicht gedeckt sind und dass 'einige Reformer eine abenteuerliche grammatische Regel erfunden (hätten): Bei Substantivierung tritt fakultativ Großschreibung ein'.
Einen Gegensatz zum amtlichen Regelwerk gibt es nicht.
Aber genau diesen Gegensatz hat die Kommission weiter oben eingeräumt! Freilich waren das wohl die Reformer Sitta und Gallmann, während Augst und sein Gefolgsmann Schaeder, die mich zu widerlegen versuchen, den wahren Sachverhalt immer noch nicht verstanden haben.
Leider bleibt im Folgenden der Komplex eisenverarbeitend, fleischfressend usw. ausgespart, aber es kann für den Einsichtigen nicht zweifelhaft sein, daß auch diese jetzt verbotenen Wörter sehr bald wiederauferstehen werden.
Im übrigen schlagen sich die Reformer in dem erstaunlich umfangreichen Kapitel über die Groß- und Kleinschreibung wie bisher mit den Begriffen Eigenname, eigennamenähnlich, feste Fügung usw. herum, weil sie die Tatsache (offensichtliche Tendenz, S. 79) nicht bestreiten können, daß die Sprachgemeinschaft mehr und mehr Verbindungen aus Adjektiv und Substantiv groß schreibt und auch die Nachrichtenagenturen sich von der neuerdings verordneten Kleinschreibung ausdrücklich distanziert haben. Es scheint ihnen bisher nicht gelungen zu sein, die Agenturen und Zeitungen zur Kleinschreibung fester Begriffe (Nominationsstereotype) zu überreden, und so bleibt diese Abweichung von der amtlichen Neuregelung ein ständiges Ärgernis.
Der Grund der Misere liegt darin, daß die Reformer nicht imstande sind oder sich schlicht weigern, den wahren Grund der Großschreibung zu erkennen. Zuerst versuchen sie es mit dem Begriff der festen, d. h. phraseologischen Verbindung und wundern sich dann, daß komischer Vogel, direkte Verbindung oder schöne Bescherung nicht ebenfalls groß geschrieben werden. (S. 79) In Wirklichkeit hat die Großschreibung von Erste Hilfe, Schwarzes Brett, Schneller Brüter usw. mit Phraseologie gar nichts zu tun. Vielmehr geht es darum, nomenklatorische von rein beschreibenden Ausdrücken zu unterscheiden. Das Schwarze Brett ist nicht unbedingt schwarz, sondern heißt nur so, und die Erste Hilfe muß nicht die erste sein, sondern heißt nur so. Der Unterschied von Sein und Heißen ist der gemeinsame Nenner, der Eigennamen mit diesen Nominationsstereotypen verbindet. Daß Fachsprachen dieselben Begriffe oft nicht durch Großschreibung eigens kennzeichnen, wird richtig beobachtet (S. 83), läßt sich aber leicht erklären: Fachsprachen sind ohnehin nomenklatorisch, können also leicht auf solche Kennzeichnung verzichten, während ihre Anführung in einem allgemeinsprachlichen, also fremden Kontext die Kennzeichnung provoziert.
Diese Erklärung ist den Reformern bekannt, sie gehen aber zu ihrem Schaden nicht darauf ein. Grotesk wird es, wenn sie erwägen, bei der Roten Karte usw. handele es sich um eine Aufmerksamkeitsgroßschreibung und damit um eine typographische (!) Angelegenheit wie Kursiv- oder Fettdruck, die vom amtlichen Regelwerk nicht behandelt werden müsse. (S. 84) Diese offensichtlich fruchtlose Erörterung wird dann ergebnislos abgebrochen.
Die Tendenz, immer mehr Varianten zuzulassen aber nicht als Anpassung an beobachtete Schreibgewohnheiten, sondern aus Verlegenheit: damit keine offene Revision des amtlichen Regelwerks erforderlich wird , steht im Widerspruch zu der andernorts hervorgehobenen Einsicht, daß staatliche Normierung der Rechtschreibung stets mit einer Reduktion von Variantenschreibungen einher(ging)". Gegen den Ausweg, die Fehler der Reform durch Einführung immer neuer Varianten zu mildern, wendet sich insbesondere der Beirat: Variantenschreibungen setzen den Schreiber unter Entscheidungszwang und tragen in Ermangelung einer konsistenten Variantenführung häufig zur Verunsicherung bei. Deshalb sollen auch im zweiten Teil des Berichts die Vorschläge nicht berücksichtigt werden, die zu wesentlich mehr Varianten führen. (Protokoll der Septembersitzung; diese Ablehnung von Varianten entspricht der Meinung vieler Teilnehmer der Mannheimer Anhörung, die ja zum Teil mit den Mitgliedern des Beirates identisch sind und dieselben Interessen vertreten wie vor vier Jahren.)
Nimmt jedoch das Wörterbuch dem Schreibenden die Entscheidung ab, so ist er gezwungen, ständig nachzuschlagen. Damit wird der vielbeklagte alte Zustand wiederhergestellt (Den Duden braucht jeder).
(Fortsetzung folgt)
– geändert durch Theodor Ickler am 19.02.2002, 09.16 –
__________________
Th. Ickler
|