Die „Reform“ – ein Großexperiment nach Milgram
[Wikipedia:]
Das Milgram-Experiment ist ein erstmals 1961 in New Haven durchgeführtes psychologisches Experiment, das von dem Psychologen Stanley Milgram entwickelt wurde, um die Bereitschaft durchschnittlicher Personen zu testen, autoritären Anweisungen auch dann Folge zu leisten, wenn sie in direktem Widerspruch zu ihrem Gewissen stehen.
[…]
Der Versuch bestand darin, dass der „Lehrer“ dem „Schüler“ bei Fehlern in der Zusammensetzung von Wortpaaren jeweils einen elektrischen Schlag versetzte. Dabei wurde die Spannung nach jedem Fehler um 15 Volt erhöht. In Wirklichkeit erlebte der Schauspieler keine elektrischen Schläge, sondern reagierte nach einem vorher bestimmten Schema, abhängig von der eingestellten Spannung. Erreichte die Spannung beispielsweise 150 Volt, verlangte der Schauspieler, von seinem Stuhl losgebunden zu werden, da er die Schmerzen nicht mehr aushalte. Dagegen forderte der dabei sitzende Experimentator, dass der Versuch zum Nutzen der Wissenschaft fortgeführt werden müsse. […]
Satz 1: „Bitte, fahren Sie fort!“ Oder: „Bitte machen Sie weiter!“
Satz 2: „Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!“
Satz 3: „Sie müssen unbedingt weitermachen!“
Satz 4: „Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!“
Es gab noch weitere Standardsätze in antizipierten Verlaufssituationen: Wenn die Versuchsperson fragte, ob der „Schüler“ einen permanenten physischen Schaden davontragen könne, sagte der Versuchsleiter: „Auch wenn die Schocks schmerzvoll sein mögen, das „Gewebe“ (tissue) wird keinen dauerhaften Schaden davontragen, also machen Sie bitte weiter!“ Auf die Aussage des „Lehrers“, der „Schüler“ wolle nicht weitermachen, wurde standardmäßig geantwortet: „Ob es dem Schüler gefällt oder nicht, Sie müssen weitermachen, bis er alle Wörterpaare korrekt gelernt hat. Also bitte machen Sie weiter!“ Wenn nach der Verantwortung gefragt wurde, sagte der Versuchsleiter, er übernehme die Verantwortung für alles, was passiert. Die Versuchsperson reagierte auf die Stromschläge mit auf Band aufgenommenen Schmerzensäußerungen.
Ähneln die stereotypen Statements des „Versuchsleiters“ nicht ungemein dem, was die Kultusminister und ihre Konferenz, ja die meisten Politiker, in den letzten zwanzig Jahren so von sich gegeben haben? Daß die „Reform“ unumkehrbar sei? Daß man immer weitermachen müsse, bis das Volk die neuen Wörter gelernt habe? Das weder die Demokratie noch die Kultur Schaden nehmen würde? Und ähnelt die dienstbeflissene Mitmacherei nicht dem Verhalten, oft wider besseres Wissen, all der kleinen Bürokraten an den Schalthebeln von Politik und Kulturbetrieb? Und hatten wir nicht die Erfahrung mit ähnlichem weit Schlimmerem?
An dieses Experiment dachte ich, als ich am 19.08.1999 für die Bürgerinitiative an Volker Rühe, den zur Beihilfe bei der Liquidierung des Volksentscheids entschlossenen CDU-Kandidaten, schrieb:
Sehr geehrter Herr Rühe,
vor längerer Zeit wurden von Psychologen Tests durchgeführt zur Erkundung der Widerstandsfähigkeit von Normalbürgern gegen Verführungen, an Mißhandlungen von Menschen teilzunehmen. Die Probanden mußten für „wissenschaftlich notwendige, aber völlig harmlose Experimente Patienten, die im Nachbarraum angeschnallt waren, per Knopfdruck vermeintlich unter Elektroschocks setzen, wobei deren (simulierte) Schreie nach draußen übertragen wurden. Den meisten Versuchspersonen kamen Bedenken wegen ihrer Tätigkeit erst sehr spät oder überhaupt nicht.
Die „Rechtschreibreform mit ihren antidemokratischen Begleitumständen ist ein ähnlicher Test für die Widerstandskraft der Politiker und Medienmächtigen gegen die Versuchung, an Mißhandlungen der Demokratie teilzunehmen. Leider ist er mit Kosten bis zu 50 Milliarden DM recht teuer.
Sie, sehr geehrter Herr Rühe, haben soeben diesen Test nicht bestanden!
Eine Antwort habe ich von Herrn Rühe natürlich nie erhalten. In Wahlkampfveranstaltungen beklagte er sich aber über Beschimpfungen, denen er ausgesetzt sei.
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