Lieber Stephanus Peil,
einerseits stachelst Du mich unter der Schulbank auf, dem Herrn Lehrer den Marsch zu blasen, andererseits weisest Du mich vor der Klasse zurecht, ich soll nicht zu frech sein. Das finde ich hintertückisch.
Wiederum ganz andererseits bist Du zum Herrn Lehrer noch viel frecher und sagst ihm, er kann Dich am Arsch lecken mit seinem doofen Wörterbuch. Das wiederum hat mir einerseits gefallen, andererseits ist es schade, denn so ganz allein habe ich keine Lust, hier immer den scherzkeksigen Stänkerer zu mimen, und da hätte es mir schon gefallen, wenn sich eine Fraktion gebildet hätte, die dem Ickler am Zeuge flickt. Und zwar nicht immer so blödelnd, sondern mit Schmackes. Der Riebe ist ja viel zu verbiestert und verrennt sich zu schnell in Gestrüpp, wo der Ickler mit dem Zeigefinger auf ihn zeigen kann und lachen.
Nun geht es ja eigentlich nicht um Mannschaftskämpfe gegen Ickler oder sonstwen. Im Gegenteil. Man müßte sich einfach einmal darüber klar werden, wie die Situation ist. Und daß dieses Internetspiel hier einfach lächerlich ist. Da wird die Neue Rechtschreibung einem Volk von ich weiß nicht 80 Millionen übergestülpt, von denen das Thema den allermeisten völlig egal ist. Immerhin gibt es, lt. Zeitungsumfragen, eine gewaltige Menge an Reformgegnern. Darunter sind namhafte Leute: Schriftsteller, Akademiedirektoren, Sprachwissenschaftler, Persönlichkeiten des Kulturlebens. Wo sind die? Wo sind Denk, Munske, die frustrierten Sprachwissenschaftler und Lehrer, mir fallen die Namen so schnell gar nicht ein: Reich-Ranicki, Grass, Lenz, all die Autoren und Verleger, wo ist ein Vertreter der FAZ ich arbeite für die Bayerische Akademie der Schönen Künste, die sind alle dagegen! Keiner ist hier vertreten oder fällt sonst öffentlich durch ein Engagement in dieser Angelegenheit auf die ganze Latte der Leute, die man in den Anzeigen lesen konnte : und auf der Rechtschreibreform-Seite scharen sich gerade mal eine Handvoll Hanseln um einen einzigen Protagonisten der Reformgegnerschaft, einen sehr kompetenten und klugen zwar, von dem enttäuscht zu werden gar nicht lustig ist, und kabbeln sich untereinander und lassen sich von dem Meister belehren, daß sie zwar als Gegner der Reform insoweit schon in Ordnung aber im Grunde halt doch völlig auf dem falschen Dampfer sind. Und dann will er wieder ein ganz prima Professor sein, einer zum Anfassen, der mit seinen Studenten ganz locker und unprofessoral rumdiskutiert. Nur auf Fragen, die er nicht mag, da antwortet er nicht. Oder er unterstellt lieber Meinungen oder verwerfliche Haltungen, auf die er eine Antwort schon hat.
Es ist schade, wenn Du Dich verabschiedest. Ich habe mich hier etwa 329mal verabschiedet, jedenfalls nach jedem Beitrag, den ich schrieb. Na, dann ist die Zahl viel zu hoch, aber Du weißt, was ich meine.
Was hier getrieben wird ist man muß das klar sehen völlig sinnlos. So sinnlos wie es ist, Leuten Brandbriefe zu schicken, man verbäte sich Zuschriften in Neuer Orthographie. Das ist Kasperlestheater.
Hier werden Chancen verspielt. Es ist Geld da gewesen für eine sicherlich teuere Anzeigenkampagne. Eine Viertel bis halbe Million kostet so etwas schnell. Dann ist Geld da für ein alternatives Wörterbuch. Dieses Wörterbuch ist, nach dem Willen des Autor selbst, gar nicht dafür gedacht, dem neuen DUDEN eine Alternative gegenüberzustellen. Es ist gar nicht gedacht für die Sekretärin, den Schreiner, den Lehrer, den Schüler, den Autor, den Verleger, den Verlagslektor für all die Leute, die bisher im Duden nachgeschlagen haben, wenn sie sich neben ihrer Arbeit schnell über eine Schreibweise informieren wollten, und die man dafür hätte gewinnen können mit so viel Geldmitteln, den doofen Reformduden zu vergessen und sich stattdessen lieber in einem VOLKSWÖRTERBUCH über die gute, traditionelle Rechtschreibung zu informieren und sich nach ihr zu richten.
»Nein, nein und nochmals nein.«
Die Menschen sind alle falsch programmiert. Und wir machen ein Rechtschreibwörterbuch für richtig programmierte Menschen. Der Verkauf, die Verbreitung dieses Wörterbuches lassen zu wünschen übrig, die Wirkung in der Sprachgemeinschaft ist gleich Null, trotz MANUFACTUM. Denn außer einem, der heißt Theodor Ickler, gibt es vorläufig keinen solchen, richtig programmierten, Menschen. Und auch der gerät sympathischerweise immer wieder in Zweifel über sein Tun. Überhaupt sympathisch ist der Mann und sein Anliegen und sein Ansatz, und lohnenswert und lobenswert sein Tun. Er verdient jeden denkbaren Beifall und seine Sache jede denkbare Unterstützung, denn sie ist geeignet, das Denk- und Sprachvermögen der Menschen wachzurütteln und mit Leben zu erfüllen, phantastisch ist das insoweit, ganz im Ernst.
Aber jetzt wäre, um in der ganz aktuellen und hochnotpeinlichen Situation wirksam zu werden, etwas anderes viel wichtiger. Nämlich ein Engagement für die Pflege der gewachsenen Sprache, die durch die Reform so scheußlich beschädigt wird, was viele, auch solche, die mit der Sprache nicht so bewußt und intensiv umgehen wie wir Linguisten, Lehrer und Buchmenschen, sehr empfindlich spüren. Noch ist dieser Widerwille im »Volk« virulent, er könnte aufgegriffen werden für eine alternative »Bewegung«, die ohne schon die perfektionistische Bewußtseinshaltung eines einzelnen Sprachtheoretikers (über die es sicherlich vieles im Detail auch kontrovers zu diskutieren gäbe) in der Sprach- und Schreibpraxis umsetzen zu wollen jedenfalls dem Talibanismus der neuen DUDEN- und Rechtschreibverordnung aktiv entgegentreten könnte. Das allererste, was man diesen Menschen anbieten sollte, wäre ein von jeglicher Ideologie freies VOLKSWÖRTERBUCH.
Ein kluger Ideologe würde in dieses Wörterbuch seine Ideologie (ich persönlich, das ist zwar aufs Ganze gesehen unwichtig, finde sie sehr interessant und kann mich für sie begeistern) so hineinwirken, daß die Nutzer es gar nicht mit ihrem Bewußtsein merken, sondern eher halb bewußt durch den Umgang mit diesem Buch diese Haltung übernehmen, vielleicht nennt man so etwas Behaviourismus? Da kennt sich unser Autor besser aus als ich. So etwas hat mit Pädagogik zu tun, das geht nicht per Manifest oder Verordnung oder Belehrung, wie wir sie hier alle immer wieder, andachtsvoll und doch in unserer Unvollkommenheit verharrend, empfangen dürfen.
Und dieses Buch müßte ein so tolles Volksbuch sein, daß die Leute geradezu Freude daran haben, sich damit zu beschäftigen, darin zu schmökern, Dinge zu lernen, über die sie sich noch nie zuvor Gedanken gemacht hatten, eigene Sprach- und Schreibverhaltensmuster zu überprüfen und neu zu gestalten. So etwas kann man machen, und die Situation wäre so günstig jetzt, denn eine Sensibilisierung für Sprache und Schreibung ist durch die Diskussionen um die Reform, um das »Denglisch« und vor allem durch die allgemeine Verunsicherung in Sachen Sprache und Schreiben auf eine Weise gegeben, wie zuvor in Jahrzehnten oder Jahrhunderten vielleicht nicht.
Und dann müßte natürlich geworben werden, nicht nur für das Buch, sondern für die Vorstellung von Sprache und Schreiben, die dahinter steht. Wenn so viele Menschen gegen die neue Rechtschreibung sind, wie glaubhaft beteuert wird, dann sind da auch Leute mit Geld dabei, Industrielle mit Kultur, so etwas gibt es, und die müßte und könnte man sicherlich für diese Sache gewinnen. So viele Millionen bräuchte man da erstmal ja gar nicht.
Daß all dieses nicht passiert, ist kein Ruhmesblatt für die deutsche Intellektualität und für den kulturellen Ehrgeiz der gegenwärtigen Bildungselite. Sicherlich ist die Macht der Politik und der Medien erdrückend. Aber wo ist der Wille zur Alternative? Das rührende Diskutiergrüppchen um Herrn Ickler kann's wohl nicht sein.
Hoffen wir auf die regulative Kraft des Faktischen. Vernunft und Sinnorientierung setzen sich langfristig immer wieder durch, auch wenn es zwischendurch lange Durststrecken gibt, die an dieser Behauptung berechtigte Zweifel aufkommen lassen.
Und hoffen wir nicht darauf, daß dieser Aspekt der Diskussion von unseren Freunden sonderlich tiefgründig diskutiert werden oder aus einer solchen Diskussion gar entscheidende Ereignisse und Initiativen hervorgehen werden. Hier geht es um Lemmatisierungsfragen, und vielleicht noch darum, sich über die komischen Auswüchse der Reform zu alterieren.
Ist das zielführend?
Ich hoffe, dies ist nicht unser letztes Wort.
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Walter Lachenmann
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