Geisterstund hat Gold im Mund
Es könnte hilfreich aber auch vergebens sein, den Impulsen der nächtlichen Eingebungen nicht allein Wortgestalt sondern diese auch noch zum Besten zu geben. Hoffen wir auf hilfreich. Umso mehr, als eine unbeantwortete Frage hier erneut diesmal ohne Fragezeichen mitspielt. Die Pipersche Viertel Stunde verblaßt hinter mindestens drei Vierteln Rosso (1996) der Cantina Collalto aus Susegana im Veneto, die mir hier Beflügelung im Unterfangen und Zuversicht in der Sache verleihen.
Auf einer Diskussionsseite, die ich allenfalls noch über'n Zaun gelegentlich beäuge, weil mir die Gesellschaft dort allzusehr von Zeitgenossen mit einer gewissen »Gesinnung« durchsetzt vorkommt, die schon im hinter uns liegenden Jahrhundert das deutsche Denken, die deutsche Sprache und in der konsequenten Folge auch das von Deutschland ausgehende Geschehen nachhaltig verunziert haben, hat sich ein vehementer Positionenstreit erneut manifestiert, und zwar an einer für Deutschlands Schicksal so zentralen Frage wie der Schreibweise »selbständig« oder »selbstständig«.
Ich möchte dazu eine autobiographische Bemerkung beisteuern. Insgesamt ein eher problematisches Schulkind, war ich in Rechtschreibung von Anfang an fast so etwas wie ein Wunderknabe. Jedenfalls schrieb ich in Diktaten und Aufsätzen so gut wie immer »0 Fehler«. Dennoch gab es einige Stolpersteine. So schrieb ich lange Zeit, im vollen Selbstbewußtsein meiner orthographischen Unfehlbarkeit, in den Mathematikaufgaben: »Konstruire ein Dreieck...«. Ich war völlig verdattert, als mir eine solche Übung eines Tages nicht nur wegen der nicht richtig gelösten Aufgaben mit roter Tinte völlig rot übersudelt zurückgegeben sondern auch noch diese Schreibweise als »falsch« vermerkt wurde. Dasselbe passierte mir ausgerechnet mit der Schreibweise von »selbständig«. Ich schrieb immer, im Vollbewußtsein meiner Allwissenheit, »selbstständig«. Diese beiden Beispiele weiß ich noch um so schmerzhafter, weil sie meine Unfehlbarkeit drastisch mit einem Fragezeichen versehen haben.
Was könnte man daraus lernen?
Jedenfalls soviel, daß diese Zänkereien zwischen Herrn Ickler und Herrn Riebe völlig überflüssig und im Endeffekt albern und dem Sprachgeschehen so oder so nicht dienlich sind. Hier spielen nach meiner Einschätzung inzwischen auch schon Phänomene eine Rolle, die mit Sprachfragen fast nichts mehr zu tun haben (diese jedenfalls nicht zu erhellen geeignet sind), sondern eher mit dem »Menscheln«. Deswegen hielte ich es für klug, wenn sich beide Streithanseln jetzt vornehmen würden, bis auf absehbare Zeit einander aus dem Weg zu gehen und sich in Fragen jeglicher Art nicht mehr direkt anzusprechen. Es ist auch für »Mitstreiter« deprimierend, wie man sich hier auf Korinthenkackereien festbeißt wie »wohlmachen« oder »wohl machen« oder eben hier »selbständig« oder »selbstständig«. Das kann ja nicht gut die Substanz der Problematik sein.
Mein autobiographisches Beispiel von »selb(st)ständig zeigt, daß beide recht und unrecht haben, bzw. daß es ein Streit um des Kaisers Bart ist.
Solange ich davon überzeugt bin, daß »konstruire« oder »selbstständig« zweifelsfrei »richtig« ist ist es das auch! Wenn sich also die Sprachgemeinschaft auf diese Schreibweise einigt was spricht dagegen?
Aber sofort leuchtete mir ein, auf das damalige segensreiche Einwirken eines Kollegen von Herrn Riebe hin, daß ich in beiden Fällen im Irrtum war, und zwar hauptsächlich deshalb, weil es sich durchgesetzt hat, daß man nicht »konstruiren« schreibt (entsprechenden Schreibweisen kann man im 19. Jh. durchaus in den Texten begegnen), sondern, ähnlich wie die entsprechenden »Fremdwörter« halt auch, »konstruieren« (weshalb auch immer, mir kam »iren« plausibel vor). Oder »selbständig« und nicht »selbstständig« (was mir spontan plausibel vorkam, sonst hätte ich es kaum so geschrieben als Orthographiegenie). Nun leuchten mir aufgrund der Belehrung und der Orientierung an der Schreibwirklichkeit sowohl »konstruieren« als auch »selbständig« absolut ein (nicht wegen der »Stotterschreibung«), und ich will es auch nie mehr anders schreiben.
Also haben wir es mit mehreren Ansätzen zu tun:
1. Schreibplausibilität (für den »naiven« Schreiber, mit Gefahr der falschen Etymologien). Hier gibt es sicherlich viele Überlegungen, die zugunsten der Reformer sprechen könnten. So fände ich persönlich es bedauerlich, wenn die Herkunft eines Wortes nicht mehr nachvollziehbar wird, wenn dies aber auf »natürliche« Art geschieht, im Alltagssprechen und -schreiben (was sicherlich bisher auch schon immer wieder der Fall war), bleibt wohl nichts anderes übrig, als es hinzunehmen. Etwas anderes sind die verordneten Dumm-Etymologien der Reformer, die der Verblödung der Schreibgemeinschaft vorgreifen wollen, und dabei wohl eher danebengreifen.
2. Schreibwirklichkeit. Was regelmäßig auf eine bestimmte Art geschrieben wird, hat Realität angenommen, ist nicht mehr »falsch«. Das kann man möglicherweise »statistisch« ermitteln, wobei die Frage der Quellen für solche Statistik sicherlich sehr problematisch ist. Sollen hochrangige Sprachmenschen beobachtet werden oder ebenso jeder Schluderer? In den letzten Jahrzehnten hat sich in der Zunft der Schreibenden ein Wildwuchs ausgebildet, wie er zuvor wohl nicht vorhanden, zumindest nicht so manifest war. Das hat mit unserer »Kommunikationsgesellschaft« zu tun, jeder kann und soll vielleicht schreiben, jeder kann auf seinem PC Bücher »on demand« erstellen, das geht bis in die Berufsbilder des Journalismus und der Schriftstellerei, wo wir es mit einem Markt zu tun haben, auf dem es hauptsächlich darauf ankommt, daß etwas geschrieben bzw. veröffentlicht (und honoriert) wird, und kaum noch auf das Was und das Wie des Geschriebenen. Sollen daraus bedingte Schludereien sanktioniert werden? Soll nicht stattdessen über das Weglassen solcher »Sünden« der Sprachbestand zumindest in der Dokumentation einigermaßen »gepflegt« werden?
3. Schreibdidaktik. Verständlich ist, daß Unterrichtende einen möglichst sicheren Boden unter ihren Füßen haben wollen. »Es geht so oder so«, damit hat der Lehrer schlechte Karten, der Schüler und der Wenigschreiber erst recht. Es ist eine Illusion, hier eine Schreibkompetenz zu unterstellen, über die selbst professionelle Schreiber, durchaus auch in Sprachebenen von Hochschulprofessoren, kaum verfügen. Es sollten Konventionen dargestellt werden können, etwa so wie es der Duden bisher eigentlich ganz passabel, wenn vielleicht auch unter anderen Aspekten fragwürdig geleistet hat. Und über das Fragwürdige daran kann man dann ja von Fall zu Fall diskutieren oder die Dokumentation insofern verbessern. Grenzfälle wird es immer geben, das ist ja auch interessant und schärft den Umgang mit der Sprache.
4. Summa summarum, nach dem vierten Viertel Rosso: Hackt Euch nicht die Augen aus, sondern versucht pragmatisch nach allen Seiten zu denken und zu handeln. Mir persönlich fällt es nicht sonderlich schwer, Herrn Icklers Grundansatz nachzuvollziehen, er gefällt mir sogar sehr gut. In vielem geht mir das zu weit, aber vielleicht gibt es da Spielräume. Mir fällt es erst recht nicht schwer, Herrn Riebes Gedanken und die seiner Lehrerkollegen zu verstehen. Also wenn mir das nicht schwerfällt, dann müßte es doch in einer Gemeinschaft von Sprachfreunden, die sich der Ablehnung der Reformbarbarei verschrieben haben, möglich sein, einen von gutem Willen und Freundlichkeit und Pragmatismus im Hinblick auf unterschiedliche Anforderungen geprägten, fruchtbaren Gedankenaustausch zustande zu bringen.
In vino veritas Salute!
(Übrigens sehe ich gerade am unteren Bildschirmrand:
»Selbsttätig Netzziele klickbar machen...«
Auf in den Kampf Toreros, oder besser nicht![Geändert durch Walter Lachenmann am 04.03.2001, 03:01]
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Walter Lachenmann
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